Ehemaliger DDR-Bürgerrechtler Frank Richter - „Wir brauchen einen Runden Tisch“

Der einstige Bürgerrechtler Frank Richter spricht im Interview über die Folgen der Wiedervereinigung, den Sinn des Scheiterns und die Suche nach Zukunft. Ohne es zu wollen, so sagt er, würden die Rechten demokratischen Geist und die Haltung von Citoyens provozieren.

Frank Richter: „Wir brauchen eine Orientierung, dann kommen wir weg von den Negativdebatten“ / Stephan Floss
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Als Mitglied der Gruppe der 20 war der Theologe Frank Richter an der Bürgerbewegung in Dresden und an der friedlichen Revolution von 1989 beteiligt. Später wurde er Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Seit 2019 ist er Mitglied der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag und kulturpolitischer Sprecher. 2019 erschien sein Buch „Gehört Sachsen noch zu Deutschland?“ (Ullstein).

Herr Richter, wie wird man eigentlich Bürgerrechtler? 

Frank Richter: Ich habe mich selbst nie als Bürgerrechtler bezeichnet. Das Wort gab es in der DDR nicht. Das ist eine Zuschreibung, die in den neunziger Jahren entstanden ist. Ich konnte damit leben. Wenn ich aber beschreiben sollte, wie ich mich selbst in der DDR gesehen habe, dann würde ich das Wort „Oppositioneller“ gebrauchen.

Ein anderes, heute leider fast vergessenes Wort ist der „Dissident“. Im einstigen Ostblock bezeichnete es all jene, die mit Václav Havel versucht haben, in der Wahrheit zu leben. Ist es nicht eigentlich schade, dass in der Gegenwart der unterstellten Alternativlosigkeiten der Dissident keine Rolle mehr zu spielen scheint?

Ja, bedauerlicherweise ist dieses Wort tatsächlich aus der Mode gekommen. Ich mag es sehr, aber vielleicht ist es vielen zu akademisch. Die Dissidenten haben es zurzeit nicht einfach. Es ist nicht leicht, den Mittelweg zwischen Extremismus und Gleichgültigkeit zu halten und zu sagen: Lass uns gemeinsam nach der Wahrheit suchen und beieinanderbleiben! 

Das Interessante an dem Wort „Bürgerrechtler“ ist, dass darin das Wort „Bürger“ steckt. Inwieweit gab es diesen bürgerlichen Typus im Sinne des Citoyen, also des aktiven und eigenverantwortlichen Bürgers, im real existierenden Sozialismus?

Das Wort Bürger gab es in der DDR durchaus, auch offiziell. Der Staat hat sich theoretisch nie vollständig davon verabschiedet, auch wenn dabei vieles verlogen war. Neulich habe ich in einem Buch von Sebastian Haffner vom „Doppelstaat“ im Hinblick auf das NS-Regime gelesen. Der Bürger habe zwei Staatlichkeiten gegenübergestanden. Einerseits war da der nationalsozialistische Terrorstaat, der jegliches Handeln sanktionieren konnte, andererseits der Staat, der einen „normal“ als Bürger behandelte, wenn man zum Beispiel eine Ehe scheiden oder eine Erbschaftsangelegenheit klären wollte. Das funktionierte parallel, und das war in der DDR ganz ähnlich. Manchmal frage ich mich, warum wir mit Blick auf die DDR eine solche Differenzierung nur selten hinbekommen und manche meinen, der Stempel „Unrechtsstaat“ würde alles erklären.
 

Frank Richter

Aber war nicht der Citoyen ähnlich wie der Bourgeois ein ideologischer Kampfbegriff?

Die französischen Begriffe waren durchaus bekannt – nicht zuletzt, weil die DDR ja relativ gute Beziehungen zu Frankreich pflegte. Praktisch und alltäglich allerdings gab es wenige Citoyens. Ob das in der alten Bundesrepublik sonderlich anders war, weiß ich nicht. Das Leben eines Citoyens ist mit Anstrengungen, vor allem aber mit Wirksamkeitserfahrungen verbunden. Wenn ich nie erlebe, dass ich mich in der Öffentlichkeit wirksam entfalten kann, dann werde ich das auch nicht lernen. Dann bleibt es totes Wissen. Vielleicht haben die 68er im Westen diesbezüglich positiv gewirkt.

Zumindest hat es Historiker gegeben, die die Studentenproteste von 68 als nachgeholte Revolution interpretiert haben.

Das kann ich nicht beurteilen, als Bürger der DDR habe ich mir den Westen vor allem über die Theorie angeeignet. Was ich aber spannend finde, das sind die zeitlichen Intervalle – der zeitliche Abstand zwischen der Gründung der alten Bundesrepublik und der 68er-Generation sowie der Abstand, den wir heute zwischen der Wiedervereinigung und unserer Gegenwart erleben. Das sind Generationsbrüche. Da geht es um Aneignungsvorgänge. Im Osten geht es aktuell um die Aneignung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der offenen Gesellschaft und der Liberalität. Es ist etwas anderes, ob so etwas von außen über mich kommt oder ob ich es als wertvoll verinnerlicht habe. Insofern bin ich optimistisch. 

Das wäre eine sehr positive Lesart.

Ich bin in der DDR groß geworden, da hat jeder noch seinen Goethe gelesen. Manchmal sage ich mir, die AfD ist die Kraft, die oft das Böse will und hoffentlich das Gute schafft. Ohne es zu wollen, provozieren und produzieren die Rechten demokratischen Geist und die Haltung von Citoyens. Die friedliche Revolution von 1989 war aktiv ja nur von sehr wenigen Bürgern vorangebracht worden. Wenn es 5 oder 6 Prozent der Bevölkerung waren, dann waren es viele. Eine Minderheit hat damals die Mehrheit hinter sich hergezogen. Da braucht es Zeit, bis auch in der Mehrheit das demokratische Bewusstsein erwacht. In Westdeutschland begegnen mir oft Menschen, die die drei Ereignisse friedliche Revolution, Maueröffnung und Wiedervereinigung in einer Art logischem Dreischritt sehen wollen. Aber da gab es keine Zwangsläufigkeit. Es war ein Prozess mit einem offenen Ausgang. Am Anfang wusste man also nicht, wie er endet. 

Aber war es denn nicht auch für die Zeitgenossen so? Lief nicht spätestens im Februar 1990 alles auf die Wiedervereinigung von BRD und DDR hinaus?

Zumindest waren damals die politischen, die ökonomischen und auch die rechtlichen Verhältnisse so übermächtig, dass Alternativen kaum noch eine Chance hatten. Zehntausende Menschen trauten bis in den Februar und März 1990 hinein dem Frieden und den Demokratisierungsprozessen in der DDR nicht und wanderten in den Westen aus. Da man automatisch als Bundesbürger galt, wenn man als DDR-Bürger die Grenze zur Bundesrepublik überschritt, entstand für diese rasch eine prekäre Situation. Ich hatte Gelegenheit, mehrere Gespräche mit Günter Schabowski, dem Mitglied des Politbüros der SED, zu führen. In einem dieser Gespräche sagte er, dass dem Politbüro Ende 1989 klar gewesen sei, dass es praktisch nur noch einen Staat auf der Welt gab, der Interesse am Fortbestand der DDR hatte: die alte Bundesrepublik. Im Westen war den Verantwortlichen nämlich klar, dass, wenn die DDR schnell zusammenbrechen würde, die Bundesrepublik ein Riesenproblem bekäme. In Bonn hatte man also ein realpolitisches Interesse an einem geordneten Übergang.

Und dennoch gibt es die Legende, dass der Termin für die Wiedervereinigung, der 3. Oktober 1990, auf Druck der Bundesrepublik zustande gekommen sei. In Bonn nämlich habe man kein Interesse an einem 41. Jahrestag der DDR gehabt. 

Für diese These fehlen mir die Belege, aber sie ist plausibel. Ich persönlich hatte mir gewünscht, dass zum 41. Jahrestag der DDR, dem 7. Oktober 1990, der frei gewählte Ministerpräsident der DDR dem Bundeskanzler der BRD auf Augenhöhe begegnet wäre. Da wären ganz andere Bilder entstanden. Für die Langzeitwirkung, für das Selbstverständnis der Menschen im Osten und für das Verständnis derer im Westen wäre das besser gewesen.

Damals brannte sich das Wort „Deutschland eilig Vaterland“ ein. Dabei hat es in Ost wie West nicht wenige gegeben, die den schnellen Weg zur Wiedervereinigung kritisch betrachtet haben – denken Sie an Günter Grass, Jens Reich oder viele andere Bürgerrechtler. Besonders die Wiedervereinigung über Artikel 23 GG, also über den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, wurde kritisiert. Würden Sie sagen, dass sich das im Nachhinein tatsächlich als Fehler herausgestellt hat? Hätte man besser eine gemeinsame Verfassung ausarbeiten und vom Volk beschließen lassen sollen, wie es der Artikel 146 GG ja auch vorgesehen hätte?

Im Nachhinein ist man immer klüger. Einige wenige waren schon damals klug. Wir hätten eine Verfassungsdiskussion führen sollen. Im Prinzip hatte es diese ja auch gegeben. Der Runde Tisch in Ostberlin hatte eine Arbeitsgruppe, die einen respektablen Entwurf einer Verfassung der DDR vorgelegt hat. Darin hat es viele partizipative Elemente gegeben, die auch dem Grundgesetz gutgetan hätten. Aber dieser Entwurf wurde von der Volkskammer in einer Schublade versenkt. Wie gesagt, in Anbetracht der politischen und ökonomischen Realität blieb dies Theorie.

Nun ist Realität etwas, das von den Emotionen und dem Unbewussten nicht notgedrungen anerkannt werden muss. Kann es sein, dass diese abgebrochene Verfassungsdebatte zuweilen wie ein Untoter im kollektiven Unbewussten der Deutschen herumgeistert – eine Wunde, die die Identitätsfindung im Osten wie im Westen immer wieder mal störend beeinflusst?

Eines ist zumindest klar: Mit dem Termin der Wiedervereinigung entwickelte sich sukzessive eine neue Identität: die des Ostdeutschen. Den hat es zuvor so nicht gegeben. Die Menschen im Osten erlebten in rasender Geschwindigkeit und kollektiv eine tief greifende ökonomische, kulturelle, rechtliche und gesellschaftliche Transformation. Es entstand der „Ossi“ – und damit zugleich auch der „Wessi“.

Für viele Ostdeutsche war dieser Transformationsprozess ein schmerzlicher. Muss man aber im Nachhinein nicht attestieren, dass dieses Verlieren und Suchen von Identität die Ostdeutschen existenziell in eine bessere Position gebracht hat? Identität entsteht durch Krisen. Am Boden entwickelt sich die Frage, wer ich wirklich bin. Viele Westdeutsche indes bleiben bis heute in einer Abgrenzungsidentität gefangen und verschließen sich einer wirklichen Seinserfahrung.

Viele Menschen im Osten Deutschlands verfügen im dialektischen Sinn tatsächlich über einen Vorteil: Sie haben eine Lernerfahrung gemacht. Leider war diese auch verbunden mit einer Leidens- und Defiziterfahrung. Wenn man über die Ressourcen verfügt, diese zu verkraften, dann kann einen das stärken. Das hat viel mit Resilienz zu tun. Doch was ist mit all denen, die nicht über genügend Resilienz verfügen? Viele von ihnen sind im politischen Fahrwasser der sogenannten neuen Rechten gelandet. 

Und auch die macht sich diese Verfassungsdebatte ja immer wieder zu eigen – sei es bei den Identitären und Reichsbürgern oder jüngst auch bei den Corona-Demonstrationen in Berlin.

Es gibt diese Debatte, sicher. Aber für die allermeisten Menschen ist sie zu abgehoben. Sie beschäftigen sich mit anderen Fragen: Wie hoch wird meine Rente sein? Was ist nach 1990 eigentlich mit mir geschehen? Warum nur sind die Kinder weg, und werden sie wiederkommen? Warum hat das Land seit 1990 über drei Millionen Menschen in Richtung Westen verloren? Werde ich einsam alt werden und einsam sterben? Viele erleben den Osten als Verlustregion, obwohl er natürlich auch viel gewonnen hat.

Letztlich, und das zeigt ja auch der Rückgriff auf die Verfassung von Weimar, hilft am Ende die beste Verfassung nichts, wenn der demokratische Gemeinsinn fehlt.

Da haben Sie recht.

In Gemeinsinn steckt aber auch das Wort „Sinn“. Ist es eventuell das, woran es der deutsch-deutschen Gesellschaft immer mehr mangelt? Jahrestage laden dazu ein zurückzuschauen. Könnte es aber nicht sein, dass uns momentan eher die Zukunft fehlt? Eine Antwort auf die Frage, wo wir als Gesellschaft hinwollen? Der berühmte Psychologe Viktor Frankl hat der Frage nach dem Sinn ja nicht von ungefähr eine große therapeutische Kraft zugeschrieben.

Die Menschen im Osten haben seit 1990 viel gewonnen: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, eine gesunde Umwelt. Aber sie haben eben auch verloren. Und einer dieser Verluste ist der Sinnverlust. Die DDR war ein Konstrukt von Sinn und Sicherheit. Das hat letztlich nicht funktioniert – Gott sei Dank –, aber viele hatten es verinnerlicht. Es gab den Glauben daran, dass das Leben eingebettet ist in eine große Sinnerzählung: Die Menschheit kommt aus archaischen Verhältnissen, ist nunmehr – nach vielen Entwicklungsstufen – im Sozialismus angekommen und läuft weiter in die strahlende Zukunft des Kommunismus. Als Einzelner war man Teil dieser großen Erzählung, einer Erzählung, die einem vermittelt hat, dass das Leben eine Rolltreppe sei, die automatisch nach oben führe. Diese Erzählung, ein Mythos, wurde flankiert von Sicherheit. Die dunkle Seite dieser Sicherheit besichtigen wir in den Stasi-Gefängnissen, die helle Seite waren eine gewisse Bequemlichkeit und die Planbarkeit des Lebens. Der Verlust dieser Erzählung wirkt nach.

Ich würde Ihnen da vollkommen zustimmen, möchte aber zugleich einwenden, dass das Narrativ im Westen ganz ähnlich war – wenn natürlich auch unter Abzug des historischen Materialismus und des kommunistischen Paradieses. Dennoch gab es auch in der alten Bundesrepublik die fast messianische Heilsgeschichte vom permanenten Progress und vom Eingebettetsein in den westdeutschen Wohlfahrtsstaat. Eine Geschichte, die ebenfalls nicht mehr zu funktionieren scheint und die auch unter vielen Westdeutschen zu Enttäuschungen geführt hat. 

Enttäuschungen müssen sein, wenn sie auf Täuschungen beruhen. Ich nenne den untergehenden Mythos des Westens: „Wohlstand für immer durch Wachstum für immer“. Wir sollten uns auf der Grundlage unserer Enttäuschungen zusammensetzen und uns fragen, wie wir weiter miteinander leben wollen. Am Grund angekommen, entwickeln wir eine neue Idee, wo wir hinwollen als Deutsche, als Europäer, als Menschen. Wir brauchen eine Orientierung, dann kommen wir weg von den Negativdebatten, ein neues Forum, einen gesellschaftlichen Diskurs. 

Einen Runden Tisch?

Ja, lassen Sie uns mitten in Deutschland einen Runden Tisch aufstellen. Eine Gruppe dürfen wir dabei nicht vergessen: die Millionen Menschen, die seit 1990 entweder von Ost nach West oder von West nach Ost gezogen sind. Ich kenne das Gefühl, dass es so nicht mehr weitergehen kann. 1989 haben wir uns – nach polnischem Vorbild – an Runde Tische gesetzt und schon bald entstanden neue Ideen. 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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