Der Fall Nemi El-Hassan - Verdrängt und vergessen?

Wer sich für die Bürgerrechte von Palästinensern einsetzen will, sollte dafür nicht permanent auf die Nazi-Zeit oder auf den Holocaust verweisen. Und sich vor allem nicht in Gesellschaft von Antisemiten und Verharmlosern der Judenvernichtung begeben. Es reicht dann auch nicht, hinterher zu sagen, man habe einen Fehler begangen.

Menschen nehmen an einer anti-israelischen Demonstration anlässlich des Al-Kuds-Tags 2017 in Berlin teil / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

So erreichen Sie Ulrike Moser:

Anzeige

Wohlwollend betrachtet könnte man sagen, sie war jung. Aber eben auch nicht allzu jung, nämlich 19 Jahre alt und damit durchaus mündig. Die Rede ist von der Journalistin und Ärztin Nemi El-Hassan, die vom November an beim WDR das Wissenschaftsmagazin „Quarks“ moderieren sollte. Der WDR hat den geplanten Start nun vorerst ausgesetzt, nachdem die Bild-Zeitung bekannt gemacht hatte, dass El-Hassan 2014 an einer antisemitischen Demonstration am Al-Kuds Tag in Berlin teilgenommen hat.

Al-Kuds, das steht im Arabischen für Jerusalem. 1979 hat Ayatollah Khomeini den Al-Kuds-Tag zum Ende des Fastenmonats Ramadan ins Leben gerufen, um an die Besetzung Ost-Jerusalems durch Israel während des Sechstagekrieges 1967 zu erinnern. Und um zur Eroberung Jerusalems und zur Zerstörung Israels aufzurufen. Extremistische muslimische Verbände nutzen die Demonstrationen am Al-Kuds-Tag, um gegen Juden zu hetzen, gemeinsam mit Neonazis und anderen Israelfeinden. Auf der Demonstration in Berlin, an der El-Hassan 2014 teilgenommen hat, waren die Parole „Israel vergasen! “ zu hören, ebenso „Sieg-Heil“-Rufe. „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf’ allein“, skandierten Teilnehmer. Man muss sich die Gesellschaft, in die man sich begibt, schon zurechnen lassen. Auch wer mit lauteren Absichten an einer solchen Veranstaltung teilnimmt, macht sich gemein.

Anstoßerregende These

Nun wird in den sozialen Netzwerken zudem der Screenshot eines Tweets geteilt, dem El-Hassan auf Twitter einen Like verpasst hat. Nach einem Bericht der taz stammt er aus demselben Jahr, in dem El-Hassan an der Demonstration teilgenommen hat. Verifizieren lässt sich das nicht. Zumal El-Hassan ihre Social-Media-Profile gesperrt hat.

„Ich rufe Deutschland auf, Reparationen an alle Palästinenser zu zahlen, die indirekte Opfer des Holocausts sind“, heißt es auf Englisch in diesem Tweet. In ihm offenbart sich ein Geschichtsverständnis, das in der arabischen Welt und im islamischen Diskurs weit verbreitet ist: Palästinenser seien Folgeopfer von Antisemitismus und nationalsozialistischen Rassenwahns geworden. Eine These, die bei vielen Juden Anstoß erregt, weil sie den Holocaust relativiert, indem sie die Palästinenser zu seinen Opfern zählt.

Man mag die Politik Israels gegenüber den Palästinensern scharf kritisieren, die Benachteiligungen beklagen, die sie während des seit mehr als 70 Jahren währenden Konflikts zwischen der arabischen Welt und Israel erfahren haben. Aber der Vorwurf des Genozids, die Unterstellung, was die Deutschen den Juden angetan hätten, fügten sie nun selbst den Palästinensern zu, ist infam. Vor allem der Vergleich mit dem realen Holocaust ist empörend und gegenüber Juden zutiefst verletzend.

Die bizarre Analogie lässt zudem außer Acht, dass es eine befremdliche Allianz von Nationalsozialisten und Muslimen gab. Zwar hatte Hitler Araber in „Mein Kampf“ für rassisch minderwertig erklärt. Von dieser abschätzigen Haltung rückten die Nazis allerdings seit 1936 aus pragmatischen Gründen ab, als sich ihr Blick bereits auf Kriegsvorbereitungen und mögliche Bündnispartner an den Rändern Europas richtete. Während des Krieges lobte Hitler den Islam oft als starke, aggressive Kriegerreligion. „Die mohammedanische Religion wäre für uns viel geeigneter als ausgerechnet das Christentum mit seiner schlappen Duldsamkeit“, so Hitler in einem seiner berüchtigten Monologe. Die Aussage „Der Islam ist unserer Weltanschauung sehr ähnlich“ wird SS-Führer Heinrich Himmler zugeschrieben, der am Islam angeblich besonders den Märtyrerkult schätzte.

Willkommene Propaganda

Einen Verbündeten fanden die Nazis in Amin al-Husseini. Als Mufti von Jerusalem und damit höchster islamischer Würdenträger in Palästina war er ein führender Repräsentant der islamischen Welt. Als al-Husseini 1941 nach Berlin kam, war das für die Nazis willkommene Propaganda: Der Großmufti sollte in die arabische Welt hinein für den Nationalsozialismus werben. Husseini rekrutierte für die SS Muslime auf dem Balkan. Muslime kämpften an allen Fronten, in Stalingrad, in Warschau, bei der Verteidigung Berlins.

Al-Huseini suchte die Nähe zu den Nazis auch aus ideologischen Gründen: Er war extremer Antisemit und verhinderte die Emigration jüdischer Flüchtlinge nach Palästina, wohlwissend, dass er sie damit der Vernichtung ausliefern würde. Die Hoffnungen, die Al-Husseini mit seiner Kollaboration verband, erfüllten sich gleichwohl nicht: Hitler gab ihm keine politische Zusicherung, vor allem keine Garantien für einen Palästinenser-Staat. Seine Allianz mit den Nationalsozialisten, sein Judenhass schadeten ihm letztlich mehr, da sie die Anliegen der Palästinenser bei den Siegermächten diskreditierten.

Die wichtigste und umstrittenste Frage aber, die hinter dem Tweet steht, ist, ob der Holocaust an den Juden ausschlaggebend für die Gründung des Staates Israel war. Eine These, die deutsche Linke und arabische Intellektuelle immer wieder variiert haben.

Wachsende Spannung

Angeblich waren es die deutschen jüdischen Auswanderer, die seit Beginn der 30er-Jahre vor den Nazis flüchteten, welche es den Juden in Palästina erst ermöglichten, sich gegen die Araber zu behaupten. Zwar galt die berühmte fünfte Alija (Auswanderungswelle) zwischen 1932 und 1938 auch den Zeitgenossen im Palästina der 30er-Jahre als die Alija der Jekkes, die „deutsche“ Alija. Mit jüdischem Humor wurden diese Einwanderer oft gefragt: „Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?“ Tatsächlich aber stammten von den etwa 200.000 Juden, die in dieser Zeit nach Palästina immigrierten, 75 Prozent aus europäischen Ländern, die (noch) nicht zum Herrschaftsbereich Nazi-Deutschlands gehörten. Etwa 40 Prozent waren polnische Juden, die vor Rechtsextremismus und Antisemitismus in ihrer Heimat flohen.

Ausgerechnet als sich die Verfolgung der deutschen Juden mit der Pogromnacht im November 1938 verschärfte, schlossen sich die rettenden Tore für eine Einwanderung. 1939 senkte die britische Regierung drastisch die Einwanderungsquoten, um die wachsenden Spannungen zwischen Arabern und Juden zu mindern. Während des Krieges gelang nur etwa 16.000 bis 20.000 Juden die Flucht nach Palästina.

Zukunft unklar 

Aber konnte die Welt nach dem Holocaust den Juden einen Staat Palästina noch verweigern? Stünde dann nicht Hitler zumindest indirekt hinter der Staatsgründung? Großbritannien hatte den Juden 1917 mit der Balfour-Erklärung eine Heimstatt in Palästina versprochen. Doch mit Rücksicht auf die Araber versuchte es auch nach 1945, jede weitere Einwanderung von Juden strikt zu verhindern. Aus ebendiesen Gründen stimmte Großbritannien noch im Palästina-Ausschuss der UN-Vollversammlung gegen eine Teilung Palästinas. Der Teilungsplan, der am 29. November 1947 beschlossen wurde, sah keineswegs vor, nur den Juden einen Staat zu gewähren, sondern Juden und Palästinensern. Israel akzeptierte den Beschluss, nicht aber die Araber. Hätten die arabischen Staaten damals zugestimmt, gäbe es neben dem jüdischen Staat wohl längst einen arabischen in Palästina.

Wer sich für die Beachtung der Bürgerrechte der Palästinenser einsetzen will, braucht und kann zur Begründung nicht auf die Nazi-Zeit oder den Holocaust verweisen. Und sollte sich nicht in Gesellschaft von Antisemiten und Verharmlosern der Judenvernichtung begeben. Nemi El-Hassan hat sich mittlerweile in einem Gespräch mit dem Spiegel geäußert. Sie sagt, es sei ein Fehler gewesen, auf die Demonstration zu gehen. Aber auch, dass sie diesen Teil ihrer Geschichte verdrängt habe. „In meiner Erinnerung habe ich lange geglaubt, nur Dinge wie ‚Free Gaza‘ gerufen zu haben.“

El-Hassan hat sich inzwischen klar von jeder Form von Antisemitismus distanziert. Wie ihre berufliche Zukunft aussehen wird, hängt von ihrer Aufrichtigkeit ab. Um ein Wissenschaftsmagazin zu repräsentieren, sind Glaubwürdigkeit und Klarheit, Nachvollziehbarkeit und Gründlichkeit, unabdingbare Voraussetzung.

Anzeige