Der Flaneur - Die Antiquiertheit der Hand

Dass der Händedruck durch Corona allmählich aus dem Leben verschwunden ist, haben viele mitbekommen. Doch unser Kolumnist Stefan aus dem Siepen hat noch ganz andere gegenwärtige Fälle entdeckt, in denen die Hand ihre Bedeutung verliert.

Die moderne Technik lässt die kräftige Pranke zum zarten Pfötchen verkümmern
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Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Eine Devise des englischen Gen­tlemans lautet: „Ich gestatte nur drei Menschen, meinen Körper zu berühren: meinem Arzt, meinem Schneider und meiner Frau.“ Das klingt hübsch und manieriert, ist aber nicht mehr zeitgemäß. Die Ärzte fassen ihre Patienten immer seltener an, bedienen sich technischer Methoden, bei denen die Berührung kaum noch eine Rolle spielt. Den Schneider können sich selbst die meisten Gentlemen nicht mehr leisten; und auch wenn sie noch nicht online kaufen, dürften sie im Ladengeschäft von den Verkäufern nur in seltenen Fällen berührt werden. Was die Ehefrau betrifft: Immer weniger Männer sind verheiratet, und immer mehr führen ein Singledasein. Also: Der Gentleman scheint unberührt durchs Leben zu gehen.

Die Corona-Zeit ist vorbei, doch in unserem Verhalten hat sie einige Spuren hinterlassen. Viele Menschen achten nach wie vor darauf, andere nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen. Vor allem dem guten alten Händedruck suchen sie aus dem Weg zu gehen. Es scheint, dass sie die Gelegenheit nutzen, um eine Form der Begrüßung, die ihnen insgeheim schon immer unangenehm war, unter einem einleuch­tenden Vorwand loszuwerden. Und man kann es ihnen nicht verargen! Wer möchte schon gern zum schweißnassen Händedruck zurückkehren? Oder zum fischartig schlaffen, zum brachial kraftvollen, zum gefühlvoll überlangen, zum tantenhaft tätschelnden? Die Epidemie bietet die einmalige Chance, uns derlei künftig vom Hals zu halten oder vielmehr von der Hand. Danke, Corona!

Die gezähmte Hand

Wohin man schaut, überall ist die Hand auf dem Rückzug. Besonders die Entwicklung der Technik macht sie zunehmend überflüssig, verurteilt sie zur Arbeitslosigkeit. Man nehme etwa das Autofahren: Immer mehr Dinge vollziehen sich automatisch, kaum noch etwas gibt es, für das man die Hand benötigt. Unvorstellbar weit liegt die Zeit zurück, in der man mit der rechten Hand einen Schaltknüppel bediente: Das Automatikgetriebe ist selbstverständlich geworden, selbst Firmen wie Porsche und Ferrari bieten kein einziges Modell mit Handschaltung mehr an. Wenn das autonome Auto da ist, wird sich auch noch das Lenkrad von allein bewegen. Die zentrale Beschäftigung des Deutschen kommt ohne die Hand aus – ein Schlag für diesen Körperteil, von dem er sich wohl kaum erholen dürfte. 

„Press once, and gently.“ Ein Schild mit dieser Aufforderung sah ich letztens in einem Londoner Hotel. Es hing neben den Türen der Aufzüge und sollte die Gäste, die per Knopfdruck den Lift herbeiholten, zu schonungsvollem Verhalten ermahnen. Das rief mir zu Bewusstsein, dass die Hand selbst da, wo sie sich noch betätigen darf, immer mehr an die Kandare genommen wird. Wer zum Beispiel einen Computer bedient, muss sich auf ein sanftes Tippen, hauchartiges Wischen mit den Fingerkuppen beschränken; eine eigentliche „Bewegung“ findet nicht mehr statt, press gently ist fast schon zu viel!

 

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Das weckt sehnsüchtige Erinnerungen. Technische Geräte hatten einstmals Räder zum Drehen, Knöpfe zum Drücken, Hebel zum Umlegen. Man konnte sich beherzt, als ein Mensch aus Fleisch und Blut, an ihnen auslassen. Und wenn man gelegentlich schlecht gelaunt war, durfte man ihnen sogar einen Schlag versetzen, wenn nicht gar einen Fußtritt. Wer hätte in seinem Leben nicht schon einmal, während er vor einer Aufzugstür wartete, in einem lustvollen Anfall von Wahnsinn dutzendfach auf den Knopf gedrückt?

Das alles wird uns jetzt genommen. Die Technik domestiziert die Hand, doch was mit den Aggressionen geschehen soll, die nicht mehr abgebaut werden dürfen – das sagt sie uns nicht.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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