Die menschliche Haut als Leinwand - Tätowiere mich!

Es ist ein tiefes anthropologisches Bedürfnis, den eigenen Körper zu modifizieren. Hierzulande hat sich seit einigen Jahren der Trend zu möglichst großflächigen und individualmythologischen Tätowierungen durchgesetzt. Warum eigentlich? 

„Tattoo Queen“-Wettbewerb bei der 31. Tattoo Convention in der Arena Berlin / dpa
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Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, egal zu welcher, ist für ihn überlebensnotwendig. Plakative Erkennungsmerkmale sind dabei hilfreich. Modifikationen sichtbarer Organe, wie etwa der Haut, erfüllen bestens diese fundamentale Sozialfunktion. Ob brachiale Gefängnistätowierung, die ornamentalen Gesichtszeichnungen algerischer Berberfrauen oder die Schmucknarben der afrikanischen Nuba, stets handelt es sich um Symbole der Gruppenzugehörigkeit, welche untilgbar unter oder auf der Haut angebracht sind. Die symbolträchtigen Tätowierungen folgen einem streng eingegrenzten, tradierten Formenkodex.  

Der Mensch ist ein asoziales Wesen. Er möchte als unverwechselbar und individuell wahrgenommen und angesprochen werden. Einen Großteil seiner Lebenszeit verbringt er damit, sich von seinesgleichen abzugrenzen und zu unterscheiden. Auch eine Tätowierung dient daher der persönlichen Distinktion. Je individueller, desto besser; mehr Ich, mehr illusionäre Einzigartigkeit. Der Erfolg dieser ästhetischen Strategie wird allerdings unterminiert, sobald sich ihrer zu viele bedienen. Wenn alle Individualisten sind oder sein wollen, ist es eben keiner mehr. Um unverwechselbar zu sein, genügt es nicht, das Wort „unique“ auf dem geschwollenen Bizeps zu tragen.  

Symbole der Zugehörigkeit und Abgrenzung 

Kohäsion und Individualisierung sind ganz offensichtlich antagonistische Bestrebungen, die beide mit gleicher Intensität nach sinnlichem Ausdruck streben. Dies führt zu einem Patchwork gegenläufiger Bildmotive und -botschaften. Was man hierzulande auf der Haut seiner Mitmenschen zu sehen bekommt, sprengt jedoch jegliches Maß herkömmlicher ästhetischer und ethnischer Traditionen. 

Warum nicht das tribale Ornament eines entfernten Kulturkreises mit der fotografisch genauen Wiedergabe des eigenen Schäferhundes kombinieren, und das Geburtsdatum der Tochter mit der Erinnerung an die erste, längst verflossene Liebe? Alles ist möglich, und Platz gibt es genug. Kein anderes Organ, außer den Gedärmen, bietet mehr Oberfläche als die eigene Haut. Zur Not können missliebig gewordene Tätowierungen per Laser entfernt (Dermatologen raten allerdings davon ab) oder mit einem weiteren Motiv überdeckt werden. Tattoo-Enthusiasten lassen sich mittlerweile sogar die Augäpfel tätowieren. Das Monströse wird unaufhaltsam zur neuen Norm.  

Weltweite Vorgänger 

Eine unübersehbare Zahl ethnologischer Bücher und Forschungsartikel widmet sich dem Phänomen der Körpermodifikation. „Was einen Menschen vom Tier unterscheidet, ist seine bemalte Haut“, berichtet schon Claude Lévy-Strauss in seinem Klassiker „Traurige Tropen“ über den brasilianischen Stamm der Caduveo. Ob in Nordafrika oder auf den westindischen Inseln, am Polarkreis oder im Sudan, im Dschungel oder in den Wüstenoasen – menschliche Gemeinschaften praktizierten und praktizieren, völlig unabhängig voneinander, die künstliche Verformung des menschlichen Körpers und seiner Epidermis. In zumindest einem Aspekt lassen sich die Halsspiralen der birmanischen Padaung-Frauen mit den rituellen Tätowierungen („Tautau“) der Maori-Krieger vergleichen. Beide sind ästhetische Überhöhungen des Körpers. Kultur überformt Natur. 

Das Tätowieren ist zudem ein sehr alter Brauch. Schon die antiken Krieger der Skythen, Kelten und Pikten färbten ihre Haut, wie unter anderem historische Mumienfunde belegen. Literarisch legendär ist zudem die Figur des gesichtstätowierten Harpuniers Queeqeg in Melvilles Roman „Moby Dick“ (1851). Melville hatte sich von einem zeitgenössischen Reisebericht über Neuseeland und seine kannibalischen Ureinwohner inspirieren lassen.  
 
Als kultisches Ritual ist das Tätowieren tief in ethnischen Traditionen verankert. Die Symbole auf der Haut transportieren keinen individuellen, sondern einen spirituellen Sinn. In Äthiopien ließen sich die orthodoxen Christen der Tigray ein Kreuz auf die Stirn tätowieren, um sich von den Ungläubigen zu unterscheiden. Heute lassen sich junge Türken gerne einen Halbmond auf den Handrücken stechen.  
 
Es geht nicht um Originalität, sondern um Wiedererkennung und Zugehörigkeit. Im ethnologischen Sinne sind Tätowierungen nichts anderes als ästhetische Codierungen von Gruppenzusammenhalt, Status, Geschlecht und Religion. Sie folgen einer kollektiven Ordnungsvorstellung. Die Gruppe und ihre Kosmologie ist alles, der Einzelne nichts. 

Irreversibel gezeichnet 

Europa hingegen folgte, was das Tätowieren betrifft, einer gänzlich anderen Tradition. Der berühmt-berüchtigte italienische Kriminalist Cesare Lombroso (1835–1909) hielt Tätowierungen für ein Unterschichtenphänomen, angesiedelt zwischen Berufsverbrechertum und Prostitution. Tätowierte Menschen waren, im Wortsinn, Gezeichnete („Stigmatisierte“), die ihr negatives Erkennungsmerkmal offen zur Schau trugen. So wurden Deserteure der britischen Armee noch im 19. Jahrhundert mit einem weithin sichtbaren „D“ für „deserter“ tätowiert. Russischen Delinquenten in Sibirien wurden zu Zarenzeiten die Nasenflügel abgeschnitten, um eine Flucht unmöglich zu machen. Das sichtbare Erkennungszeichen ist allemal wirkungsvoller als Eisenketten und Fußfesseln.  

Doch auch europäische Hocharistokraten ließen sich bisweilen chinesische Drachen, Rosenblüten, Anker oder Raubkatzen unter die Haut stechen. Mitglieder des amerikanischen Geldadels und hochrangige US-Politiker entwickelten ebenfalls eine diskrete Neigung zu Tätowierungen. Der Spitzenbeamte George P. Shultz, langjähriger Außenminister unter Ronald Reagan, trug ein Tiger-Tattoo auf seiner – pardon! – Hinterbacke, eine Erinnerung an seine Alma Mater in Princeton. 

Bis Ende des 20. Jahrhunderts gehörten Tätowierungen in der westlichen Welt überwiegend zu marginalisierten Gesellschaftsgruppen wie Seeleuten, Vagabunden, Angehörigen des Rotlicht- und des kriminellen Milieus. Die sogenannte Knastträne ist bis heute sprichwörtlich geblieben. Das Tätowieren der Extremitäten, etwa der Hände und Finger, war lange Zeit Schwerverbrechern vorbehalten. Unvergesslich sind die jeweils mit „Love“ und „Hate“ tätowierten Hände von Robert Mitchum, der in dem düsteren Filmklassiker „The Night of the Hunter“ von Charles Laughton einen Mörder spielt.  

In der wirklichen Welt trugen typischerweise bloß die Hell’s Angels, Fremdenlegionäre und Exzentriker mit einer Liebe für Ostasien mehr oder weniger auffällige Tätowierungen. Kurzum, nur eine verschwindend geringe Minderheit fand in Europa Gefallen an dieser Art der ostentativen Körpermodifikation.  

„I want it all“ 

Seit der Jahrtausendwende jedoch diffundieren Tätowierungen aus den gesellschaftlichen Rändern und Niederungen in den kulturellen Mainstream. Der Ruch des Underdogs ist längst einem sozial kompatiblen Massengeschmack gewichen. In den Vereinigten Staaten soll mittlerweile über die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung tätowiert sein, behauptet zumindest die aktuelle Ausgabe der soziologischen Fachzeitschrift Deviant Behavior. In manchen Bezirken deutscher und europäischer Großstädte verhält es sich, zumindest nach Augenschein, kaum anders.  

Die Vielzahl der Motive und Stilrichtungen lässt sich nur annähernd wiedergeben: exotische Ornamente und schamanische Symbole, Frakturschrift und Totenkopf, Nattern und Kampffische, derb-burleske Szenen und segnende Heilige, Würfel und Spielkarten, Ritter und Madonnen, dazu jede Menge Schwerter, Streitäxte und Eiserne Kreuze. Auch Raubtiere, Schmetterlinge und Delphine, kurz gesagt, alles, was Flora und Fauna im globalen Maßstab aufzubieten haben, wird – je nach persönlichem Gusto – als Tattoo bildhaft verewigt.  

Ja, die menschliche Haut ist eine einzige, große Leinwand, doch was es dort neuerdings zu sehen gibt, grenzt zumeist ans Tragikomische. Die bildliche Darstellung der eigenen Lebenserzählung wirkt bei näherem Betrachten bloß wie ein Flickenteppich, ausgefranst und disparat. Die waghalsige Beliebigkeit der Motive führt zu einem psychedelischen Gesamtbild. Wie Tentakel kriechen die Tätowierungen aus Ärmel und Hemdkragen, hinein ins Gesicht und auf den Handrücken. Der Drang zur Selbstpreisgabe ist nicht zu bremsen, das Persönliche und Intime wird auch auf der eigenen Haut öffentlich in Szene gesetzt. Nur ist diese Darstellung nicht momentan, sondern permanent. Möglichst auffallend und zugleich seltsam einfallslos, Tätowierungen sind Spiegel der vorherrschenden Mentalität und Lebensgestaltung, ängstlich und unersättlich zugleich.  

Der unfreiwillige Exzess  

Wenn sich italienische Fußballprofis einen Gladiator auf die Wade stechen lassen, entspricht dies exakt der zeitgemäßen Umdeutung ihres Berufsstandes und lässt sich ohne Weiteres nachvollziehen. Was aber ist von der Vielzahl von Mandalas, Ginko-Blättchen, Initialen und Privatmythologien zu halten, die auf Gliedmaßen und Oberkörpern zur Schau gestellt werden? Die Hypertrophie der privaten Mythologeme („den Buddha habe ich mir auf Bali stechen lassen, den Rosenkranz in Madrid“) grenzt fast schon an Monomanie. Die Haut als Leinwand wird zumeist für gewaltsame Horror- (Totenschädel) und schmalzige Liebesgeschichten (Herz und Pfeil, Engel und Eroten) verwendet. Liebe und Tod, das reimt sich gut zusammen, wie schon die deutschen Barockdichter wussten. 

Gelegentlich liest man, dass Tätowieren süchtig mache. Nicht jeder, der ein Glas Wein trinkt, wird zum Wermutbruder, doch gibt es sicherlich innere Affinitäten und Dispositionen. Für das Exzessive findet sich immer eine Erklärung. Dennoch sind der orgiastischen Tätowierlust natürliche Grenzen gesetzt. Menschliche Haut ist, zum Glück, endlich. 

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