Verändert Corona die Welt? - Der Sinn der Pandemie

Gibt es einen Sinn in der Krise? Der Philosoph Vittorio Hösle beschreibt, wie das Leben mit dem Virus unseren Alltag, das Verhältnis der Bürger zur Politik und die globale Gemeinschaft der Staaten verändert hat. Mit Menschen, die die Schutzmaßnahmen boykottieren, geht er hart ins Gericht.

„Die Einschätzung der Risiken darf nicht von der Laune des Einzelnen abhängen° / dpa
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Autoreninfo

Vittorio Hösle ist Philosoph und Autor zahlreicher Bücher, u.a. zum deutschen Idealismus und zur Diskursethik. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart.“

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Was kann ein Philosoph zur Covid-19-Pandemie schreiben, das nicht viel kompetenter von Virologen und Epidemiologen, Psychologen oder Juristen schon mehrfach gesagt worden ist? Nun, die Philosophie ist eine normative Disziplin – sie hat ihr Zentrum in der Ethik, der Lehre vom richtigen Leben. Drei Fragen drängen sich einem Philosophen angesichts dieser weltweiten Herausforderung daher auf: Erstens, wie gehen wir einzeln am besten mit ihr um? Zweitens, welche Entscheidungen sollten politische Institutionen am sinnvollsten treffen? Drittens, was werden die Langzeitfolgen dieser Krise sein, und gibt es eine Chance, in ihr Sinn zu finden?

Individuell ist die erste Erfahrung, die wir mit dieser Krise machen, ein kollektives Gefühl der Ohnmacht, wie die Bewohner der westlichen Welt es seit Jahrzehnten nicht mehr kannten. Die Reisewut, die uns alle ergriffen hatte und einen Wahn der Allgegenwart erzeugte, ist vielerorts umgeschlagen in das Verbot, die eigenen vier Wände zu verlassen (außer in dringenden Fällen). Die wirtschaftlichen Aktivitäten, die manchmal geradezu zum Selbstzweck geworden waren, erstarren.

Die plötzliche Präsenz des Todes 

Die Menschen sind zurückgeworfen auf die Kernfamilie (wenn sie das Glück haben, eine funktionierende zu haben), innerhalb deren nun kindliches und studentisches E-Lernen und die Arbeit im Homeoffice erfolgen. Der Tod, den wir so gerne verdrängen, hat durch die ständig durchgegebene Zahl der Opfer eine unheimliche Präsenz wiedergewonnen – die vielleicht noch unheimlicher ist dadurch, dass die normalen Riten des Abschieds von Sterbenden und Toten nun oft verwehrt sind. Vermutlich am meisten verunsichert uns die Tatsache, dass wir nicht wissen, wie lange diese Unterbrechung der Normalität dauern wird – Wochen, Monate, gar zwei Jahre?

Ist dies alles nicht auch eine Chance, an der wir reifen können? Wir sind auf die Festung unseres eigenen Ichs zurückgeworfen wie seit Langem nicht mehr. Wir erkennen, dass viele unserer Bedürfnisse – nach Geselligkeit, Tourismus, Wirtschaftswachstum ohne Maß – nicht lebensnotwendig sind und dass die permanente Zerstreuung die unwiderrufliche Realität des Todes nicht zu beseitigen vermag. Wir merken, dass das Glücken oder Scheitern unserer Existenz sich zu gutem Teil in der Kernfamilie abspielt; hier sind die Menschen, auf die wir uns verlassen können müssen, wenn es darauf ankommt.

Raus aus dem Hamsterrad des Berufs

Nachbarschaftshilfe gewinnt an Bedeutung. Die Krise hilft uns, Unwesentliches abzustreifen und uns auf das zu konzentrieren, was zählt. Wir kaufen weniger Überflüssiges. Wir gewinnen Zeit. Wir können sie nutzen, indem wir unser Haus bestellen, spirituelle Bedürfnisse zulassen, die wir lange haben versiegen lassen, Bücher lesen und Filme ansehen, von deren klassischem Rang wir oft gehört haben, auch wenn das Hamsterrad des Berufs und die Hektik von Partys uns dafür bisher keine Zeit gelassen haben.

Was politisch geschieht, ist moralisch gegründet im Vorrang des Rechts auf Leben gegenüber anderen Rechten. Der Staat schränkt untergeordnete Rechte ein, etwa auf Bewegungsfreiheit, wenn dies erforderlich ist, um Menschenleben zu schützen. Dazu hat er ein Recht, ja, sogar eine Pflicht. Seit dem 14. Jahrhundert, als der Schwarze Tod Europa heimsuchte, haben Staaten die Quarantäne benutzt, um ihre Bürger vor ansteckenden Krankheiten zu schützen, oft mit Erfolg: Australien blieb 1918 so vor der Spanischen Grippe bewahrt, die 1918/1919 weltweit bis an die 50 Millionen Menschen tötete.

Sicher ist es abwegig, davon auszugehen, Covid-19 könne vergleichbare Opferzahlen zur Folge haben – wir stehen nicht in einem wirklichen Krieg, und die Medizin hat enorme Fortschritte gemacht. Gewiss ist es richtig, dass die enormen Abweichungen in den bisher vorliegenden Letalitätsraten der unterschiedlichen Länder (die viel damit zu tun haben, dass die Zahl der Erkrankten nicht überall gleichermaßen gut durch Tests sichergestellt wird) es nicht erleichtern, die wirkliche Letalität zu bestimmen. Zwar ist es sehr unwahrscheinlich, aber nicht völlig auszuschließen, dass sie sich im Rückblick als nicht viel höher erweisen sollte als bei den schwersten Grippewellen der letzten Jahre.

Das Maximin-Prinzip 

Doch ist die heute von den meisten Experten gehegte Annahme, es sei auch nicht unwahrscheinlich, sie sei ein Zehnfaches dessen, völlig ausreichend, um energische Maßnahmen zu legitimieren. Das sogenannte Maximin-Prinzip gebietet, im Falle unbestimmter Wahrscheinlichkeiten bei Entscheidungen, die nicht nur einen selber betreffen, diejenige Alternative zu wählen, bei der das erwartete Übel am geringsten ist. Und wirtschaftliche Nachteile sind nun einmal weniger schlimm als der Tod sehr vieler Menschen. Im Übrigen bleibt ein Rat auch dann gut, wenn das weniger Wahrscheinliche eintritt und die eigenen Maßnahmen sich als vergeblich oder überflüssig erweisen, wie schon Herodot gewusst hat.

Der sehr unterschiedliche Erfolg der einzelnen Staaten beim Kampf gegen die Ausbreitung des Virus lehrt uns vieles – und lehrt uns auch manches nicht. Er lehrt uns nicht, wie manchmal behauptet wird, dass nichtdemokratische Staaten wie China am erfolgreichsten sind. Denn Südkorea, Taiwan und Singapur sind noch erfolgreicher, sicher auch, weil, anders als zu Beginn der Krise in China, die Bevölkerung informiert und Transparenz hergestellt wurde.

Ostasien ist der Gewinner der Krise  

Aber es ist richtig, dass die westeuropäischen Staaten und die USA manche Fehler gemacht haben, die viele asiatische Länder vermieden haben. Ostasien wird daher der Gewinner dieser Krise sein, der Westen dagegen beschämt und mit einem beachtlichen Legitimitätsverlust aus ihr hervorgehen. Mangels eines starken Sozialstaats und dank der Inkompetenz des Präsidenten haben die USA nicht gleich umfassende und billige Tests zur Verfügung gestellt; und ein übertriebenes Bestehen auf Datenschutz hat in Europa verhindert, dass man wie in Singapur aktiv diejenigen aufgespürt hat, die Kontakte mit Infizierten hatten. In Südkorea hat das Portal Coronaita die Öffentlichkeit informiert, an welchen Orten sich besonders viele Infizierte aufgehalten haben. Wichtiger als die Staatsform sind also die Kompetenz und Vorbereitung der medizinischen Berater, die Schnelligkeit der Entscheidungen der Regierung und die Konsequenz bei deren Durchsetzung sowie die Diszipliniertheit der Bevölkerungen.

Ungeschickt war in Italien die Tatsache, dass die ohnehin viel zu späte Entscheidung der Regierung, den Norden zur „roten Zone“ zu erklären, vorher durchsickerte und somit Tausende Süditaliener den Norden hastig verließen und das Virus über das ganze Land streuten. Bei Zuwiderhandlungen gegen Regeln, die Menschenleben retten können, müssen ohne Zögern Strafen verhängt werden. Es mag zwar sein, dass junge Leute – zumal sie sich selber für kaum gefährdet halten – die Risiken allgemein gering einschätzen; aber auch wenn man eventuell der Meinung sein kann, man dürfe sich selber gefährden, darf man andere nicht gefährden. Die Einschätzung der Risiken darf nicht von der Laune des Einzelnen abhängen, sondern vom Sachverstand der meisten Experten. Ihnen schulden wir Dankbarkeit; sie zu beschimpfen ist nicht Ausdruck von Demokratie, sondern von Verantwortungslosigkeit.

Die Macht der Exekutive wächst 

Was wird die Konsequenz dieser Krise sein? Wird sie einen geschichtlichen Einschnitt bedeuten, so wie der Schwarze Tod des 14. Jahrhunderts zum Ende des Mittelalters beitrug? Es bestehen verschiedene Möglichkeiten. Kurzfristig wird es sicher zu einer Machtvermehrung der Exekutive kommen. Die Regierung darf und muss in dieser Situation schnelle Entscheidungen treffen; mancherorts mag durch die Pandemie sogar ein Zusammenkommen des Parlaments zu riskant werden. Die Abriegelung der Knesset durch Juli Edelstein am 18. März freilich schien mehr der Absicherung von Benjamin Netanjahus prekärer Position als Ministerpräsident zu dienen als gesundheitspolitischen Zwecken, auch wenn solche angeführt wurden.

In Ungarn verstößt die Ermächtigung der Exekutive gegen elementare rechtsstaatliche Prinzipien. Trumps Gerede von der „totalen“ Autorität des Staatsoberhaupts weckt naheliegende Befürchtungen. Es ist durchaus denkbar, dass in den USA im Herbst zu den Wahllokalen, bei denen nicht genehme Ergebnisse zu erwarten sind, der Zugang unter analogen Vorwänden erschwert wird; unabhängig davon gewährt die ständige Medienpräsenz der Amtsinhaber diesen einen bedeutsamen Vorteil im Wahlkampf. Noch viel beunruhigender ist die Verbreitung von Verschwörungstheorien, sei es zum Ursprung des Virus, sei es zu seiner angeblichen Harmlosigkeit. Man kann nicht vorhersagen, wie lange sich die Bürger die Einschränkung vertrauter Gewohnheiten bieten lassen werden – ihre Wut und Angst, die sich in den USA etwa in Hamsterkäufen von Waffen zeigen, wäre ein gefundenes Fressen für Demagogen, die durch die unvermeidliche Rezession und die mit ihr einhergehende Arbeitslosigkeit ohnehin begünstigt sein werden.

Spaltet oder vereint das Virus die Welt? 

Die Schließung der Grenzen, die zumal dann notwendig ist, wenn ein Land dabei ist, sich von der Epidemie zu erholen, kann den Niedergang multilateraler Zusammenarbeit, der ohnehin im Gang ist, beschleunigen und auch die EU gefährden. All das verstärkt die Phänomene, die ich 2019 in meinem Buch „Globale Fliehkräfte“ analysiert habe. Aber man darf auch hoffen, dass die Erkenntnis, das Virus sei ein gemeinsamer Feind der Menschheit, die Kooperation zwischen den Staaten begünstigt, gemeinsame Strategien entworfen werden und den ärmeren Staaten solidarisch geholfen wird, die durch diese Pandemie in ganz anderer Weise getroffen werden als die reichen.

Vielleicht wird wieder mehr in Gesundheitssysteme investiert und bessere Vorsorge gegen derartige Pandemien getroffen (die korrekt vorhergesagt worden waren). Vielleicht geht die Rezession einher mit der umweltpolitisch entscheidenden Erkenntnis, man sei auch mit viel weniger glücklich, und führt zu nachhaltigerem Wirtschaften. Die finanzielle Absicherung der zur Arbeitslosigkeit Gezwungenen mag der Vorbereitung eines bedingungslosen Grundeinkommens dienen, das unvermeidlich sein wird, wenn immer mehr Maschinen die Arbeit übernehmen; und diese Entwicklung wird unweigerlich forciert werden, wenn Menschen nicht zur Arbeit gehen dürfen. Dafür mag soziale, pflegerische und medizinische Arbeit an Wert gewinnen und angemessener bezahlt werden. Die Pflege von Kontakten durch das Internet wird reale Begegnungen nie ersetzen können; aber sie mag dazu führen, dass unsinnige Reisen unterbleiben.

Ohne Fehlbarkeit kein Heroismus 

Was eintreten wird – die guten oder die schlechten Konsequenzen –, hängt von zu vielen Variablen ab, als dass jemand wagen könnte, es vorherzusagen. Moralisch freilich ist klar, wofür sich verantwortliche Bürger einsetzen müssen. Und die Hoffnung darf und soll man haben, dass die möglichen positiven Konsequenzen rückblickend auch dieser schweren Zeit einen Sinn verleihen mögen. Der großartigste italienische Roman des 19. Jahrhunderts, Alessandro Manzonis „Die Verlobten“, schildert gegen Ende die Ausbreitung der Pest von 1630 in Mailand.

Die Analogien zur gegenwärtigen Situation – die Weigerungen, die Gefahrensituation anzuerkennen, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen und ihnen Folge zu leisten, schließlich die Suche nach angeblichen Verschwörern – zeigen geradezu beklemmend, wie stark bestimmte anthropologische Konstanten wirken und wie langsam der moralische Fortschritt der Menschheit ist. Aber Manzonis Katholizismus gestattet ihm, im Chaos menschlichen Leidens Akte wahrer Nächstenliebe, der Verantwortung und der Vergebung zu entdecken, die ihn nicht am Menschen und an der Geschichte verzweifeln lassen, sondern auf ein göttliches Prinzip verweisen.

Ohne menschliche Fehlbarkeit und Niedertracht gäbe es nicht jenen Heroismus, den wir in den letzten Monaten bewundern konnten. Es genüge, an den Arzt Li Wenliang zu erinnern, der 34-jährig starb, nachdem er vor der Pandemie gewarnt hatte und deshalb von der chinesischen Polizei verwarnt worden war. Vielleicht ist es der Sinn solcher Pandemien, Menschen wie ihn hervorzubringen und die nichtheroische Mehrheit zu jenen Veränderungen zu motivieren, die kumulativ so etwas wie geschichtlichen Fortschritt ausmachen.

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