Die letzten 24 Stunden von Wladimir Kaminer - Auf den Tod möchte ich auf keinen Fall verzichten

Der Tod kommt immer ungelegen. Das hat Wladimir Kaminer bei Bekannten von ihm bereits erlebt. Hier erklärt er, warum ihn das nicht in Stress versetzt, er sogar keinesfalls auf den Tod verzichten will.

Die letzten 24 Stunden von Wladimir Kaminer werden stark den 24 Stunden davor ähneln / Maurice Weiss
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Autoreninfo

Nadine Emmerich ist freie Journalistin.

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Wladimir Kaminer ist Autor von „Russendisko“ und wurde 1967 in Moskau geboren, seit 1990 lebt er in Berlin. Er selbst sagt, er sei privat Russe, beruflich deutscher Schriftsteller. 2021 erschien sein Buch „Die Wellenreiter“ über Deutschland in der Pandemie.

Kürzlich ist mein Veranstalter, mit dem ich 20 Jahre unterwegs war, auf dem Fußballfeld gestorben. Am Montag wollte er zu einer Antistress­therapie gehen, sonntags war er noch Fußball spielen. Er machte Dehnübungen und fiel tot um. Das ist für mich ein Beweis dafür, dass der Mensch keine klare Linie zwischen Geburt und Tod hat und dann mit einem schicken Trumpf den letzten Tag gestaltet.

Nicht mal Selbstmörder können sicher sein, dass ihr Plan aufgeht. Mein Nachbar in Moskau war todkrank, die Ärzte gaben ihm drei Monate, aber er wollte sich nicht quälen. Er bereitete alles vor, um freiwillig eher zu gehen. Als er mit der Organisation fertig war, starb er im Bett mit seiner Sekretärin an einem Herzinfarkt. Jeder Versuch einer Planung ist also lächerlich. 

Kein Grund zum Stress

Aristoteles oder jemand anderes der alten Griechen hat gesagt: Wenn ich Fußball spiele und weiß, dass ich bald sterbe, werde ich weiter Fußball spielen. Auch mein letzter Tag wird sich nicht groß von anderen Tagen meines Lebens unterscheiden. Am frühen Morgen gehe ich in den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Berlin-Prenzlauer Berg. Menschen, die im Kreis laufen, haben unterschiedliche Absichten, was sie mit sich selbst und mit der Welt vorhaben. Das ist immer sehr schön zu beobachten.

Dann frühstücke ich. Ich schneide Zitronen ganz fein, vermische sie mit Honig und trinke dazu grünen Tee. Danach lese ich die Weltnachrichten und überlege meine Geschichte weiter. Ich dokumentiere ja fortlaufend, worüber ich nachdenke. 

Irgendwann sitze ich im Zug und fahre zu Menschen, die auf mich warten. Für sie erzähle ich Geschichten oder mache Musik. Wohin ich fahre, ist egal, der Zug ist für mich zu einem Ort des Denkens und der kreativen Arbeit geworden – auch wenn das klingt wie Werbung für die Deutsche Bahn

Ich möchte nicht, dass meine Familie bei mir ist. Man kommt allein auf die Welt und verlässt sie allein. Meine Familie spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben – aber nicht in meinem Tod. 

Von der Wiege bis zur Bahre ...

Die Deutschen nehmen den Tod als bürokratische Angelegenheit. Wenn jemand stirbt, wird zuerst sein Onlinebanking abgeschaltet. Dann werden Erbscheine ausgestellt, es muss geregelt werden, ob jemand auf der rechten oder linken Seite begraben wird. Die russische Sicht ist anders. Dort ist der Tod durch die Lebensbedingungen einer nicht demokratischen Gesellschaft ständiger Begleiter. Schauen die Russen nach unten, können sie Haie sehen. In einer solchen Situation nimmt man den Tod nicht ernst. 

Mein Blick darauf ist philosophisch. Ohne die Gewissheit des Todes würden wir uns niemals anstrengen. Ohne Tod keine Leidenschaft. Auf den Tod möchte ich auf keinen Fall verzichten. Das Thema macht mich nicht traurig, weil ich zu den Menschen gehöre, die an den unsterblichen Geist und das Leben danach glauben. 

Jeder hat im Leben sein Spiel, meins ist das Aufschreiben. Ich werde wohl vor dem Computer sterben. Mir gefällt aber auch das Fußballfeld, auch wenn Fußball keine Leidenschaft von mir ist. Ich wünsche mir, im letzten Moment wachsam zu sein. Ich möchte jede Einzelheit des Prozesses behalten, damit ich danach darüber schreiben kann.
 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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