Empörungskultur - „Dummheit ist eine Entscheidung“

In einer Mediendemokratie setzen sich zumeist die empörten Schreihälse durch. Im Interview empfiehlt die Autorin Sineb El Masrar weniger diskursive Lautstärke – und auch Extremisten richtig zuzuhören.

Demonstrant mit Megafon während einer linken Demo in den USA / dpa
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Autoreninfo

Christine Zinner studierte Sozialwissenschaften und Literaturwissenschaft und ist freie Journalistin.

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Sineb El Masrar ist Autorin und Moderatorin. Zu ihren Schwerpunkten gehören die Themen Radikalisierung, Medien, Migration und Antisemitismus. Vor einigen Tagen ist ihr neues Buch „Heult leise, Habibis! Wie Ignoranz und Dauerempörung unsere Gesellschaft spalten“ erschienen. Darin unterscheidet sie die sogenannten vernünftigen Stillen von den lauten Polarisierern.

Frau El Masrar, in Ihrer Hoffnung auf eine weniger gespaltete Gesellschaft setzen Sie auf die „vernünftigen Stillen“. Was zeichnet diese Gruppe aus?

Die vernünftigen Stillen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Lage sind, sachlich zu argumentieren, sich an den Fakten zu orientieren und immer zu reflektieren, bei welchen Themen sie zu emotional werden. Momentan erleben wir es in gesellschaftlichen und politischen Diskussionen oft, dass Menschen ihre eigene Wut, die eigene Kränkung in den Vordergrund stellen, was es schwer macht, sachlich zu bleiben. 

Sie gehen auf die Theorie des Psychoanalytikers C.G. Jung ein, der von einem Introversions- und Extraversionstyp spricht. Ist ein Introvertierter automatisch ein „vernünftiger Stiller“?

In erster Linie mache ich eine Unterscheidung zwischen den vernünftigen Stillen und den polarisierenden und polternden Lauten. Ob jemand eher introvertiert oder extravertiert ist, sagt da nicht viel aus. Es gibt stark extravertierte Persönlichkeiten, die sehr sachlich argumentieren können. Außerdem trägt jeder Mensch sowohl introvertierte als auch extravertierte Anteile in sich. Der Extravertierte kann also seine introvertierten Anteile aktivieren. Damit hat er die Fähigkeit zur sachlichen Analyse und auch die, einen kühlen Kopf zu bewahren und eben nicht auf jeden innerlichen Impuls der Wut und Gekränktheit anzuspringen.

Warum neigen die Stillen weniger dazu, in gesellschaftlichen Diskussionen mitzumischen?

Wir haben eine allgemeine Entwicklung, dass sich Menschen zunehmend aus Diskussionen zurückziehen, im öffentlichen, aber teilweise auch im privaten Raum. Sie haben das Gefühl, sie könnten nicht mehr äußern, was sie denken. In den Sozialen Medien etwa gewinnen die lauten Polarisierer und Empörer. Damit kann nicht jeder umgehen. Hinzu kommt, dass gerade Introvertierte lieber für sich sind, Energie aus ihren Projekten und Interessen ziehen, während die Extravertierten eher die Öffentlichkeit 
und Gemeinschaft suchen. 

Laut Ihrem Buch befeuern die Sozialen Medien diese Dynamik. Sie verschaffen ihren Nutzern Dopamin-Kicks und bergen so ein Suchtpotential.

Diese ganzen Tech-Unternehmen leben davon, dass sie diesen Dopamin-Kick bei den Usern abrufen können. Der wirkt auf uns alle. Die einen können stundenlang auf Instagram irgendwelche Koch- und Katzenvideos anschauen, den anderen gibt es sehr viel, wenn sie Shitstorms erzeugen. Diese Negativität kann aber in beteiligten Menschen Ängste auslösen, sie kann sie radikalisieren. Sie organisieren sich dann vielleicht oder schließen sich Ideologien an, die letztendlich Demokratien abschaffen. 
 

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Für so manchen Dauerempörten ist dieses Polarisieren zugleich ein einträgliches Geschäftsmodell. 

Es gibt Akteure, die gemerkt haben, dass Polarisierung Aufmerksamkeit erzeugt. Doch nicht alle nutzen das aus. Die Personen, die es tun, haben in sich ein Defizit, wollen gesehen und gehört werden, um ihre innere Leere zu kompensieren. Aber sie schaden damit der Gesamtgesellschaft, und am Ende freuen sich die Tech-Unternehmen und die einzelnen Personen, die das Spiel spielen. Die Verantwortung liegt aber weiterhin beim User.

Dabei erstaunt es gerade in den hitzigen Online-Diskussionen immer wieder, wie unbeeindruckt von Fakten manche agieren. Ist das Dummheit?

Dummheit definiert sich vor allem durch das wohlwissentliche Ignorieren von Fakten und Tatsachen. Das ist eine Entscheidung und hat nichts mit Intelligenz zu tun. Es gibt sehr viele intelligente Menschen, die dumm sind und dumm handeln. Die nicht bereit sind, dem anderen zuzuhören, andere Meinungen und faktenbasierte Widersprüche zu akzeptieren. Diese Menschen pochen darauf, weiterhin ignorant durch die Welt zu gehen. Auf Widerspruch antworten sie mit auswendig gelernten Parolen. Weil sie so Teil einer Gruppe sind oder weil es sich besser anfühlt, sich die Welt so zurecht zu denken. 

Teil einer Gruppe zu werden, mag für manche die Motivation dahinter sein. 

Wir haben viele Menschen in Deutschland, die sehr einsam sind. Wir sind soziale Wesen, wir suchen Anerkennung, eine Gemeinschaft. Manche sind vielleicht mit ihrer Herkunftsfamilie nicht zufrieden, suchen eine Ersatzfamilie. In den vergangenen Jahren hat das Thema Corona und Corona-Maßnahmen viele Familien entzweit. Es gab Menschen, die an Verschwörungstheorien geglaubt haben. Man konnte auf der sachlichen Ebene nicht mehr mit ihnen reden, hat sie nicht erreicht. Meine Theorie ist ja, dass diese Menschen in der Regel andere Probleme haben und so versuchen, eine Form von Aufmerksamkeit zu bekommen. 

Ein Schrei nach Liebe?

Ich denke, solche Menschen haben oft die Erfahrung gemacht, dass ihr Umfeld sich nicht dafür interessiert hat, wenn sie über eine persönliche Kränkung, zum Beispiel eine Gewalterfahrung, gesprochen haben. Wenn sie diese Kränkung und Wut aber in politische Parolen einbetten, gibt es dafür mediale Öffentlichkeit sowie Diskussionsbereitschaft innerhalb der Familie. Diese Dynamik erleben wir auch bei vielen anderen Themen, die wir momentan verhandeln, etwa beim Nahostkonflikt. Hier projizieren Menschen ohne Herkunftsbezug ihren ganzen persönlichen Frust und ihre Wut aus ihren Familien in den Konflikt, finden eine Gemeinschaft und vor allem Anerkennung. Wir erleben die Dynamik auch, wenn sich Menschen Sekten oder antidemokratischen Gruppierungen anschließen, weil sie glauben, dort ein Zuhause und Anschluss zu finden. 

Sineb El Masrar / Andreas Schmidt

Sie stellen jedoch die These auf, Extremisten würden sich ohnehin selbst entzaubern, wenn man ihnen nur richtig zuhören würde

Da können wir aus der Geschichte lernen. Die Nationalsozialisten etwa haben nie verschleiert, um was es ihnen geht. Man konnte sehr früh lesen und in ihren Reden hören, was sie vorhaben. Heute gilt das beispielsweise für Islamisten, die rechtsextremen, türkischstämmigen Grauen Wölfe oder deutsche Rechtsextreme. Die Medien sollten ohne künstliche Empörung sachlich dazu berichten und verdeutlichen: Um was geht es denen? Es gilt, die Akteure mit ihren Absichten zu konfrontieren und auch den Lesern und Zuschauern zu zeigen: Das kann keine Alternative zu unserer Demokratie sein. Hier sind alle gefragt, das abzuwenden. Wir müssen auch versuchen, die Menschen aufzufangen, die vielleicht aufgrund ihrer Einsamkeit oder ihrer persönlichen Kränkung für solche Ideologien empfänglich sind. Wir dürfen sie nicht diesen Gruppen überlassen, denn auch sie haben eine Wahlstimme. Und mit dem Ergebnis müssen wir alle leben.

Sie haben nun ausführlich dargelegt, welche Nutzen die Lauten aus ihrem Empörtsein ziehen und warum die Stillen kein Bedürfnis haben, sich in die aufgeheizten Diskussionen einzubringen. Zum Schluss Ihres Buches appellieren Sie trotzdem, dass die Stillen sich gegen ihr Naturell mehr einmischen und die Lauten ruhiger werden sollen. Ist es nicht ein bisschen naiv, darauf zu setzen?

Wir können natürlich auch alle darauf hoffen, dass sich die Diskussionskultur von alleine verbessert. In den vergangenen Jahren hat sie sich aber verschlimmert, weil sich immer mehr Menschen zurückziehen. Deswegen ist es wichtig, vor allem an die dauerempörten Lauten zu appellieren, die ihr Agieren oft genug damit rechtfertigen, dass sie ihren Aktivismus für die Demokratie betreiben und etwa gegen Rassismus, Sexismus, usw. Sie machen zwar häufig auf Probleme aufmerksam, bieten jedoch außer Empörung keine Lösung. Die Stillen aber können sich nicht nur auf ihren besorgten Blick reduzieren, sondern müssen sich mit einbringen. Es kann nicht schaden, wenn wir uns gegenseitig mehr zuhören und dabei sachlich bleiben. Wenn den Lauten tatsächlich etwas an der Demokratie liegt, dann ist das jetzt die Gelegenheit, mal ein bisschen ruhiger zu werden.

Das Gespräch führte Christine Zinner.


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