Erdüberlastungstag - Mein Hemd, dein Rock

Heute ist Erdüberlastungstag: Die Ressourcen der Welt für unseren Bedarf sind für dieses Jahr aufgebraucht. Der Begriff Nachhaltigkeit wurde so zum religiös gefärbten Schlagwort, das praktisch verhindert, wofür es theoretisch einsteht

Für den frühen Zeitpunkt des Erderschöpfungstags sind maßgeblich die Industrienationen verantwortlich / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Peter Strasser ist Philosoph und schrieb u. a. „Gehirn ohne Geist – Die Vertreibung des Menschen aus der Wissenschaft“.

So erreichen Sie Peter Strasser:

Anzeige

Nachhaltigkeit – das ist mittlerweile eines jener Schlagworte, deren bloße Erwähnung einen Impuls der Zustimmung auslöst: Jawohl, was wir brauchen, ist mehr Nachhaltigkeit, und zwar in so ziemlich allen Lebensbereichen. Unsere Produkte sind zu schnelllebig, unsere Technologien zu wenig umweltbewusst, unsere sozialen Beziehungen zu sehr auf rasches Glück ausgelegt. Wir sind gegenwartsfixiert, der Kapitalismus benötigt ständiges Wachstum, das ohne Marktüberhitzungen immer weniger zu haben ist, und unsere Politik tut bloß scheinheilig generationenbewusst, während sie für den populistischen Erfolg alle Zukunftsbedenken über Bord wirft.

Dieser Klagekatalog ließe sich im Namen der Nachhaltigkeitsforderung noch beliebig erweitern, zumal dann, wenn wir uns bewusst machen, dass es nicht mehr lange dauert, bis die Menschheit die Acht-Milliarden-Grenze überschritten haben wird. Daraus geht unmittelbar hervor: Anstelle der begrenzten, sachlich wohlumschriebenen Forderung, nachhaltig zu handeln – etwa in der Bewirtschaftung regionaler Bodenkulturen –, ist mittlerweile vielfach ein Bündel von Forderungen getreten, die auf globale Dynamiken abstellen.

Die Fünf-vor-zwölf-Rhetorik

Paradigmatisch dafür ist die Regulierung des weltweiten Energieverbrauchs, die Senkung der weltweit freigesetzten Schadstoffe, die Bekämpfung der weltweiten Armut, die Eindämmung der weltweiten Ausbeutung von Rohstoffen. Gegen all diese Missstände, welche die Zukunft der Menschheit und jedenfalls den Weltfrieden – der ohnehin eine Fiktion ist – akut bedrohen, sollten nachhaltige Maßnahmen gesetzt werden.

Freilich, an diesem Punkt verliert das Nachhaltigkeitsdenken nicht nur wegen der politischen Hindernisse, die ihm entgegenstehen, an Boden und Substanz. Vordergründig könnte man meinen, dass die genannten Probleme hinreichend klar beschreibbar sind, um, auf ihrer sorgfältigen Analyse aufbauend, langfristig wirksame Lösungsstrategien zu entwickeln. Aber bei näherem Hinsehen zeigen sich fatale Interdependenzen und Vernetzungen, die eine Folge des globalen Charakters sind. Aus Expertenkreisen ist wenig Hoffnungsreiches zu hören, falls nicht gerade eine Fünf-vor-zwölf-Rhetorik die Möglichkeit in Aussicht stellt, dass doch noch alles gut wird. Hier einige der einschlägigen Kassandrameldungen im Telegrammstil:

Eine weltweite Bekämpfung der Armut wäre nur möglich, indem – was immer sonst getan werden mag – eine grundlegende und rasche Umverteilung der Ressourcen erfolgte. Jede derartige Maßnahme würde indessen die Märkte zusammenbrechen lassen, wodurch eine weltweite ökonomische Depression und, in ihrer Folge, politische Unruhen heraufbeschworen würden, sodass am Ende auch in jenen Weltoasen, wo zurzeit ein vergleichsweise breit gefächerter Wohlstand herrscht, massenhaft Armut zu gewärtigen wäre.

Ein ähnliches Ergebnis liefern die bekannten, nachhaltig wirksamen Strategien zur Bekämpfung des Klimawandels: Sie alle hätten, bei den vorhandenen Zeitfenstern zur Lösung des globalen Problems, katastrophische Nebenwirkungen. Denn durch die erforderliche, massive und zügige Reduktion der Schadstoffemissionen, die für die weltweite Erderwärmung hauptverantwortlich sind, würden in weiten Teilen der Welt die wirtschaftlichen Wachstumspotenziale ebenfalls schwer beeinträchtigt.

Industrieländer konsumieren am meisten

Würde man außerdem versuchen, die heutigen Entwicklungsländer (ein zynischer Name nach so langer Zeit der Ausbeutung plus Entwicklungshilfe) auf das westliche Wohlstandsniveau anzuheben, dann müssten – wegen des immensen Mehrverbrauchs an billigen Energien – die Luftverschmutzung und der Treibhauseffekt über jedes kontrollierbare Maß hinaus beschleunigen.

Es klingt zynisch, ist indes eine Tatsache, vor der man die Augen nicht verschließen darf: Gäbe es, unter den gegebenen Umständen, keinen Welthunger, der Hunderte Millionen Menschen quält, dann fiele heuer, 2019, der sogenannte „Erderschöpfungstag“, Earth Overshoot Day, nicht erst (!) auf den 29. Juli. Dürften sich auch die Ärmsten der Armen unseres Wohlstands erfreuen, hätte jener Zeitpunkt, an dem alle im Jahresrhythmus erneuerbaren Rohstoffe und Naturleistungen des Planeten für das laufende Jahr verbraucht sind, schon wesentlich früher stattgefunden. 1987 fiel der Earth Overshoot Day noch auf den 19. Dezember, während nach Angaben der Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO, die Anzahl der Hungernden seit 1990 immerhin um Hunderte Millionen zurückging. Dazu ist, um keiner Fehlinterpretation Vorschub zu leisten, anzumerken: Der Ressourcenverbrauch steigt in den ökonomisch entwickelten Weltgegenden wesentlich, manchenorts exponentiell rascher als in den chronischen Hungerländern.

Fragt man ohne ideologische Scheuklappen, wodurch zurzeit – und vermutlich noch lange Zeit – der Wohlstand für Milliarden Menschen am wirksamsten gesichert werden kann, dann sind es, horribile dictu, die extensive Nutzung der Atomenergie und die genetisch veränderte Palette an Anbau­stoffen und Nahrungsmitteln. Dabei handelt es sich um technische Eingriffe, die teilweise hochproblematisch sind, weswegen die Nachhaltigkeitskultur dagegen Sturm läuft.

Die Überdehnung des Nachhaltigkeitsbegriffs

Aufgrund der Globalisierung sind heute all jene Überlebens- und Wohllebensthemen, welche die Menschen früher in erster Linie regional bewegten, in einen Globalisierungsdiskurs eingerückt. Betrachten wir exemplarisch den forstwirtschaftlichen Gebrauch des Wortes „nachhaltig“: Demnach sollte nicht mehr Baumbestand gefällt werden, als jeweils nachzuwachsen imstande ist. Angesichts des ökonomisch profitablen Abholzens der großen Waldgebiete in verschiedenen Regionen der Welt gelangt das Thema, auch wegen der damit einhergehenden Bedrohung des gesamten Ökosystems aus Flora und Fauna, auf die Agenda jener Nachhaltigkeitssünden, welche die Menschheit insgesamt betreffen. Und das ist gut so.

Doch zugleich entsteht, umwelt- und bevölkerungsethisch, eine prekäre Situation, die – um ein Bild aus dem Mühle-Spiel zu verwenden – Doppel- und Dreifachmühlen im dicht vernetzten System der Überlebensproblematiken armutsgeplagter Nationen aufmacht. Die Befriedigung der Profitgier großer Holzverarbeitungs- und Bodenerschließungskonzerne ist Teil von Nutzenrechnungen, die, im Sinne einer Gemeinwohlbilanz, mit der Belebung der lokalen Wirtschaft und der Erschließung neuer industrieller Standorte argumentieren. Negative Langzeiteffekte stehen gegen kurzfristige Lebenserleichterungsszenarien. Wer wollte hier, konfrontiert mit der oft akuten Not der ansässigen Bevölkerung, die Verletzung von Nachhaltigkeitsgrundsätzen anmahnen?

Die Überdehnung des Nachhaltigkeitsbegriffs gibt Scharlatanen, Geschäftemachern und pseudoreligiösen Gurus die Möglichkeit, sich in den Vordergrund zu spielen und zu behaupten, das Unmögliche doch möglich zu machen. Voraussetzung ist – so wird den Empfänglichen, den Glaubenswilligen eingetrichtert –, dass die bereitgestellten Rezepte oder Wundermittel ohne engherzige rationale Bedenken erworben und praktiziert werden. Das Spektrum reicht von der Homöopathie über den Veganismus bis zum „biodynamischen“ Mystizismus.

Der Ursprung der Idee

Es grassiert ein Nachhaltigkeitsirrationalismus, der deshalb eine Gefahr in sich birgt, weil er die Menschen, die das Beste für sich selbst und die eigenen Leute wollen (eine grundsätzlich untadelige Haltung), gegen das sogenannte Wissenschaftsestablishment aggressiv immunisiert. Dabei werden Signalworte wie „natürlich“ oder „biologisch“ regelrecht zu Existenzialmarkern, die im Gegenzug das Böse definieren, das meist als Chemie oder Genetik – also etwa in Form chemischer Zusatzstoffe oder genetischer Optimierungen in Nahrungsmitteln – auftritt.

Wikipedia kann man folgende Information entnehmen, die sich auf eine Abhandlung von Ulrich Grober beruft, „Urtexte – Carlowitz und die Quellen unseres Nachhaltigkeitsbegriffs“ (in Natur und Landschaft, 2013/2, S. 46): „Eine erstmalige Verwendung der Bezeichnung Nachhaltigkeit in deutscher Sprache im Sinne eines langfristig angelegten verantwortungsbewussten Umgangs mit einer Ressource ist bei Hans Carl von Carlowitz 1713 in seinem Werk ‚Sylvicultura oeconomica‘ nachgewiesen.“

Das war vor mehr als 300 Jahren! Die Idee der Nachhaltigkeit gehört im Ursprung zur Gruppe jener Vorstellungen, die Richard Dawkins 1976 in seinem Werk „The Selfish Gene“ als meme, deutsch: „Mem“, charakterisiert (im Englischen phonetisch dem Wort gene nachgebildet). Damit soll eine Art Begriffs-Gen bezeichnet werden, das sich im Rahmen der soziokulturellen Evolution erfolgreich ausbreitet, und zwar über das Bewusstsein des Homo sapiens.

Ignoranz gegenüber dem Fernen

Die Nachhaltigkeitsidee gehört zum Prinzipienbestand einer jeden humanen Solidaritätskultur. Sie lässt sich nicht einfach zugunsten einer Carpe-diem-Haltung oder hedonistischen Moral der Zukunftsausblendung lahmlegen. Man will den Seinen – wer immer diese jeweils sind, die Familie, der Clan, das eigene Volk – eine generationenüberdauernde Zukunft bereiten, worin Zustände zu herrschen hätten, die das Leben lebenswert machen (was immer darunter, zeitgebunden, zu verstehen wäre). Das Nachhaltigkeitsstreben zählt zu den sozialen Grundanliegen, sobald die Menschen ihr gemeinsames Leben als ein Langzeitprojekt begreifen und reflektieren.

Der Glaube an die Existenz nachhaltiger Strategien des Überlebens und Wohllebens hat den in Gruppen lebenden Menschen schon immer geholfen, ein Solidarverhalten an den Tag zu legen, auch wenn die Aussichten für Kinder und Kindeskinder, realistisch betrachtet, alles andere als rosig gewesen sein mochten. Wir zelebrieren, bewusst oder unbewusst, einen vitalen Nachhaltigkeitsglauben unberührt davon, ob uns der Weltuntergang ins Haus steht oder nicht.

Allerdings teilt unser memetisch fundiertes Nachhaltigkeitsstreben ein Problem evolutionär erworbener Überlebenstugenden insgesamt. Es orientiert sich am Begriff unserer jeweils Nächsten bei weitreichender Ignoranz gegenüber dem Fernen und Fernsten. Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen Emotion und Vernunft beim Menschen schlecht ausbalanciert ist. Wir sind intellektuell sehr wohl in der Lage, globale Zusammenhänge zu erfassen, sodass wir auf dem Papier die Gefahren, die unser Handeln als Gattung mit sich bringt, einzuschätzen und zu beziffern vermögen. Doch dieses Wissen bleibt abstrakt und kalt, verglichen mit jener Motivationslage, die uns aus unseren gefühlsgrundierten Nahbeziehungen erwächst.

Immun gegenüber schlechten Nachrichten

Der Gemeinspruch, wonach uns das Hemd näher sei als der Rock, bringt nach wie vor jene Haltung zum Ausdruck, die uns daran hindert, genügend kollektiven Druck aufzubauen, damit ein koordiniertes Langzeithandeln weltpolitische Priorität bekäme. Darin liegt eine Grundhemmung zur globalen „Empathie“. Deren Vermittlung ist nur über die Umsetzung eines universalethischen Umwelt-Credos denkbar. Dieses Credo fordert, ausgehend von den Prinzipien der Gleichheit aller Menschen und der gleichen Menschenwürde, maßgeblich die Erhaltung einer für die Menschheit insgesamt gedeihlichen Umwelt. Bis heute sind die daraus ableitbaren ökologischen Forderungen auf dem größten Teil des Planeten Wunschdenken geblieben, falls sie überhaupt als ernst zu nehmend und annehmbar betrachtet werden.

Was an der immerfort frustrierten Nachhaltigkeitsdoktrin dennoch optimistisch stimmt, ist die – der Nachhaltigkeitsmemetik geschuldete – Unerschütterlichkeit des Nachhaltigkeitsglaubens. Wir sind davon überzeugt, unsere Anstrengungen seien sinnvoll, „trotz allem“. Dadurch werden wir ermutigt, in der Besorgnis um unsere Kinder und Kindeskinder selbst dort nach Lösungen zu suchen, wo der mit empirischen Daten hantierende Realist schon keine mehr für wahrscheinlich hält. Kurz: Der Nachhaltigkeitsglaube macht uns immun gegenüber den schlechten Nachrichten, mit denen uns die Globalökologen bombardieren.

Noch ist es nicht so weit

Leider ist das nur die eine Seite; die andere Seite der Nachhaltigkeitsmemetik könnte sich als fatal erweisen. Ähnlich wie der Glaube an Gott (für Richard Dawkins das Mem schlechthin) uns selbst in aussichtslosen Situationen anfeuert, aber eben dadurch unter Umständen ins Verderben führt, könnte uns unsere Nachhaltigkeitszuversicht zum Verhängnis werden. Denn darin ist mein Glaube einbeschlossen, dass die anstehenden Umweltkatastrophen durch die Ritualisierung individuellen Handelns abgewendet werden, so zum Beispiel, wenn ich meinen Müll gewissenhaft trenne, gewissenhaft Bioprodukte esse und meine Wohnung gewissenhaft mit Energiesparlampen ausleuchte. Die Produktion individuell guten Gewissens wird hier zum Abwehrzauber, der uns blendet.

Aber noch ist es nicht so weit, sagen die Experten; noch ist es nicht fünf nach zwölf. Und so hätten wir eine kurze Schonfrist zur kollektiven Besinnung und Aktion. Ob die Frist ausreicht, wird sich weisen. Mehr ist vom Standpunkt einer Pragmatik der Nachhaltigkeit nicht zu sagen.

Dieser Text erschien in der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

 

 

Anzeige