Fake News - Die Pöbeldemokratie

Das Internet und seine „sozialen Medien“ bedeuten eine Kulturrevolution. Es blüht der Hass, Fake News haben Konjunktur. Aber staatlich verordnete Sprachhygiene und ein blasierter Moralismus werden das Problem nicht lösen

Erschienen in Ausgabe
Kultur ist ein Nullsummenspiel: Gewaltige Gewinne halten ebenso gewaltigen Verlusten die Waage / Illustration: Serafine Frey
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Autoreninfo

Norbert Bolz ist emeritierter Professor für Medienwissenschaften. Er ist Autor zahlreicher Bücher; zuletzt erschien von ihm „Das richtige Leben“ (Verlag Wilhelm Fink, 2013). Im Jahr 2011 wurde Bolz mit dem Tractatus-Preis für philosophische Essayistik ausgezeichnet

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Wer sich als guter Europäer versteht, sieht unsere Kultur in der stolzen Tradition der Aufklärung. Und deshalb muss er sich heute von zwei hässlichen Gestalten herausgefordert fühlen, die dem Wesen der Aufklärung, nämlich Wahrheitsliebe und Toleranz, den Kampf angesagt haben. Ich meine den Hasser und den Lügner. Hate und Fake, Hass und Lüge gehören zusammen. Die Produzenten von Fake News wollen unseren Glauben an die Wahrheit unterminieren. Die kleinen und großen Hass­prediger wollen uns zur Intoleranz verführen. Längst nennt man sie auch hierzulande Hater.

Fälscher und Verleumder hat es schon immer gegeben. Aber die neuen, sozial genannten Medien haben ihnen eine bisher unerhörte Wirkungschance eröffnet. Hass und Lüge sind online gegangen und profitieren nun von der Tatsache, dass man das Internet prinzipiell nicht kontrollieren kann. Hinzu kommt, dass die neuen Medien einen Enthemmungseffekt haben. Scham und Rücksichtnahme, Respekt und Manieren gehen dabei genauso über Bord wie die Sorgfalt im sprachlichen Ausdruck. Online kritisiert man nicht mehr, sondern man hasst. Man stellt sich nicht mehr dar, sondern aus. Exhibitionismus und eine Rhetorik der Vernichtung sind die deutlichsten Formen dieses Enthemmungseffekts.

Eine intellektuelle und moralische Kontrolle fehlt

Zu Recht ist das Internet dafür gefeiert worden, allen Menschen freien Zugang nicht nur zum Wissen der Welt, sondern auch zur Publizität zu ermöglichen. „Information at your fingertips“ und „Bürgerreporter“ sind dafür die bekanntesten Stichworte. Das war eine Kulturrevolution: die Ausschaltung aller Zwischeninstanzen, Experten, Redakteure und Zensoren. Aber heute sehen wir den Preis, den wir für diese Emanzipation zahlen müssen. Es gibt keine Filter mehr. Es fehlen die Gatekeeper, die eine intellektuelle und moralische Kontrolle ausüben könnten.

Doch sollte man hier nicht in ein kulturkritisches Lamentieren verfallen. Kultur ist ein Nullsummenspiel: Gewaltige Gewinne halten ebenso gewaltigen Verlusten die Waage. Es ist schon großartig, welche neuen Kommunikationsmöglichkeiten das Internet eröffnet hat. Und die Medientechnik wird immer einfacher, schneller, besser. Aber wir haben es hier nicht mit optimierten Werkzeugen zu tun, sondern mit Medien einer Kulturrevolution, die uns in ein Zeitalter der Neuen Mündlichkeit katapultiert hat. Deshalb dominiert heute das Rotzige, der unkontrollierte Affekt, der sich als „authentisch“ präsentiert.

Erregung schafft Vorurteile

Es ist ein naiver Glaube der Aufklärung, dass man Menschen, die nach Orientierung suchen, mit sachlichen Informationen weiterhelfen könnte. Wer Angst hat (etwa vor Terroristen), wütend ist (etwa auf Frau Merkel) oder sich benachteiligt fühlt (etwa durch Gender Mainstreaming), kann nicht durch Fakten aufgeklärt werden. Erregung schafft Vorurteile, die durch Aufklärung nicht aus der Welt zu schaffen sind. So entsteht eine dualistische Welt von Zuneigung und Ablehnung. Zum Like-Button gehört komplementär der Hass. Und es ist eigentlich nur inkonsequent, dass Facebook und Twitter nicht auch einen Dislike-Button anbieten.
Dass die Welt zerfällt in Leute und Dinge, die man mag, und solche, die man nicht mag, ist eine archaische Welteinstellung, die für den einzelnen Menschen völlig unproblematisch ist. Es muss einfach erlaubt sein, bestimmte Leute nicht zu mögen. Die Sache verändert sich allerdings dramatisch, wenn sich die individuellen Zuneigungen und Ablehnungen weltweit rückkoppeln. Dann kommt es zu einem typischen Netzwerkeffekt, nämlich zur Eskalation. Die Zuneigung steigert sich zur bedingungslosen Anhängerschaft und die Abneigung zum Hass. Soziologen nennen das Abweichungsverstärkung. Es ist das Geheimnis des Fanatismus. 

Hass ist ansteckend

Um zu verstehen, wie es zu den Hasskaskaden im Internet kommt, ist es hilfreich, an den Gebrauch von Fernwaffen zu denken: Die Distanz und die Anonymität enthemmen. Der Hater erlebt die Folgen des Hasses nicht unmittelbar. Und je anonymer er bleiben kann, desto aggressiver wird er. Der Hater ist nämlich ein Feigling. Niemals würde er mir seine Hasstirade ins Gesicht sagen. Sein Verhalten lässt sich am besten mit einem amerikanischen Ausdruck aus dem Gangstermilieu beschreiben: Hit and Run.
Niemand ist wohl so kaltblütig, dass ihn der Ausdruck blanken Hasses nicht ängstigen oder doch zumindest verletzen würde. Aber der Hater hat mit seinen feigen Aktionen einen noch viel durchschlagenderen Erfolg. Hass ist nämlich ansteckend. Der Hater vergiftet den Gehassten. Die Guten hassen dann die Bösen – und zwar mit gutem Gewissen. Politisch hat das fatale Konsequenzen. Wir können das sehr gut am öffentlichen Umgang mit der AfD und Pegida, aber auch mit Donald Trump beobachten. Politiker und Journalisten begegnen ihnen nicht mehr analytisch und mit Argumenten, sondern sie verschmelzen Themen mit Meinungen und Meinungen mit moralischen Bewertungen. Sie berufen sich dabei darauf, dass viele Meinungsäußerungen der sogenannten Rechtspopulisten Ehre, Scham und Anstand verletzen. Dass sie solchen Meinungen den Prozess machen wollen, klingt zunächst edel, ist aber bei Lichte betrachtet zutiefst illiberal. Denn auch die Immoralität einer Meinung darf kein Grund dafür sein, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu beschneiden.

Hatern mit Toleranz begegnen 

Zugegeben: Es ist nicht leicht, gelassen zu bleiben, wenn man angepöbelt und mit Lügen überzogen wird. Aber wer einmal erleben will, wie man mit diesem Problem souverän umgehen kann, muss sich nur bei „Promiflash“ Carmen Geiss anschauen. Nachdem sie in aller Ruhe erläutert hat, dass Hassattacken zum Leben eines Prominenten nun einmal dazugehören, sagt sie den wunderbar entwaffnenden Satz: „Ich mag auch meine Hater.“ Im selben Geist zeigt sich Leonardo di Caprio mit einem Glas Champagner in der Hand: Cheers to all my haters! Sehr klug war auch die Aktion der Grünen-Politikerin Renate Künast, die ihre Facebook-Hasser einfach persönlich besucht hat. Die Hater sind nämlich Scheinriesen. Je näher man ihnen kommt, desto mickriger werden sie. In Amerika hat man das buchstäblich schon zum Programm erhoben. So gibt es eine Talkshow, in der Prominente die gegen sie gerichteten Hass-Tweets vorlesen. Obama war schon zu Gast. Auch Donald Trump hätte wohl einschlägiges Material zu bieten. So kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass die Profis schon gelernt haben, gelassen mit dem Hass umzugehen. Ihr Mantra lautet: Haters Gonna Hate. Und das bedeutet im Grunde: nicht mal ignorieren!

Medien verleihen altem Hass neue Sichtbarkeit

Der Hass ist wie das Böse so alt wie die Menschheit. Es gibt also keinen Grund für Kulturpessimismus: Wir sind nicht schlimmer geworden. Aber der alte Hass hat durch die neuen Medien eine neue Sichtbarkeit gewonnen. Wie oft möchte man seiner Wut freien Lauf lassen, reißt sich dann aber doch zusammen. Eine interessante alltägliche Ausnahme davon bietet uns das Autofahren. Da kann man dem unfähigen Anderen dann doch durch die Windschutzscheibe unhörbar zurufen: Penner, Idiot! Oder gar den berühmten Mittelfinger zeigen. Die Begegnung dauert ja nur eine Zehntelsekunde: Hit and Run! Genau denselben Enthemmungseffekt haben die sozialen Medien.

Platon meinte einmal: Wir sind alle Mörder – aber im Traum. Nur einige wenige tragen diesen Hass dann in die Wirklichkeit. Und offensichtlich versetzen uns die Medien in eine Traumzeit, die vor allem von Prominenz bestimmt wird. Seit es Massenmedien, aber vor allem seit es soziale Medien gibt, fühlen sich viele Menschen mit den Berühmten, Erfolgreichen und Mächtigen auf Augenhöhe. Prominenz provoziert Hater. Denn der Hater ist ein Niemand, ein Loser, ja oft ein Wahnsinniger. Auch er ist so alt wie die Menschheit. Aber heute ist er nicht mehr allein. Der Hater hat zwar keine Follower, aber sein Name ist Legion. Und das Internet hat den Verlierern dieser Welt zum ersten Mal die Chance eröffnet, sich zu organisieren. Ein Verrückter war früher ein Sonderling, ein Außenseiter der Gesellschaft. Heute findet er seinesgleichen massenhaft im World Wide Web. Jeder Wahnsinn hat seine Website.
Wenn man sich das klarmacht, wird auch deutlich, wie eng das Thema Hass mit dem Thema Lüge verzahnt ist. Und es wird auch klar, warum die Kräfte der Aufklärung hier vergeblich arbeiten. Wer gegen Fake News kämpft, muss an die Idee der Objektivität appellieren. Aber das ist heute problematischer denn je. In den goldenen Zeiten der Aufklärung war man sich noch sicher, dass man Ideologien entlarven und den betrügerischen Schein durch die Wahrheit ersetzen kann. Doch im Zeitalter von Information Overload fehlt uns die Zeit zur Prüfung. Was Jürgen Habermas einmal die neue Unübersichtlichkeit nannte, ist zum Normalfall geworden. Die Welt ist hochkomplex, hochgeschwind und unprognostizierbar. Wie soll man sich da eine eigene Meinung bilden?

Nachrichten-Fakten produzieren Ignoranz

An der Flüchtlingskrise können wir uns dieses Problem sehr gut klarmachen. Ob man die armen Teufel nun fürchtet oder willkommen heißt – sicher ist nur das Gefühl des Kontrollverlusts. Selbst die Kanzlerin scheint diese Krise als eine Art Naturphänomen zu betrachten. Was soll in diesem Zusammenhang nun aber „objektive Berichterstattung“ heißen? Ich kann nur glauben, dass „wir es schaffen“, oder eben nicht. So tritt die Glaubwürdigkeit einer Informationsquelle an die Stelle des unmöglichen Realitätstests. Das gilt übrigens auch für die „Nachrichten aus aller Welt“. Immer häufiger haben die Medien gar keinen Reporter mehr vor Ort und müssen sich dann auf das Material der beteiligten Konfliktparteien verlassen. Im Fernsehbild sieht man dann zum Beispiel die Einblendung „Quelle: Youtube“. Damit gesteht man immerhin ein, dass man von Objektivität meilenweit entfernt ist.

Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkte einmal, dass wir unser Wissen von der Welt den Massenmedien verdanken. Um dann aber sarkastisch hinzuzusetzen, dass es sich eigentlich um ein Nichtwissen handelt, das nur deshalb nicht als solches erkannt wird, weil wir immer wieder mit neuen Informationen überflutet werden. Dass die Nachrichten mit ihren Fakten Ignoranz produzieren, ist zunächst einmal eine steile These, die provozieren will. Aber sie bekommt doch einen guten Sinn, wenn man bedenkt, was Informationen eben nicht liefern: Kontext. Oder um es mit den wunderbar präzisen Worten des Medientheoretikers Neil Postman zu sagen: Die Nachrichten der Massenmedien bieten einen „context of no context“. Nur freie Assoziation wäre in der Lage, in den 15 Minuten „Tagesschau“ einen Zusammenhang zu sehen. Aufklärung jedenfalls ist das nicht.

Wir wollen betrogen werden

Deshalb kann es nicht erstaunen, dass die Menschen auf der Suche nach dem Sinn nicht nach Fakten, sondern nach Fiktionen verlangen. Und hier wird eine zweite Naivität der Aufklärung eklatant, der Glaube nämlich, dass die Menschen die Wahrheit suchen und den Schein fliehen. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga hat die extreme Gegenthese gewagt: Wir wollen betrogen werden. Das klingt in den Ohren eines Aufklärers natürlich ungeheuerlich. Aber man muss nur an die Werbung denken, um sofort zu verstehen, was gemeint ist. Kein halbwegs normaler Mensch glaubt wirklich, dass es Cremes gibt, die Falten und Orangenhaut beseitigen, oder dass es Tinkturen gibt, die Haarausfall stoppen. Aber es ist schön, sich eine Zeit lang der Illusion hinzugeben. Man will sich selbst täuschen und ist der Werbung dankbar dafür, dass sie einem dabei hilft. 

Und genau das machen sich die Produzenten von Fake News zunutze. Falschmeldungen wirken nämlich auch dann, wenn man weiß, dass sie falsch sind. Das markiert die Grenze jeder möglichen Aufklärung. Wenn jemand betrogen werden will, um bessere Empfindungsbedingungen zu haben, kann man ihm nicht mit besseren Argumenten kommen. Und gegenüber dem Chaos der Fakten aus aller Welt hat der Wahn den Vorteil, Ordnung zu schaffen. Deshalb haben heute die Sophisten, die Künstler des Scheins, wieder Konjunktur. Sie überziehen die Welt mit einer bösartigen Parodie auf Nietzsches Lob der freien Lüge.

Neue Medientechniken verunsichern das Wirklichkeitsbewusstsein

Es bleibt immer etwas hängen, sagt man zu Recht. Gemeint ist, dass das Gerücht und die üble Nachrede auch dann wirken, wenn sie durch Fakten widerlegt sind. Dass wir Schwierigkeiten haben, das zu begreifen, liegt daran, dass wir Kommunikation als kognitive Leistung, als Informationsübertragung verstehen. Doch das ist nur ein seltener Spezialfall. Normalerweise läuft Kommunikation über Gefühle. Wie jeder erfahrene Politiker weiß, wirken Mimik, Gesten und Stimmfall stärker als Argumente. Der Verhaltenswissenschaftler Konrad Lorenz spricht in diesem Zusammenhang sehr gut von „Nachrichtenübermittlung durch Stimmungsübertragung“.

Hinzu kommt, dass die neuen Medientechniken der Simulation, der Virtual Reality und des Remix unser Wirklichkeitsbewusstsein nachhaltig verunsichern. Symptome dieser Krise der Echtheit gab es ja schon früher. Man denke nur an Konrad Kujaus „Hitler-Tagebücher“ und an Tom Kummers gefälschte Interviews. Sie wurden in der Stimmung rezipiert: Wenn es schon nicht wahr ist – es hätte so sein können. Und Derartiges lässt vermuten, dass es in der hitzigen Diskussion um Fake News und „Lügenpresse“ nur um die Spitze des Eisbergs geht. Denn logischerweise kennen wir ja nur die misslungenen Fälschungen.

Informationen werden gemacht

Die in den Feuilletons entfaltete Polemik gegen das Postfaktische führt da kaum weiter, denn sie ist im Mythos von den unbezweifelbaren Fakten befangen. Fakten, Daten und Informationen gibt es nämlich nicht einfach – sie werden gemacht. Fakten sind immer das Produkt von Selektionen, die auch anders hätten ausfallen können. Und deshalb gibt es natürlich immer auch „alternative Fakten“. Dass dieser Begriff geprägt wurde, um zu betrügen, ändert daran gar nichts.

Ähnlich steht es mit dem Begriff der Echokammern. Er bringt sehr gut zum Ausdruck, dass Menschen dazu neigen, sich nur noch den Informationen auszusetzen, die ihre Vorurteile bestätigen. In den sozialen Medien können sich diese Treibhäuser der Weltfremdheit besonders leicht einrichten. Aber aufgepasst: Echokammern gibt es nicht nur bei den sogenannten Rechtspopulisten, sondern auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Das gilt gerade auch für die weltweite Community der Trump-Hasser, die sich als Sturmgeschütz der Demokratie versteht.

Fakten mit Fakten kontern

Das böse Wort von der „Lügenpresse“ ist sicher ein Ausdruck von Paranoia. Und doch verweist es auf ein objektives Problem. Schon Goebbels wusste, dass Lügen zu kurze Beine haben und dass man die Massen deshalb besser mit Informationen manipuliert. Propaganda heißt also nicht nur Gehirnwäsche und Zensur. Moderne, westliche Regierungen zensieren nicht im klassischen Stil, sondern sie kontern Fakten mit Fakten. Dazu gehören auch das Verschweigen und das Übertreiben. Und dazu gehören vor allem auch die sogenannten „weißen Lügen“ derer, die es gut mit uns meinen. Sie sind das Medium, in dem die politische Klasse und die Medienklasse gemeinsam den Mainstream kanalisieren. Weiße Lügen sind gut gemeinte Übertreibungen, mit denen man die unmündigen Bürger in die richtige Richtung schubst, also die Propa­ganda der Gutmenschen. 

Für dieses Problem gibt es eine Urszene. Im Rückblick auf die Überdramatisierung der Aids-Gefahr durch die englische Regierung schrieb Mark Lawson am 24. Juni 1996 im Guardian: „The government has lied and I am glad“ (die Regierung hat gelogen, und darüber bin ich froh). Deutlicher geht es nicht. Da die Menschen nicht wissen, was gut für sie ist, dürfen die paternalistisch Regierenden und die Volkspädagogen der Massenmedien hin und wieder auch eine kleine Notlüge anbringen, um uns den rechten Weg zu weisen. Und um eine solche weiße Lüge handelt es sich schon, wenn eine Redaktion sich entscheidet, bestimmte Nachrichten nicht zu bringen, weil sie vielleicht „Fremdenfeindlichkeit“ auslösen könnten.

Keine klaren Grenzen

Solange es solche Fragen nach der politischen Opportunität bestimmter Nachrichten gibt, das heißt Selbstzensur aus politischer Korrektheit, nährt sich die Feindschaft der Massenmedien gegen die Produzenten von Fake News in den sozialen Medien von einem Narzissmus der kleinsten Differenz. Man kann die Fake News genauso wie den Hass der Hater nämlich auch als Reaktion auf diese politische Korrektheit verstehen. Political Correctness ist die linke, Fake News die rechte Variante derselben Realitätsverweigerung. Der politischen Korrektheit geht es ja nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Ihr Diskurs setzt sich zusammen aus Sprachhygiene und einem blasierten, selbstgerechten Moralismus, aus Heuchelei, Sozialkitsch und einer politisch gefährlichen Perversion der Toleranz. Der Ton wird übrigens immer schärfer. Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Auch die politisch Korrekten sind Hater.

Was also tun? Facebook kooperiert neuerdings mit Correctiv, einem schon mehrfach preisgekrönten gemeinnützigen Recherchezentrum, das sich als unabhängiger Faktenchecker versteht. Eine nette Geste. Aber bei Lichte betrachtet ist es natürlich nicht möglich, die Kommunikation der sozialen Netzwerke zu überwachen. Und selbst wenn es möglich wäre: Wer entscheidet darüber, wo eine Hassrede beginnt? Wer entscheidet darüber, welche der doch immer auch strittigen Tatsachenbehauptungen wahr oder falsch ist? Wie will man gerade in politischen Zusammenhängen Tatsachen und Meinungen auseinanderhalten? Und glaubt man ernsthaft, dass diejenigen, die gegen die „Lügenpresse“ kämpfen, einem Faktencheck glauben?

Haben wir wirklich ein Problem?

Die Institutionalisierung eines Korrektivs scheint also keine Lösung des Problems zu sein. Aber ist es überhaupt ein Problem? Müssen wir tatsächlich befürchten, dass die Welt aus den Fugen gerät, wenn die Leute nicht mehr die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel lesen, sondern ihre Informationen aus den sozialen Medien beziehen? Vielleicht handelt es sich ja nur um den Schwanengesang der klassischen Leitmedien. Vielleicht haben die Leute ja recht, wenn sie vom „Heute-Journal“ nicht mehr die Wahrheit erwarten. Jedenfalls spricht nichts in unserer Gesellschaft dafür, dass der gesunde Menschenverstand und die Urteilskraft der Leute gelitten hätten. Im Gegenteil, ihre Medienkompetenz ist größer denn je, und das ist die wichtigste Bedingung für eine autonome Orientierung. 

Wenn die klassischen Massenmedien etwas dazu beitragen wollen, dann sollten sie ihre Nachrichten und Berichte von regierungsnahen Meinungen und volkspädagogischen Intentionen befreien. Sie müssen einen Weg heraus aus der Sackgasse der politischen Korrektheit und ihrer Verbalexorzismen finden. Die größte Gefahr für die Wahrheit ist nämlich nicht die Lüge, sondern der Bullshit. Und die größte Gefahr für die Demokratie ist nicht der Hass der radikalen Verlierer, sondern das Schweigen der vielen, die sich vom Paternalismus der Medienelite bevormundet fühlen. 

Neuer Ethos für den Journalismus

Was den klassischen Massenmedien wie den neuen sozialen Medien heute am meisten fehlt, ist der Geist der Liberalität. Liberal ist ein Mensch, der nicht dem Impuls nachgibt, denjenigen, der eine andere Meinung hat, zu maßregeln oder zu bestrafen. Von den Parajournalisten bei Facebook & Co. kann man das natürlich nicht erwarten. Wohl aber von den Profis. Wenn es überhaupt noch ein Ethos des Journalismus gibt, dann müsste es durch genau diesen Geist der Liberalität definiert sein. Nur so werden die klassischen Massenmedien sich in der digitalen Welt und gegen die – um eine prägnante Formulierung von Spiegel TV zu zitieren – „selbst gemachte Lügenpresse“ behaupten können.

Vor allem dürfen sie nicht weiterhin den Eindruck erwecken, ihr Kampf gegen Hassrhetorik und Fake News sei in Wahrheit aus einem Ressentiment gegen den enormen Erfolg der sozialen Medien geboren. Das weckt nämlich leicht den Verdacht, dass die beschworene Gefahr durch Fake News selbst eine Fälschung ist. Und dass es sich um den verzweifelten Abwehrkampf eines zum Untergang verurteilten Journalismus handelt. 

 

Dieser Text stammt aus der Märzausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

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