Digitalisierung - Digitale Demenz beim Zahnarzt

Schon Kleinkinder werden von ihren Eltern heutzutage vor den Fernseher oder das Smartphone gesetzt. In Arztpraxen versucht man mit Flugblättern über die Gefahr der Mediennutzung aufzuklären. Doch der Wandel im Kinderzimmer ist nicht aufzuhalten

Erschienen in Ausgabe
Ist die Digitalisierung im Kinderzimmer überhaupt noch aufzuhalten?
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Ich weiß wirklich nicht, was meine Lieblingsschauspieler Idris Elba und Matthew McConaughey geritten hat, als sie in dieser komplett verstrahlten Stephen-King-Verfilmung „Der dunkle Turm“ mitmachten, die ich mir neulich schlaflos auf Netflix reinzog. McConaughey war der Böse. Es ging um Monster und ferngesteuerte Kinder, die auf ein Signal hin in ein Raumschiff marschierten und auf einen Sitz geschnallt wurden. Dann kam ein Lichtstrahl aus ihrem Kopf, und alles wackelte. Bevor ich verstand, was das sollte, hatte es Idris Elba wieder in Ordnung gebracht. Mit einem Colt Army 1860.

Jedenfalls war ich kurz darauf mit meinen Kindern beim Zahnarzt. Um den Kleinen weiszumachen, dass Zahnarztbesuche supercool sind, war die Kinderpraxis mit echten Flugzeugsitzen ausgestattet. Darin saß ein kleiner Junge, der auf sein Handy glotzte, neben ihm die Mutter, die auf ihr Handy glotzte. Beide nicht angeschnallt, also historisch schon weiter als die Kinder aus dem Science-Fiction-Film. Ich dachte, ja klar, letzte Ausfahrt Neukölln, hat halt noch nicht jeder mitgekriegt, was digitale Demenz ist.

Den Wandel kann man nicht aufhalten

Dann wurde ich zufällig als Teilnehmerin für eine Studie ausgewählt, in der es um die Eltern-Kleinkind-Beziehung geht. Ich machte den Online-Fragebogen. Man konnte im Multiple-Choice-Verfahren zum Beispiel ankreuzen, dass man sich von seinen Kindern gestresst fühlt, weil sie einen ständig bei der Benutzung des Smartphones stören. Ich konnte nicht glauben, dass das ernst gemeint war. Bis ich wieder mit meinen Kindern im Wartezimmer saß, diesmal bei der Kinderärztin. An der Wand hing ein Flugblatt über Mediennutzung. Den Eltern wurde in ulkigen Bildern und unter Vermeidung von Worten erklärt, dass sie ihren Kindern abends was vorlesen sollten, statt ihnen Youtube-Videos auf dem Smartphone vorzuführen.

Der Krieg gegen die digitale Besatzungsmacht, wurde mir klar, ist längst verloren und vorbei, und wer was anderes glaubt, ist wie Idris Elba, der mit einem antiken Colt Army die Welt des technischen Fortschritts bekämpfen will. Stephen King ist gar nicht so blöd. Aber wenigstens, dachte ich, sitzen meine eigenen Kinder noch nicht ferngesteuert im Raumschiff. Bis ich eines Tages ein unheimliches Brabbeln aus dem Kinderzimmer hörte. Ich guckte um die Ecke und sah meine Kinder mit ihren Bauklötzen telefonieren. Letzte Ausfahrt Zukunft.

Dieser Text erschien in der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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