Stehen wir vor einem Epochenwechsel? - Zwischen den Jahren, zwischen den Zeiten

Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr sind auch Tage zwischen den Zeiten. Wie vielleicht nie zuvor in den letzten fünfzig Jahren spüren wir an diesen seltsam zeitlosen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, dass wir mitten in einem Epochenwechsel stehen.

Was kommt auf uns zu? / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Jetzt brechen sie wieder an, die eigenartigen Tage, die im Volksmund gerne „zwischen den Jahren“ genannt werden. Zwischen den Jahren? Schon der Ausdruck ist seltsam. Schließlich kann es, rein logisch gesehen, keine Zeit zwischen den Jahren geben.
Historiker verweisen an diesem Punkt auf Antike und Mittelalter. Das römische Amtsjahr begann seit dem Jahr 153 v. Chr. am 1. Januar. Dann aber kam das Christentum. In vielen Regionen verlegte man im vierten Jahrhundert den Jahresanfang auf den vermeintlichen Geburtstag Jesu, also den 25. Dezember. Später übernahm diese Rolle mancherorts auch der angebliche Tauftag des Nazareners, der 6. Januar. Damit war die Verwirrung komplett.

Die Rede von der Zeit „zwischen den Jahren“ hat vermutlich hier ihre Wurzel. Je nach Wohnort brach das neue Jahr am 25. Dezember oder sogar erst am 6. Januar an. Und die Zeit dazwischen lag tatsächlich irgendwie zwischen den Jahren. Das beendete erst Papst Innozenz XII. im Jahr 1691, indem er den 1. Januar als ersten Tag des neuen Jahres bestimmte. Doch auch diese Regelung setzte sich nur langsam durch.

Wir stehen mitten in einem Epochenwechsel

Im kulturellen Gedächtnis Europas hat sich der doppelte Jahreswechsel zwischen religiösem Jahr und administrativem Jahr ohnehin erhalten, und so ist zwischen den Weihnachtstagen und Neujahr eine eigenartige Zeit der Ruhe und Entschleunigung entstanden – inzwischen kräftig befördert durch moderne Freizeit- und Urlaubsgewohnheiten.

Doch auch jenseits des Urlaubsrummels, der in diesem Jahr ohnehin ausfällt, sind diese Tage „zwischen den Jahren“ auch immer Tage „zwischen den Zeiten“ – zumal in unserer Epoche. Wie vielleicht nie zuvor in den letzten fünfzig Jahren spüren wir an diesen seltsam zeitlosen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, dass wir mitten in einem Epochenwechsel stehen und die Zukunft nicht einfach nur das Gestern in etwas abgewandelter Form sein wird, sondern grundlegend anders.

Zwischen den Zeiten

Vor 100 Jahren, im Jahr 1920, schrieb der damals junge Theologe Friedrich Gogarten einen epochalen Aufsatz mit dem Titel „Zwischen den Zeiten“. Er beginnt mit den Worten: „Das ist das Schicksal unserer Generation, dass wir heute zwischen den Zeiten stehen. Wir gehörten nie zu der Zeit, die heute zu Ende geht. Ob wir je zu der Zeit gehören werden, die kommen wird?“
Gogarten schrieb diese Zeilen kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als spürbar eine Epoche in Trümmern lag und das Neue noch ungewiss. Aber geht es uns so anders? Zum Glück liegt kein Krieg hinter uns. Aber die Verdichtung der Wandlungsindizien ist so gewaltig, dass Gogartens Zeilen dennoch aktuell erscheinen. Auch wir, so hat man den Eindruck, sind Bürger einer Zeit zwischen den Zeiten und die politischen und kulturellen Verwerfungen, die wir täglich wahrnehmen, zeugen von der daraus entspringenden Verunsicherung.

Für Gogarten, durch den Ersten Weltkrieg zur Klarsicht gezwungen, war offensichtlich, dass es nur eine mögliche Reaktion auf diese Desorientierung geben kann: den Verzicht auf weltlichen Utopismus und menschliche Allmachtsfantasien. Er schreibt: „Es gab Zeiten da meinten wir, an einer neuen kommenden Kultur arbeiten zu können, und da glaubten wir, sie brächte dann das Heil. Ihr Bild stand uns groß und reich vor der Seele. Aber dieser Traum ist ausgeträumt.“

Man klammert sich an die Utopie

Man hat diese Skepsis gegen das Menschliche schnell vergessen. Und auch unsere Gegenwart träumt wieder den großen Traum der kommenden Kultur, die in diesem Fall bunt sein wird und divers, digital und global. Man hat wieder seine Gewissheiten und klammert sich an die unverbrüchliche Kraft der Utopie, an Ideologien und säkulare Heilsversprechen, Hashtag inklusiv.

Dabei haben wir mehr noch als vor hundert Jahren Grund genug, skeptisch zu sein. Das Unheil, das menschlicher Utopismus in der Zwischenzeit angerichtet hat, ist unermesslich. Und auch die schöne neue Glitzerwelt, bunt und digital, wie sie von den Think Tanks von Kalifornien bis Davos als Verheißung gezeichnet wird, sie könnte sich als neuer globaler Alptraum entpuppen.
Die Tage zwischen den Jahren, in einer Zeit zwischen den Zeiten, sind ideale Momente, um Abstand zu gewinnen, sich auf das Wesentliche zu besinnen und gegen falsche Glücksversprechen zu immunisieren.

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