„Lord of the Lost“ in Liverpool - ESC-Prognose: Hölle, Hölle, Hölle

„Lord of the Lost“ fährt für Deutschland zum ESC. Doch wie gut stehen die Chancen, dass die Schmach dieses Mal ausbleibt? Ist der Song „Blood and Glitter“ wirklich Metal? Und kennen Sie zufällig die Band „Gorgoroth“?

„Lord of the Lost“ will das ESC-Publikum mit harten Gitarren-Riffs und Glitter überzeugen / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Ikke Hüftgold ist sauer. Matthias Distel, wie der Ballermann-Schlagersänger mit bürgerlichem Namen heißt, wäre gerne zum Eurovision Song Contest nach Liverpool gefahren und hatte dafür im Vorfeld des ESC-Vorentscheids auch reichlich Unterstützung von seinen Fans bekommen.

Am Ende aber setzte sich im Online-Voting des NDR die Band „Lord of the Lost“ durch. Ikke Hüftgold witterte direkt eine Verschwörung, glaubt, die Verantwortlichen wollten unbedingt verhindern, dass er für Deutschland nach Liverpool fährt. Der NDR beziehungsweise die ARD halten dagegen und weisen jegliche Manipulationsvorwürfe zurück. Die Posse sollte im Hinterkopf behalten, wer am Samstagabend – darunter auch ich – vor dem Fernseher Platz nehmen wird, um sich den ESC anzusehen. 

Eine Schmach für die Schlagerrepublik

Die Veranstaltung hätte strikt nach ihren Regularien eigentlich in der Ukraine stattfinden müssen, da die ukrainische Band „Kalush Orchestra“ im vergangenen Jahr auf Platz Eins gewählt wurde, was wegen des Ukrainekrieges aber nicht geht. Gleichwohl hat „Kalush Orchestra“ auch nicht unbedingt gewonnen, weil sie künstlerisch die beste Wahl gewesen wären, sondern weil der ESC immer schon eine politische Veranstaltung war. 

Das sieht man zum Beispiel daran, dass die Türkei auch einen einarmigen Banditen mit Triangel zum ESC schicken könnte und aus Deutschland trotzdem reichlich Punkte erhalten würde, weil hierzulande viele Menschen mit türkischen Wurzeln leben. Oder daran, dass man an den Punkten für Israel alljährlich ablesen kann, wie gut das Verhältnis welches Teilnehmerlandes zum jüdischen Staat wirklich ist. Oder eben daran, dass im vergangenen Jahr die Ukraine gewonnen hat. 

Der ESC ist aber nicht nur politisch, er ist in der deutschen Musik- und Fernsehbranche auch längst zum Politikum geworden. Seit Deutschland den ESC das bisher letzte Mal gewonnen hat (Lena mit „Satellite“), sind nämlich schon 13 Jahre ins Land gegangen. Seitdem sind wir sehr verlässlich sehr weit hinten gelandet, mit Ausnahme von Michael Schulte, der sich im Jahr 2018 auf Platz 4 gesungen hat.

Die vergangenen drei Teilnahmen Deutschlands beim ESC endeten alle drei auf Platz 25. Eine wiederholte Schmach für die Schlagerrepublik und Indiz dafür, dass die Deutschen entweder nicht verstehen, wie der ESC funktioniert, oder es ihnen einfach egal ist. Ich meine, wir sind ja auch das einzige Land, das sich von der Kernenergie abgewendet hat, während andere Länder schon des CO2-Fußabdrucks wegen neue Atomkraftwerke bauen. Warum nicht auch am sturen Sonderweg Deutschlands beim ESC festhalten? Können wir ja nichts dafür, dass wir immer richtig liegen und alle anderen falsch. 

Im Vorfeld des ESC, der dieses Jahr also unter ukrainischer Flagge in Liverpool stattfinden wird, ist in der Casa Krischke – ergo: bei mir daheim – ein großer Dissens entstanden. Meine Partnerin findet, dass „Lord of the Lost“ immerhin paradiesvogelig und rammsteinig genug ist, um Deutschland am Samstag vom Fluch des 25. Platzes zu befreien. Ich sehe das ein bisschen anders, was wohl maßgeblich mit meiner musikalischen Sozialisierung zu tun hat. 

Im Mosh-Pit-Kampf gestählt 

Es war einmal eine Zeit, da haben wir uns in einem kleinen Dorf bei Landsberg am Lech jede Menge Ärger eingehandelt, weil wir mit dem Skateboard das Schulgelände der dortigen Grundschule zum Gebrüll von „Slipknots“ Corey Taylor („Fuck this shit, I'm sick of it. You're goin' down, this is a war!“) geschreddert haben.

Außerdem bin ich unter anderem dank der Bands „Soulfly“ und „Slayer“ im Mosh-Pit-Kampf (Teile des Publikums bei einem Live-Konzert traktieren sich gegenseitig mit Ellenbogen und Tritten) geübt. Und bis heute kann ich das Lied „Scharlachrotes Kleid“ der deutschen Black-Metal-Band „Eisregen“ mitsingen, dessen Liedzeilen ich an dieser Stelle aber nicht zitieren werde, da ich sonst noch Ärger mit dem Jugendschutz bekomme. 

Man möge mir also bitte nachsehen, dass ich einer Kombo wie „Lord of the Lost“ zwar hochachtungsvoll zugestehe, dass sie auch irgendwie Metal sind (wobei man bei der Nummer „Blood and Glitter“ diskutieren könnte, ob Dark Rock als Bezeichnung nicht besser passt), es aber sehr lächerlich finde, wenn man sie in einem Atemzug mit Metal-Bands nennt, die nie und nimmer beim ESC auftreten würden, oder die Kollegen vom Stern einen Beitrag (Print-Ausgabe) über „Lord of the Lost“ mit der Überschrift „Satan: 12 Punkte“ versehen.

Die Teufelsanbeter-Diskussion ist unter Metalheads bisweilen nämlich eine ziemlich ernste Sache. Hören Sie sich zum Beispiel mal „Belphegor“ oder „Gorgoroth“ an, dann wissen Sie, wer dem Beelzebub wirklich jederzeit einen blutigen Ziegenkopf kredenzen würde, während er ihm nackt die Locken krault. Was mich zu der These bringt, dass eine solche Überschrift in Zusammenhang mit „Lord of the Lost“ wohl nur erdenken kann, wer von Rockmusik so wenig Ahnung hat, dass er oder sie auch glaubt, „Die Ärzte“ seien Punk.  

„Blood and glitter, sweet and bitter“

Jedenfalls haben wir in der Casa Krischke nun beschlossen, unseren Dissens bezüglich der Siegeschancen von „Lord of the Lost“ in eine Wette zu überführen. Meine Partnerin sagt, „Lord of the Lost“ hat gute Gewinnchancen und landet mindestens unter den ersten zehn. Ich sage, „Lord of the Lost“ landet in der Finalrunde zwar nicht auf Platz 25, aber trotzdem nur unter den letzten zehn. Warum? Weil ich glaube, dass man mit härteren Gitarrenriffs und ein bisschen Gebrüll heute niemanden mehr hinterm Ofen hervorlockt. Und weil mir der Refrain „blood and glitter, sweet and bitter, we‘re so happy we could die“ zu gewollt daherkommt. Daumendrücken werde ich dennoch. Ehrensache. 

Laut den Buchmachern hat übrigens die Schwedin Loreen die besten Gewinnchancen, die mit ihrer melodramatischen Pop-Electro-Nummer „Tattoo“ ein ziemliches Kontrastprogramm zu „Lord of the Lost“ liefert. Knapp dahinter: der Finne Käärijä, der mit seinem Song „Cha Cha Cha“ irgendwas zwischen Rap und Techno macht. Auch in den Spotify-Charts, die durchaus verlässlich Hinweise liefern, wer beim ESC am Ende gewinnen könnte, ist Loreen ganz vorne (weit über 50 Millionen Downloads).

Gefolgt übrigens vom Italiener Marco Mengoni mit seiner Ballade „Due Vite“, ein Kandidat, der in seiner Heimatsprache singt (was ich beim ESC sehr richtig finde), sehr gut aussieht und für das von der LGB-Szene geprägte ESC-Publikum die passende metrosexuelle Attitüde mitbringt. Da schwingt dann immer so ein bisschen die Frage mit, ob er heterosexuell, bisexuell oder homosexuell ist, was beim ESC-Publikum – nach meiner Beobachtung jedenfalls – immer gut ankommt. Ich sage: Mengoni gewinnt den ESC in Liverpool. Meine Partnerin wiederum sagt: Bitte nicht. Ihr ist die Nummer einfach zu schnulzig. 

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