Christian Thielemann wird 60 - „Die Maßstäbe gehen vor die Hunde“

In einem Interview aus Anlass seines 60. Geburtstags kritisiert der Dirigent Christian Thielemann scharf das Bildungsniveau in Deutschland. Auch am Zeitgeist lässt er kein gutes Haar. Besonders aber stört ihn die Politisierung der Kunst

Der Dirigent Christian Thielemann wird an diesem 1. April 60 / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Deutschlands bedeutendster Dirigent feiert am heutigen 1. April 2019 einen runden Geburtstag. Christian Thielemann, ein programmatischer Preuße und Deutschromantiker, ein unkonventioneller Konservativer in Klang wie Denkungsart, wird 60. Tags darauf erscheint in der bisher nur Eingeweihten bekannten Zeitschrift Corps, ein Interview mit dem Jubilar. Darin wird der Bruckner- und Wagner- und Richard-Strauss-Spezialist, derzeit Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden, biografisch ebenso deutlich wie politisch. „Sehen Sie, das ist ja schon das Problem: Auf einmal ist das Selbstverständliche politisch,“ begründet er das. Thielemann wäre nicht Thielemann, hielte er nicht die Kritik an einem dogmatisch gewordenen Zeitgeist für selbstverständlich.

Der Zeigeist als Dogma

Das Magazin Corps gibt es, je nach Zeitrechnung der beiden Vorgängermagazine, im 111. oder gar schon im 121. Jahr. Herausgegeben wird das Magazin von mehreren Studentenverbindungen. Das gerade erneuerte Layout ist frisch und schick, man will als Zielgruppe explizit studentischen Nachwuchs erreichen. In der aktuellen Ausgabe  hat neben Christian Thielemann auch der ehemalige Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig seinen Auftritt. Er schreibt über die „Revolutionsjahre 1848/49“ und „Verbindungsstudenten als Indikatoren der gesellschaftlichen Unruhe“. Kerniger, direkter, provokanter geht es bei Thielemann zu: „Jahrzehntelang haben uns die Revolutionäre erklärt, dass man sich gegen alles Bestehende auflehnen soll, heute sind es die gleichen Leute, die den Zeitgeist zum Dogma erklären.“

Und wo entdeckt der Dirigent jenen „Zeitgeist“, gegen den aufzubegehren Pflicht sei? Vor allem in Bildungs- und Disziplinlosigkeit, in Eliten- und Traditionsverachtung, Relativismus und Hässlichkeit. Womöglich gegen seine Geburtsstadt Berlin ist die Spitze gerichtet, es gebe „Städte in Deutschland, da gilt eine beschmierte Wand als Kunst. In anderen ist es Sachbeschädigung.“ Er plädiere für „überlieferte Gewissheiten“, dies- und jenseits der Musik, und ergo für Traditionen. „Man fühlt sich besser mit Regeln, solange man nicht darin verkrampft. Das Elitäre gehört dazu.“ Gewissermaßen als Grenzwall der Gesinnung brauche jede Gesellschaft Eliten: „Ohne Eliten geht es nicht. Ein Engländer oder Franzose lacht uns doch aus, wenn wir das Elitäre infrage stellen.“

Den Deutschen mangelt es an Preußentum

Wie entstehen Eliten? Durch Geschick und Fortune einerseits, durch Bildung und Disziplin andererseits, also Arbeit an sich selbst. Nicht dem Adel, sondern der Würde redet Thielemann das Wort. „Was man mit 30 nicht gelernt hat, das passiert auch danach nicht mehr.“ Und da mangele es vielen Deutschen, im Gegensatz zu vielen Asiaten, an einem inneren Preußentum, an Anstrengungsbereitschaft und Zuverlässigkeit, an Zähigkeit. Ohne Elite geschieht, was in dieser Republik gerade geschehe: „Ein Land steuert in Richtung Vorschulniveau“. Indikator seien die stetig abnehmenden Kenntnisse der Muttersprache, „wenn Sie sehen, wie viele Rechtschreibfehler in kunsthistorischen Klausuren gemacht werden, wird Ihnen schlecht. Das sogenannte einfache Deutsch ist das Synonym für diesen Niedergang.“ Irgendwann, so Thielemann, müssen Herzchen an die Toilettentüren gemalt werden, „weil keiner kapiert, was 'WC' bedeuten könnte.“

Ohne Anstrengung keine Bildung, ohne Bildung keine Elite, ohne Elite kein funktionierendes Gemeinwesen: So lautet der kulturkritische Dreiklang Christian Thielemanns, der mit diesem Interview seinen Ruf als schöpferischer Restaurateur festigen dürfte. Zumal er seine haltungsethische Askese im Angesicht einer staatsfrommen Kulturindustrie verteidigt. Er „überlasse die Politik gerne den Politikern.“ Unterschriftenlistensammler dürfen nicht auf Thielemanns Unterstützung rechnen. Ebenso wenig dürfen es die Protagonisten der sogenannten Generation Schneeflocke, die Motive höher gewichten als Leistungen: „Die Maßstäbe gehen vor die Hunde. Man muss sagen dürfen, dass etwas Mist ist, wenn es Mist ist. Darin zeigt sich auch die Krise des Bürgertums. Viele trauen sich nicht mehr zu sagen, wenn sie etwas nicht mögen und drucksen rum, dass es ja vielleicht doch ganz interessant sein könnte. Die Toleranz darf nicht so weit gehen, dass man nichts mehr schlecht finden darf, um nicht als altbacken zu gelten.“

So ist es eben doch ein politisches Interview geworden, das Thielemann den Alten Herren von Corps gab. Wie sollte es anders sein in einer Zeit, die sich die Politisierung aller Lebensbereiche auf die Fahnen geschrieben hat? Thielemann bezeugt das Bewusstsein, das er negiert, bekräftigt die Diagnose, die er verwirft. Einen Ausweg aus dem Dilemma weist die Kunst. Sie ist auf keinen Begriff zu bringen. Am 13. April dirigiert Christian Thielemann bei den Osterfestspielen Salzburg Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“. Und Eva singt und weiß: „Hier gilt's der Kunst“.

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