Die 500 wichtigsten Intellektuellen - Die Denker lösen die Dichter ab

Um öffentlich gehört zu werden, braucht es Substanz und Kontinuität. Daran scheitern auch kluge Köpfe. Der Siegeszug der Ökonomen und Mediziner zeigt aber, dass das Ranking der 500 wichtigsten Intellektuellen auch von der gesellschaftlichen Bedeutung bestimmter Disziplinen abhängt

Sein Aufstieg markiert den Stabwechsel von der Literatur zur Philosophie: PeterSloterdijk / picture alliance
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Autoreninfo

Max A. Höfer ist freier Journalist und lebt in Berlin. Zuvor leitete er das Politikressort von Capital und war anschließend bis 2009 Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

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Deutschland ist im Umbruch, und das wird auch im neuen Cicero-Ranking der 500 einflussreichsten Intellektuellen sichtbar. Das beginnt mit dem Austausch der Eliten: Mit 125 Neueinsteigern verbuchen wir 2019 eine Erneuerungsquote von 25 Prozent – so viel wie noch nie. Auch eine leichte Verjüngung kann vermeldet werden: Das Durchschnittsalter der Top 100 fiel von 65 Jahren auf 64.

Spannend sind die inneren Verschiebungen: Verlierer sind vor allem die Publizisten, die weniger stark in der intellektuellen Elite vertreten sind und insgesamt schwächere Platzierungen erreichen. Hier schlägt sich die Krise der Medien und des Journalismus nieder. Auch die Schriftsteller sind schwächer als sonst repräsentiert. Literatur und Publizistik waren bislang tonangebend in der geistigen Landschaft Deutschlands. Sie werden es wohl auch weiterhin bleiben, dramatisch sind die Rückgänge nicht, aber ihre Dominanz schwindet. Konkurrenz ist ihnen in Bereichen erwachsen, wo man es nicht vermutet hätte: bei Naturwissenschaftlern, Medizinern und Ökonomen.

Der Siegeszug der Wissenschaftler 

Die Naturwissenschaftler und Ökonomen konnten ihre Anzahl im Ranking um gut ein Drittel erhöhen. Bislang bevölkerten sie eher die Mittelgebirge und die Tiefebenen der geistigen Landschaft, nun sind einige wie der Neurologe Manfred Spitzer (Platz 23) und der Hirnforscher Gerald Hüther (29) ganz an die Spitze vorgedrungen. Zwei Klimatologen, Hans-Joachim Schellnhuber (110) und der Neueinsteiger Stefan Rahmstorf (155), zeigen den Bedeutungsgewinn der globalen Umweltthematik. Auch bei den Ökonomen sind die Aufsteiger vor allem Autoren, die sich globalen Fragen widmen. Neben dem Urgestein Hans-Werner Sinn (8) sind nun insgesamt fünf Ökonomen unter den Top 30: Der EZB-Direktor Jens Weidmann (14), Sinns Nachfolger im Münchner ifo-Institut Clemens Fuest (17), der Berliner DIW-Chef Marcel Fratzscher (21) und als Neueinsteiger auf Rang 30 Klaus Schwab, dessen Davoser World Economic Forum sich zu einem Thinktank entwickelt hat, der beispielsweise den UN-Migrationspakt maßgeblich mitgestaltete. Mit Ottmar Edenhofer (54) und Claudia Kemfert (93) sind noch zwei Umweltökonomen unter den Top 100.

Beeindruckend ist der Vormarsch der Neurowissenschaftler. Neben Hüther und Spitzer haben Gerhard Roth (32) und Wolf Singer (195) die Debatten um die Bedeutung der Hirnforschung seit jeher wesentlich mitbestimmt. In ihrem Gefolge gibt es weitere Autoren, wie etwa der Psychologe Niels Birbaumer (341), der mit „Denken wird überschätzt“ auch im Genre des populären Sachbuchs reüssierte. An diesen Autoren kann man erkennen, wie ausschlaggebend für den Erfolg in der öffentlichen Debatte wortmächtige Meinungsführer sind, die den Schritt über Fachjargon und Fachjournale hinaus wagen und sich allgemein verständlich ausdrücken können.

Darm mit Charme 

An dieser Fähigkeit hat es den Naturwissenschaftlern bislang gemangelt. Die Hirnforscher beweisen nun, dass das nicht ewig so sein muss. Und ausgerechnet Informatiker und Forscher, die im weiteren Sinn mit künstlicher Intelligenz zu tun haben, scheinen ihrem Vorbild zu folgen. Einen Informatiker gab es unter den Top 500 noch nie. Nun sind mit Jürgen Schmidhuber (254), Dirk Helbing (328), Wolfgang Wahlster (363), Bernhard Schölkopf (428) und Sabina Jeschke (463) gleich fünf im Ranking vertreten.

Ihren Einzug ins Ranking halten die Mediziner. Endlich, möchte man ausrufen, denn mit dem Arzt und Bestsellergaranten Manfred Lütz (213) und dem prominenten Dietrich Grönemeyer (433) waren bislang lediglich zwei Ärzte unter den Top 500. In den Debatten über gesundes Leben, gesunden Schlaf, Bioethik, Sterbehilfe und so weiter fehlten den Medizinern bislang die bekannten Wortführer. Im aktuellen Ranking sind gleich zehn Angehörige der Heilberufe vertreten, darunter der streitbare Michael Winterhoff (294) und die erfolgreiche „Darm mit Charme“-Autorin Giulia Enders (211). Bei ihr oder auch beim Kinderarzt Herbert Renz-Polster (486) zeigt sich die wachsende Bedeutung der sozialen Medien. Renz-Polster etwa führt einen beliebten Blog, auf dem er zu aktuellen Kontroversen über Erziehung, Work-Life-Balance et cetera Stellung nimmt. Diese Onlinewelt wird eher selten vom Journalismus wahrgenommen, ist aber gerade im medizinischen Bereich inzwischen oftmals professionell gemacht.

Stabwechsel von der Literatur zur Philosophie

Peter Sloterdijk hat 2019 Martin Walser (4) als Deutschlands einflussreichsten Intellektuellen abgelöst. Es ist auch ein Stabwechsel von der Literatur zur Philosophie, die von keinem anderen wie dem brillanten Stilisten Sloterdijk besser hätte vollzogen werden können. Platz zwei geht an Jürgen Habermas, den Nestor und sicherlich meistzitierten Philosophen der Gegenwart. Die kleine Gruppe der Philosophen ist aktuell auf 29 Personen angewachsen. Das liegt zum einen daran, dass sie über exzellente Autoren verfügt wie Richard David Precht (28), Rüdiger Safranski (31), Kurt Flasch (176) und neuerdings Wolfram Eilenberger (347). Das intellektuelle Spektrum ist zudem sehr breit, es reicht von Rolf Dobelli (86) über Robert Pfaller (367) bis zum Shootingstar der Szene Markus Gabriel, der sich auf Platz 160 katapultierte.

Typisch deutsch, dass die Dichter jetzt von den Denkern abgelöst werden? Sicherlich, zumal Sloterdijk auch noch eine andere deutsche Tugend repräsentiert, die Voraussetzung ist, um im Intellektuellen-Ranking aufzusteigen: unermüdliche Produktivität. Schließlich klagen seine Fans, dass sie gar nicht so schnell lesen können, wie der sloterdijksche Genius schreibt.

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