Berichterstattung in der Corona-Krise - „Die Medien haben eine Mitschuld“

Der Medienforscher Stephan Ruß-Mohl wirft den deutschen Medien vor, in der Corona-Krise überzogene Angst geschürt und Druck auf die Politik ausgeübt zu haben. Ein Gespräch über die Zwänge der Aufmerksamkeitsökonomie und was dagegen getan werden muss.

Eine Kunstaktion aus dem Jahr 2020 im „heute journal“ / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Prof. Dr. Stephan Ruß-Mohl, geboren 1950, ist emeritierter Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Universität Lugano. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Streitlust und Streitkunst: Diskurs als Essenz der Demokratie“ im Halem Verlag.

Professor Ruß-Mohl, voriges Jahr haben Sie geschrieben: „Nicht die Regierenden haben die Medien vor sich hergetrieben, wie das Verschwörungstheoretiker so gerne behaupten. Vielmehr haben die Medien mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten.“ Sind die Medien schuld an Lockdowns?
Sie haben eine Mitschuld. Und das ist etwas, was sie partout nicht bereit sind zu konzedieren, worüber ich mich wundere. Der Tenor hat sich natürlich im Laufe der Zeit verändert, die Berichterstattung ist von regierungslammfromm zu vielfältigeren Perspektiven gelangt. Aber gerade in der Anfangszeit schürte allein schon die exzessive Menge an Berichten Panik.

Was genau ist das Problem?
Die bloße Menge ist das primäre Problem. Die Medien sind im Grunde genommen nicht in der Lage, uns vorzuschreiben, was wir denken. Aber sie sind in der Lage, uns sehr stark dahingehend zu beeinflussen, worüber wir nachdenken und womit wir uns beschäftigen. Und wenn 60 bis 70 Prozent der Nachrichten und dazu noch Sondersendungen im Anschluss an die Nachrichtensendungen sich einem einzigen Thema widmen, dann ist das eben das Thema, das die Menschheit beschäftigt. So viel wurde nicht einmal über 9/11 berichtet – und das war nun wirklich ein historischer Einschnitt.

Ist das nicht verständlich? Die Corona-Krise ist eine globale Krise, die sich unmittelbar auf etliche soziale Bereiche auswirkt.
Ja, 9/11 war natürlich ein einzelnes Ereignis, während die Pandemie, wie Sie selbst gerade gesagt haben, weltweit aufgetreten ist. Aber es ist schon auffällig, wenn man sich die Phasen der Berichterstattung anschaut: Am Anfang wurden diejenigen, die die Pandemie für gefährlich gehalten haben, als Aluhutträger klassifiziert. Dann kam der große Schwenk von einem Tag zum anderen einhergehend mit der Situation in Bergamo und den Toten, die sich in den Kühlhäusern von New York gestapelt haben. Und dann kam monatelang die Dauerberieselung mit Zahlen, die völlig irrelevant waren, die aber täglich kommuniziert wurden und die in ihrer Häufung Angst gemacht haben. Daraufhin wurden die Berichte etwas differenzierter, aber es war immer noch viel zu viel.

Stephan Ruß-Mohl / Muphovi

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Zwei Journalisten kritisierten Sie dafür, nicht darauf einzugehen, worum sich die Berichte drehten – etwa um soziale Konsequenzen der Pandemie.
Ich bleibe nach wie vor dabei, dass die exzessive Menge ein Problem ist. Die Kritik, die von wenigen Journalisten zu diesem Artikel gekommen ist, steht übrigens im totalen Gegensatz zu den Reaktionen der Leser. Ich habe in meiner 50-jährigen Karriere als Beobachter noch nie so viel positives Echo gekriegt wie auf diesen Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Und das waren gebildete Leser, die man nicht in die Aluhut-Ecke drängen kann.

Generell ist das Vertrauen in die Medien während der Krise aber wieder gestiegen.
Das hat mich auch gewundert. Es könnte damit zu tun haben, dass die Medien zumindest in der Anfangsphase der Pandemie sehr konsonant berichtet haben. Wenn alle dasselbe sagen, glaubt man das wohl einfach. Auch Herdentrieb ist im Spiel: In Zeiten großer Unsicherheit und Bedrohung schart man sich hinter den Cheerleaders zusammen – und auch die Medien können Cheerleaders sein, nicht nur die Regierungen.

Mal angenommen, diese Menge an Berichterstattung wäre durchweg von unaufgeregten, sachlichen und ausgewogenen Berichten geprägt gewesen.
Dann wären sie immer noch ein Problem, weil es in der Welt unendlich viele andere Probleme gibt, die auch Aufmerksamkeit verdienen und die völlig in den Hintergrund gerückt sind. Was im Übrigen ja letztendlich kriminelle und korrupte Aktivitäten begünstigt hat. Insofern denke ich, dass die exzessive Berichterstattung in der Anfangszeit auch dazu geführt hat, dass die Medien ihre andere Kernaufgabe, nämlich möglichst flächendeckend die vierte Gewalt zu sein, vernachlässigt haben. Ich kann mich an ein Gespräch mit dem ehemaligen Pressesprecher von Bill Clinton erinnern. Er sagte, die Zeit, als sich alle Medien auf Clintons Sexskandal gestürzt haben, war die beste Zeit für ihn, um durchzuregieren, weil seine Regierung tun und lassen konnte, was sie wollte – die Medien interessierte es schlichtweg nicht.

Was haben deutsche Medien denn vernachlässigt?
Was die meisten Medien anfangs viel zu wenig interessiert hat, waren die Folgekosten, die mit den Lockdowns einhergehen. Inzwischen ist ein diesbezügliches Problembewusstsein immerhin erkennbar geworden. Aber ich glaube, dass wir immer noch viel zu wenig darüber wissen, was die Schuldenberge, die Olaf Scholz und andere anhäufen, letztendlich für die Fridays-For-Future-Generation bedeuten.

Sind die Mängel der anfänglichen Berichterstattung nicht vielmehr der Unkenntnis der meisten Journalisten zuzuschreiben? Die Situation war neu und überrumpelnd und die wenigsten Journalisten verstehen etwas von Viren.
Klar, es gibt ja kaum noch Wissenschaftsredaktionen. Wenn Medienhäuser sich die nicht mehr leisten können, glauben sie natürlich umso mehr, was Virologen oder Epidemiologen von sich geben. Dass es immer dieselben waren, obwohl es sehr viel mehr gibt, zeugt auch von Ahnungslosigkeit. Die Öffentlich-Rechtlichen hätten sogar das Geld dafür, wenn sie wollten. Aber bei den Privaten ist es so, dass es einfach mangels Zahlungsbereitschaft des Publikums sehr schwierig ist, in solchen Feldern wirklich zu investieren und ordentlichen Journalismus zu machen. Aber das ist noch nicht einmal das Hauptproblem.

Sondern?
Dass Journalisten heute in Echtzeit messen können, wie viel Aufmerksamkeit sie für welche Beiträge kriegen. Zu verantwortungsvollem Journalismus gehört, dass man aus solchen Messungen nicht automatisch schlussfolgert, dass man noch mehr zu diesem Thema machen muss. Damit landen wir im Bereich des Boulevard-Journalismus und in diese Richtung bewegt sich leider einiges. Allein schon die Tatsache, wie oft Karl Lauterbach, der ja nun wirklich relativ radikale Positionen vertritt, in Talkshows eingeladen wird, demonstriert, wie Angst geschürt und Druck auf die Politik ausgeübt wurde.

Sie sprechen ein grundlegendes Problem an: die Aufmerksamkeitsökonomie. Auf cicero.de handeln derzeit fünf der zehn meistgelesenen Artikel von Annalena Baerbock. Was sicherlich auch damit zu tun hat, dass das Thema Empörung und Voyeurismus triggert. Was sagt das über uns aus?
Das, was für viele Medien gilt. Journalisten stürzen sich auf Themen, die beim Publikum nachgefragt werden, ohne Rechenschaft darüber abzulegen, wie relevant und wie wichtig diese Themen sind. Ich denke schon, dass die Verfehlungen von Annalena Baerbock Aufmerksamkeit verdienen, daran besteht kein Zweifel. Aber auch das wird jetzt seit Tagen wieder so hochgejazzt – es wird allmählich Zeit, dass man sich um andere Themen kümmert.

Das Problem ist ja ein strukturelles, das mit der Abhängigkeit von ökonomischen Faktoren zusammenhängt. Was kann man dagegen tun?
Das Einzige, was man machen kann, ist darüber aufzuklären und den Leuten diesen Zusammenhang nahezubringen. Alles andere wird vermutlich nicht funktionieren. Man kann Journalisten nicht vorschreiben, welchen Themen sie sich widmen sollen. Sie müssen bis zu einem gewissen Punkt den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgen, um auf dem Markt überleben zu können. Aber wenn diese Gesetze dem Publikum bekannt wären – und diesbezüglich versagt der Journalismus, denn er klärt viel zu wenig über seine eigenen Mechanismen auf –, dann wären Lügenpresse-Vorwürfe weniger plausibel und die Glaubwürdigkeit der Medien wäre nicht langfristig so in den Keller gegangen, weil das Publikum die Zwänge der Berichterstattung nüchtern einschätzen könnte.

Haben früher die Leitmedien mehr Themen gesetzt, rennen sie heute eher den sozialen Medien hinterher?
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, die Leitmedien setzen auch heute noch Themen und werden sehr oft in ihrer Wirkungsweise unterschätzt, weil sie doch auch sehr stark mitprägen, was auf Twitter und anderen Plattformen zirkuliert. Auf der anderen Seite ist es so, dass diese Plattformen selbst so übermächtig geworden sind und dass so unkontrollierbar ist, was ihre Algorithmen uns zuteilen, was wir zuerst zu sehen, zu hören und zu lesen kriegen, dass das schon sehr unheimlich ist. Auch diese Algorithmen sind nach aufmerksamkeitsökonomischen Kriterien programmiert, denn die Plattformen wollen letztendlich möglichst viel Geld verdienen und tun das auch.

Sie plädieren in Ihrem Buch „Streitlust und Streitkunst“ für eine bessere Streitkultur. Woran krankt es?
Wir sollten ein bisschen mehr überlegen, bevor wir in die Tasten hauen und Empörung, Wut und sogar Hass in Umlauf bringen. Da muss sich jeder an die eigene Nase fassen. Ansonsten wäre es auch schön, wenn Journalisten gelegentlich ihre eigene öffentliche Aufgabe im Blick hätten und etwas weniger zuspitzten, etwas weniger Angst und Schrecken verbreiteten und überlegten, ob bestimmte Statistiken wirklich aussagekräftig und relevant sind.

Sie empfehlen in Ihrem Buch gleich dreimal „skeptisch sein und eigenständig denken“. Das klingt richtig, aber individuelle Handlungsanweisungen reichen nicht bei einem strukturellen Problem. Zumal es oft die Verbohrtesten sind, die Skeptisch-Sein in heroischer Pose für sich reklamieren.
Das stimmt, mit Appellen kommt man nicht sehr weit. Auf der anderen Seite müssen wir uns klar machen, wie heikel es ist, das Problem mit medienpolitischen Maßnahmen angehen zu wollen, weil wir dann sehr schnell im Bereich der Zensur sind. Das Beste, was ich anzubieten habe, ist deswegen Aufklärung über den Medienbetrieb. Da sind die Schulen sehr stark gefordert und haben viel Nachholbedarf. Corona hat zusätzlich noch mal deutlich gemacht, dass es im Bereich der Medienkompetenz große Lücken gibt. Da würde ich die Journalisten selbst nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Es wird über nichts so wenig aufgeklärt wie über den Medienbetrieb und über redaktionelles Arbeiten.

Also Medienkompetenz als Schulfach, wie viele schon seit längerem fordern?
Das würde ich nachhaltig unterstreichen. Aber ich möchte auch darauf hinweisen, dass das nicht von heute auf morgen geht. Dazu muss man erst einmal medienkompetente Lehrer und Lehrerinnen ausbilden. Ehrlicherweise muss man auch dazu sagen, dass sich die Geschäfte in den Medien so rapide verändern, dass diese Aus- und Weiterbildung fortdauernd stattfinden müsste. Selbst wir Medienforscher tun uns relativ schwer damit, uns auf dem Laufenden zu halten und all das zu verdauen, was täglich an Neuem auf uns einprasselt.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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