Fall Puidgemont - Die ideologischen Karten werden neu gemischt

Rebellion, Aufruhr, Hochverrat - der Fall Puidgemont wirkt wie aus der Zeit gefallen. Doch in Wahrheit markiert er eine Zeitenwende. Mitten im postnationalen Zeitalter erlebt der Gedanke der Nation eine Renaissance. Gerade für Linke ist das harter Tobak. Von Alexander Grau

Flagge Kataloniens vor der Haftanstalt Neumünster: Rebellion, Aufruhr, Hochverrat / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es sind Begriffe wie aus einem Historienschinken oder aus einer längst vergangen Zeit: Rebellion, Aufruhr, Hochverrat. Und ähnlich archaisch wie die Begriffe wirkt der Konflikt, dem sie entstammen: eine Region, in der zumindest ein Teil der Bevölkerung die Unabhängigkeit anstrebt, und ein Zentralstaat, der das mit aller Macht zu verhindern sucht. 

Die Spannungen zwischen Katalonien und Spanien, der Haftbefehl gegen Carles Puigdemont, seine Flucht nach Belgien, seine abenteuerliche Verhaftung und kautionsbedingte Freilassung, das alles wirkt wie aus der Zeit gefallen. Dabei ist es hoch aktuell. Denn die Zeiten haben sich geändert. Der Konflikt um Katalonien ist nur ein Beispiel. Wir leben in einer Zeitenwende und wir begreifen es nur sehr langsam. Manche begreifen es gar nicht. Und wieder andere wollen es nicht wahrhaben.

Die Menschen wollen sich mit etwas identifizieren

Deutlich wird das an Begriffen wie „Nation“ oder „Identität“, also an Konzepten, von den manche glaubten, sie seien längst im Müllschlucker der Geschichte entsorgt (die Nation) oder privatisiert (die Identität). Falsch gedacht.

Die Nation feiert unter den Bedingungen der Globalisierung fröhliche Urständ. Das ist nicht sonderlich überraschend. Denn Menschen wollen sich mit etwas identifizieren. Und da der Mensch ein soziales Wesen ist, identifiziert er sich mit Kollektiven aller Art.

Was die Linke in ihren Identitätsdiskursen dabei immer übersehen hat: Selbstkonstruierte Kollektive – irgendwelche Special-Interest-Groups – haben auch und gerade in Zeitalter der Selbstverwirklichung ein ungleich geringeres Identifikationspotential als historisch gewachsene. Insbesondere in einer sozial hochmobilen Gesellschaft gewinnt das anscheinend Unveränderliche an Gewicht. Und das historische älteste Kollektiv, auf das Menschen bei ihrer Suche nach Identität zugreifen können, ist die Nation – so konstruiert sie immer sein mag.

Ein neuer Nationalismus

Die Renaissance des Gedankens der Nation in einem angeblich postnationalen Zeitalter ist daher nur konsequent. Und verwirrend zugleich. Denn die Vorzeichen haben sich geändert – und zwar grundlegend. Das macht die Sache so schwer einzuordnen und führt bei vielen zu Verklemmungen.

Der traditionelle Nationalismus des 19. Jahrhunderts war ein Kind kollektivistisch geprägter Gesellschaften der Vormoderne. Der neue Nationalismus hingegen, wie wir ihm etwa im katalanischen Separatismus begegnen, ist ein Produkt individualistischer Gesellschaften und damit der Suche des Einzelnen nach seiner persönlichen Identität. Fragten die Menschen der Frühmoderne noch „wer sind wir?“, so fragt der spätmoderne Individualist mit „wer bin ich?“

Es sind die Kinder der Postmoderne, die den Gedanken der Nation und was sich mit ihm verbindet plötzlich als Teil ihrer individuellen Identität begreifen. Damit werden die ideologischen Karten neu gemischt. Weltanschauliche Grenzen werden aufgebrochen. Individualisierung bedeutet nun nicht länger traditionelle Identifikationsräume zugunsten individueller Emanzipation abzulösen. Vielmehr beharren die emanzipierten Individuen auf ihr Recht, Teil einer Nation zu sein.

Damit haben die Wenigsten gerechnet. Am allerwenigsten die Linke. Denn für sie war Emanzipation immer gleichbedeutend mit der Aufkündigung überlieferter Rollenmuster: der sozialen Zugehörigkeit, der nationalen Identität, des Geschlechts.

Harter Tobak für die Linke

Doch plötzlich, und im Grunde wenig überraschend, wendet sich das Blatt, und die Menschen entdecken Traditionskollektive aus dem Geist der Selbstfindung neu. Insbesondere für linke Theoretiker ist das harter Tobak. Dabei waren es gerade sie, die den Identitätsdiskurs befeuert haben. Denn Identität, individuelle Selbstschaffung, das war ein originär linkes Projekt. Dass viele Menschen es nutzen, um sich überlieferten Identitätskonzepten zuzuwenden, damit hatte man allerdings nicht gerechnet. Geschichte kann gemein sein.

Das Ergebnis ist eine Implosion althergebrachter ideologischen Fronten. Der Fall Puigdemont demonstriert das eindrucksvoll. Beziehungsweise die Verklemmungen und das Schweigen, das er insbesondere in Deutschland auslöst.

Zeiten des Umbruchs

Gerade die, die immer von Freiheit und Emanzipation reden und denen reflexartig Tränen der Rührung in die Augen kommen, wenn das Wort „Zivilcourage“ erklingt, haben sich den letzten Tagen auffallend still verhalten. Und auch diejenigen, die bereit sind, ohne nähere Betrachtung in Hunderttausenden politische Flüchtlinge zu erkennen, hielten sich diesmal arg zurück.

Wohl gemerkt: Trotzig einen Nationalstaat erzwingen zu wollen, den ungefähr die Hälfte seiner Bewohner ablehnt, ist reichlich unklug. Peinlich hingegen ist mit Blick auf das Vorgehen des spanischen Staates das Schweigen derjenigen, die sonst nur im Ton tiefster Ergriffenheit von „demokratischen Werten“ reden. Doch wie gesagt: Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Die ideologischen Karten werden neu gemischt.

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