Reinlichkeit - Wohin der Müll verschwindet

Die Straßenkehrer wirken unterbeschäftigt: Wo immer sie auftauchen, scheinen sie vor kurzem erst gewesen zu sein. Warum Müll zunehmend aus der Öffentlichkeit verschwindet und fast nur noch in Kunstgalerien zu finden ist.

Künstler Piero Manzoni betreibt keinen Etikettenschwindel / picture alliance
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Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Unsere Städte sind reinlich, das muss man ihnen lassen. Bierdosen werden zwar immer und überall an den Hals gesetzt, doch selbst die gröberen Mitbürger werfen sie nicht auf die Straße. Die Bananenschale, auf der ein unschuldiger Flaneur ausrutscht und sich das Bein bricht, gehört dem Reich des Mythos an. Zigarettenkippen mögen allgegenwärtig sein, können aber als Rache der Raucher freundlich übersehen werden. Die Straßenkehrer wirken unterbeschäftigt: Wo immer sie auftauchen, scheinen sie vor kurzem erst da gewesen zu sein.

Wer sich dennoch nicht leicht tut, Frankfurt oder Berlin für sauber zu halten, möge sich anderwärts umschauen: Selbst den Skandinaviern sind wir inzwischen nahe auf den Fersen. Auch ein Blick in die Kulturgeschichte kann helfen. Wann in den letzten 5000 Jahren lag je so wenig Dreck herum? Und die Reinlichkeitsschraube wird weiter angezogen: Die Knallerei an Silvester soll aufhören, das Elektroauto, die E-Zigarette greifen um sich. 

Die Straße wird zur Freiluftstube

Bekanntlich sind wir alle Superverschmutzer, haben unsere Zivilisation auf Gebirgen von Müll errichtet; zum Ausgleich legen wir Wert darauf, dass zumindest die Gehwege nichts davon verraten. Hinzu kommt, dass die körperliche Reinlichkeit hoch im Kurs steht: Wer zweimal täglich duscht, jeden Anflug von Körpergeruch eliminiert, sich die Haare von der Haut schabt und ähnliche Exerzitien treibt, hat den naheliegenden Wunsch, dass auch seine Umgebung antiseptisch sein möge. Vor allem aber verwandeln sich die Städte immer mehr in Innenräume: Das private Leben wird nach draußen verlagert, was man früher in der Wohnung tat, kann man jetzt auf Straßen und Plätzen tun – also müssen diese so sauber wie eine Wohnung sein.

Für Hunde darf es keinen Dispens geben. Sie müssen auch auf der Straße stubenrein sein, denn die Straße ist zur Freiluftstube geworden. Der Anblick eines Menschen, der sich hinter seinem Hund bückt und Kot in ein „Gassisäckchen“ füllt, mag ästhetisch gewöhnungsbedürftig sein, stärkt jedoch das moralische Empfinden – so weit haben wir es gebracht! Einen gewissen Nachteil erleiden diejenigen, die ihren Vierbeiner als schmückendes Accessoire betrachten: Ein Hipster mit Jack-Russell-Terrier, ein Macho mit Deutschem Schäferhund vermindert die Wirkung seines Auftritts, wenn er einen Plastikbeutel aus der Tasche zieht. Doch der Fortschritt ist unerbittlich! 

Wer wirklich Müll sehen will, muss in die Kunstgalerie

Der Müll darf sich nur offen zeigen, wenn er zum Recyceln geeignet ist. Die Pfandflasche auf dem Bürgersteig, die sich der Bedürftige mitnehmen soll, gehört zu den Skurrilitäten der Zeit: der öffentliche Raum als Verwertungsplattform. Neu sind Tüten mit aussortierten Büchern, die man vor Hauseingängen stehen sieht. Antiquare haben den Ruf, bei Ankäufen so gut wie nichts zu zahlen, also spart man sich den Gang dorthin. Das zeigt den Rang des Buches an: Es ist einerseits zu schade für die Blaue Tonne, andererseits auf dem Niveau einer leeren Flasche. Man muss den Passanten dankbar sein, wenn sie es mitnehmen, obwohl sie kein Pfand dafür einlösen können.

Wer in der Stadt Müll sehen will, sollte in eine Kunstgalerie gehen. Artefakte aus Glasscherben, Burgerkartons, Cola-Dosen und sonstigen Abfällen gehören zu den bewährtesten Gags des Kunstmarkts. Sie verkünden eine leicht verständliche Botschaft (Wegwerfzeitalter!), provozieren das Publikum und dienen nebenher dem Upcycling. Im kreativen Berlin gibt es sogar eine Agentur, die Müll als Werkstoff an Künstler verkauft. Star des Abfallgenres ist der Italiener Piero Manzoni: Er füllte seinen eigenen Kot in Dosen. Die „Merda d’Artista“, eingeschlossen in einer dauerhaften Variante des Gassisäckchens, erzielt einen Marktwert von 100.000 Euro. 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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