Corona-Proteste - Europäische Krawallnächte

Die aufgeheizten Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen in den Niederlanden, Belgien und Österreich bergen ein wachsendes Gewaltrisiko. Was ist passiert? Wer sind die Akteure? Und wird es demnächst auch in Deutschland gewaltsame Ausschreitungen geben? Eine Übersicht.

Bei schweren Ausschreitungen in Rotterdam bei einer Kundgebung gegen schärfere Corona-Regeln hat es nach Schüssen der Polizei Verletzte gegeben / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jonas Klimm studierte Interdisziplinäre Europastudien in Augsburg und absolvierte ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

So erreichen Sie Jonas Klimm:

Anzeige

Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

So erreichen Sie Ulrich Thiele:

Anzeige

Niederlande

Am Freitagabend sammelten sich am Rande einer unangemeldeten Corona-Demonstration Hunderte Randalierer in der Rotterdamer Innenstadt, griffen Polizisten an, setzten Polizeiautos in Brand, warfen Steine, zündeten Feuerwerkskörper und hinterließen ein Bild der Verwüstung. Die Polizei setzte scharfe Munition ein, mehrere Demonstranten wurden verletzt.

Bürgermeister Ahmed Aboutaleb sprach hinterher von einer „Orgie der Gewalt“, an der „eine Reihe von Menschen teilnahmen, die nicht die Absicht hatten, sich friedlich zu verhalten, sondern die dort waren, um zu randalieren, die Polizei zu konfrontieren und öffentliches Eigentum zu zerstören“. Polizeichef Fred Westerbeke sagte dem TV-Sender NOS über die gewalttätigen Demonstranten: „Dies sind für mich Kriminelle, die versucht haben, meine Polizeileute zu verletzen oder sogar zu töten.“

Auch in Leeuwarden, Enschede, Groningen und Den Haag kam es in Zuge von Demonstrationen gegen coronabedingte Einschränkungen zu Ausschreitungen, mehrere Nächte in Folge, mit laut Polizeiangaben rund 145 Verhaftungen. Die Krawallexzesse weiteten sich nach Aufrufen in sozialen Netzwerken in der Nacht zum Sonntag aus. Rund 30 Menschen sollen nach Polizeiangaben in der Nacht verhaftet worden sein, die meisten von ihnen in Den Haag. Dort setzte die Polizei auch Hunde und Pferde ein, fünf Beamte seien laut Polizei verletzt worden. Wie konnte es so weit kommen? Und wer sind die Randalierer?

Glaubt man dem stellvertretenden niederländischen Justizminister Ferd Grapperhaus, dann ist der Protest gegen die Idee, den Zugang zu bestimmten Gebieten für ungeimpfte Personen zu beschränken, von Fußball-Hooligans und kriminellen Halbstarken missbraucht worden. Ganz so simpel scheint es allerdings nicht zu sein.

Berichten zufolge handelte es sich bei den Randalierern in Rotterdam um eine Gemengelage verschiedener Gruppen mit unterschiedlichen Motivationen; darunter Fußball-Hooligans, die ein Stadionverbot in Rage versetzt, junge Männer, die nichts zu tun haben, Hafenarbeiter mit niedrigen Löhnen und unsicheren Arbeitsplätzen sowie Menschen, die wütend sind, weil es landesweit an bezahlbarem Wohnraum mangelt. „Das ist ein giftiger Cocktail“, sagte die Abgeordnete Attje Kuiken (Partei der Arbeit). Die geplanten Beschränkungen für Ungeimpfte könnten demnach als Katalysator eines lange angestauten Unmuts gesehen werden. 

Wie in anderen europäischen Ländern ist auch in den Niederlanden eine zunehmende Polarisierung und ein gestiegenes Misstrauen gegenüber der Politik zu beobachten, das sich schon zuvor in regelmäßigen (friedlichen) Protesten ausdrückte, teilweise wegen Kleinigkeiten wie dem Tragen von Masken oder einem Feuerwerksverbot. Doch vor allem die größeren Skandale der jüngsten Vergangenheit dürften ihren Anteil an einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Erschütterung haben. 

Im Januar stürzte die Regierung, weil Zehntausende von Eltern, die meisten mit doppelter Staatsangehörigkeit, zu Unrecht des Betrugs beim Kinderbetreuungsgeld beschuldigt wurden. Die erzwungen Rückforderungen brachten viele Menschen in finanzielle Not. Zudem hat die liberale, aber unlogische Cannabispolitik ein ungeahntes Ausmaß organisierter Kriminalität hervorgebracht. Der Verkauf von Cannabis ist in den Niederlanden erlaubt, der kommerzielle Anbau ist jedoch strafbar, weshalb Coffeeshops ihr Gras von illegalen Dealern beziehen. 

Auch in der Corona-Politik hat die niederländische Regierung in vielerlei Hinsicht versagt. Sie hat als eine der langsamsten Regierungen in Europa mit dem Impfen begonnen, inzwischen hat das Land eine der höchsten Infektionsraten in Europa. Trotzdem haben die Auffrischungen erst spät begonnen. Inzwischen wird eine Notwendigkeit eines vollständigen Lockdowns diskutiert. Angesichts des Versagens der Regierung dürften es nicht nur Verschwörungstheoretiker sein, die entsprechend wütend sind.

Österreich

Es war ein den Österreichern in den letzten 20 Monaten vertraut gewordenes Schauspiel, das sich am vergangenen Freitag in Wien wieder einmal zutrug. Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP), der Nachfolger von Sebastian Kurz, trat gemeinsam mit Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) vor die Presse, um strengere Corona-Maßnahmen zu verkünden. 

Schallenberg und Mückstein teilten mit, dass das Land in einen erneuten, mindestens bis zum 13. Dezember andauernden Lockdown gehen werde, der für Geimpfte und Ungeimpfte gleichermaßen gilt. Zuletzt infizierten sich in Österreich über 15.000 Personen täglich mit dem Coronavirus, in einem Land mit neun Millionen Einwohnern. Außerdem kündigte die österreichische Regierung eine generelle Impflicht an, die ab Februar gelten soll. Auch als Reaktion auf die im Vergleich mit anderen Ländern niedrige Impfquote von gerade einmal 65 Prozent. 

Die Demonstration, die vergangenen Samstag in Wien gegen die neuen Corona-Regeln stattfand, stand zuvor bereits fest. Der Zulauf dürfte jedoch nach Bekanntgabe des Lockdowns und der geplanten Impfpflicht noch zugenommen haben. Rund 40.000 Demonstranten versammelten sich laut Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Wochenende in der österreichischen Hauptstadt, um ihren Unmut über die neuen Corona-Beschränkungen kundzutun. Nehammer betonte, dass die meisten der Demonstranten friedlich geblieben seien, es habe jedoch auch zahlreiche Ausschreitungen gegeben. Auch Journalisten seien angegriffen worden, heißt es. Die Polizei-Bilanz: 400 Anzeigen, mindestens sechs Festnahmen.

Die Wiener Polizei berichtete von einer „aufgeheizten Stimmung“ in Teilen des Demonstrationszuges. Laut einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung fanden sich unter den Demonstranten „Tausende Normalbürger“. Aber eben auch: Impfgegner, Querdenker, Hooligans, Rechtsextremisten. Immer wieder seien die Begriffe „Impfpflicht“ und „Corona-Diktatur“ gefallen.  

Die Galionsfigur der Rechten, FPÖ-Chef Herbert Kickl, hatte unter anderem zur Teilnahme an den Protesten aufgerufen. Er selbst konnte nicht erscheinen, Kickl befindet sich wegen einer Corona-Infektion derzeit in Quarantäne. Deshalb meldete er sich per Videobotschaft bei den Demonstranten und sprach unter anderem von einem „Zeichen gegen diese türkis-grüne Corona-Diktatur und deren Zwangsmaßnahmen“.

Belgien

In der belgischen Hauptstadt Brüssel fand vergangenes Wochenende ebenfalls eine Großdemonstration gegen die Corona-Beschränkungen der Regierung statt. Diese hatte festgelegt, neue Maßnahmen zu erlassen, um den Anstieg der Infektionszahlen zu bremsen. Um in Belgien beispielsweise eine Bar oder ein Restaurant zu besuchen, müssen Gäste künftig ein Corona-Zertifikat vorlegen. Ungeimpfte Personen haben demnach keinen Zutritt mehr. Außerdem müssen Arbeitnehmer nun, wenn möglich, mindestens vier Tage die Woche von zuhause aus arbeiten. 

Laut Polizei beteiligten sich rund 35.000 Personen an dem Demonstrationszug. Die Teilnehmer speisten sich laut Medienberichten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Neben Symbolen rechtsradikaler Organisationen waren auch Regenbogenfahnen zu sehen, heißt es. Die Demonstranten seien zunächst friedlich mit Gesängen in Richtung EU-Zentrale gezogen.

Später allerdings eskalierte die Situation. Aufnahmen zeigen, wie Gewalttätige unter den Demonstranten mit Feuerwerkskörpern auf Polizisten losgehen und brennende Barrikaden errichten. Zudem wurden Fensterscheiben von Polizeiwägen eingeschlagen. Als Reaktion darauf setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein. Insgesamt seien laut Polizeiangaben drei Polizisten verletzt worden, 44 Personen wurden festgenommen.

Und in Deutschland?

Die Gründe für derlei Ausschreitungen sind vielschichtig. Überschneidungen gibt es aber dennoch: Sie alle eskalierten in einem Umfeld aus Polarisierung, Misstrauen gegenüber der Regierung, sozialem Unmut und immer lauter werdenden Verschwörungstheorien. Wird sich also auch Deutschland auf solche Gewaltorgien einstellen müssen?

Ein Hort für Verschwörungstheorien ist der Messengerdienst Telegram. Oliver Janich zum Beispiel hat 160.000 Follower. Seit Beginn der Corona-Pandemie verbreitet Janich regelmäßig Fake News, ruft zu Querdenker-Demonstrationen auf und propagiert einen „Aufstand“. Am Dienstag schrieb er auf seinem Kanal: „Es ist natürlich völlig klar, dass jeder einen Polizisten über den Haufen schießen dürfte, der einen zur Zwangsimpfung schleppt. Und nein, das ist kein Aufruf zur Gewalt, sondern Notwehr. Ich würde es tun.“

Wie der Politikwissenschaftler und Geschäftsführer des Thinktanks „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“ (CeMAS), Josef Holnburger, dem Tagesspiegel sagte, seien Janichs Aussagen nur ein Teil einer Vielzahl von Drohungen und Gewaltfantasien, die dieser Tage unter deutschen und österreichischen Verschwörunsgsideologen und Impfgegnern verbreitet werden. Auch angesichts der rasanten Mobilisierung der Proteste in Wien durch deutsche Akteure der Querdenker-Szene, die zur Teilnahme an den Protesten aufriefen, rechnet Holnburger mit einem Tag X-Szenario für Deutschland – und mit zunehmender Gewalt.

Anzeige