Alltägliche Ausgrenzung in der Schule - Wenn Mobbing tödlich endet

Mobbing ist unter Kindern und Jugendlichen weit verbreitet. Die Öffentlichkeit bekommt wenig davon mit. Erst wenn Mobbing tödlich endet, ist die Gesellschaft aufgeschreckt. Dabei gäbe es Methoden, aggressive Anfeindungen unter Kindern rechtzeitig zu erkennen und in friedliche Bahnen zu lenken.

Zu häufig werden Kinder und Jugendliche mit ihrer Not alleine gelassen / picture alliance
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Autoreninfo

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Hänseleien von Jugendlichen auf dem Pausenhof und in der Freizeit hat es immer schon gegeben. Rangordnungskämpfe auszufechten und zu bestehen, gehört, wenn man der Meinung von Psychologen Glauben schenken will, zum Prozess des Erwachsenwerdens. In letzter Zeit hat es allerdings Fälle gegeben, die wegen ihrer Grausamkeit die Öffentlichkeit erschütterten. Im nordrhein-westfälischen Freudenberg wurde die zwölfjährige Luise von zwei ebenfalls minderjährigen Freundinnen mit einem Messer getötet. 

Obwohl die Polizei wegen des Persönlichkeitsschutzes der jugendlichen Täterinnen zum Motiv keine Angaben machte, sickerte in der Presse durch, dass Luise von den beiden Mädchen zuvor gemobbt worden war. Zum Verhängnis wurde ihr offenbar, dass sie sich dagegen wehrte, indem sie sich Erwachsenen anvertraute. Wie abgrundtief muss der Hass von zwei Mädchen sein, wenn sie ihre „Freundin“ mit 30 Messerstichen töten? Und warum sind Kinder heutzutage nicht mehr in der Lage, ihre Streitigkeiten gewaltfrei auszutragen? 

Nur wenige Tage nach dem Mord in Freudenberg kam eine andere schreckliche Jugendtat an die Öffentlichkeit. In der schleswig-holsteinischen Stadt Heide war eine 13 Jahre alte Schülerin von einer sechsköpfigen Gruppe Mädchen im Alter von zwölf bis 16 Jahren aufs Grausamste gequält worden. Die Quälgeister hielten ihre Tortur auf einem Video fest. Es anzuschauen, ist nur schwer erträglich. Umringt von seinen Peinigerinnen bettelt das Mädchen darum, mit den Schlägen ins Gesicht aufzuhören. Dem Mädchen wurden Zigaretten im Gesicht ausgedrückt und die Haare angezündet. Man kann sich vorstellen, wie traumatisch sich die grausame Quälerei auf die Psyche des Kindes auswirken muss. 

Mobbing ist unter Jugendlichen alltäglich

Wie eine repräsentative Befragung unter Jugendlichen ergab, wurden 2018 in Deutschland 23 Prozent der 15-jährigen Schüler häufig an ihrer Schule gemobbt. Überwiegend bestand das Mobbing aus psychischen Schikanen: 13 Prozent wurden mehrmals im Monat von ihren Mitschülern verspottet, über zehn Prozent wurden unangenehme Gerüchte verbreitet. Fünf Prozent der 15-Jährigen erlebten Mobbing aber auch als physische Gewalt. Der unter Jugendlichen beliebte Raub von Habseligkeiten – verharmlosend „Abziehen“ genannt – gehört dazu. 

Ohne solche Befragungen durch Psychologen wüsste die Öffentlichkeit wenig von diesem Massenphänomen. Viele Opfer von Mobbing schweigen nämlich in ihrem Umfeld über ihre Demütigung. Oft schämen sie sich, weil sie die Schuld bei sich suchen und sich fragen: „Bin ich so anders, dass die Mitschüler mich nicht mögen?“ Sie führen einen einsamen Kampf gegen die Täter, den sie nicht gewinnen können. Mitunter haben sie auch erlebt, dass die Täter in vergleichbaren Fällen nicht oder nicht konsequent genug bestraft wurden und sich anschließend an ihrem Opfer, das sie „verpetzt“ hat, umso grausamer gerächt haben. Drangsalierte Schüler verlieren in der Regel das Vertrauen in die Erwachsenen, wenn sie von ihnen keine Hilfe erfahren haben. Dann erdulden sie lieber ihr Martyrium, als sich ihnen anzuvertrauen. Die Täter kommen deshalb meistens ungestraft davon. 

Verharmlosung durch Lehrkräfte

Im Februar 2019 starb in Berlin ein elfjähriges Mädchen, das eine Grundschule im Bezirk Reinickendorf besucht hatte. Der Lokalpresse zufolge soll es einen Suizidversuch unternommen haben und später an dessen Folgen im Krankenhaus gestorben sein. Das Mädchen soll zuvor in ihrer Klasse von Mitschülern verbal und körperlich attackiert worden sein. Eltern aus der Klasse berichteten, dass Lehrer und Schulleitung auf das Problem schon lange vorher aufmerksam gemacht worden seien. Sie hätten jedoch abgewiegelt, weil doch alles nicht so tragisch sei. Der damalige Kommentar der Schulleiterin: „Es gibt natürlich Gekabbel, aber nicht Mobbing, wo über längere Zeit ein Kind wirklich unter Druck gesetzt und malträtiert wird.“ 

Ein fataler Irrtum. Mobbing ist für die Betroffenen immer tragisch. Es führt zu Angst, Ohnmachtsgefühlen und schließlich zu Lebensüberdruss. Es ist nur schwer nachzuvollziehen, dass eine Institution, der die Eltern tagtäglich ihre Kinder anvertrauen, deutliche Hinweise von Eltern auf Mobbing nicht ernst nimmt.

Wenn die Schule kein Schutzraum mehr ist

Der Psychologe Gordon Neufeld hat den Unterschied zwischen der Sphäre des Elternhauses und der Schule treffend beschrieben: „Eltern können Kindern das geben, was sie einander nicht geben können: die Freiheit, sie selbst zu sein, im Kontext liebevoller Akzeptanz.“ Wenn Kinder in die Schule kommen, treten sie aus dieser Sphäre des vertrauensvollen Aufgehoben-Seins heraus und werden Teil einer Großgruppe von bis zu 30 Kindern, in der sie ihren Platz finden müssen. Wie in jeder Gruppe geht es bei den Binnenkämpfen in einer Schulklasse um Rangfolge, Akzeptanz, Anführer-Rollen, Freund- und Feindschaften. Oft herrscht psychischer „Krieg“. 

Ausgrenzungen verlaufen entlang jugendtypischer Kriterien: Unsportlichkeit, Hochbegabung („Streber“), Kleidungs- und Musikstil, soziale oder ethnische Herkunft. Wie Schulpsychologen berichten, ist das häufigste Motiv für Mobbing unter Schülern Neid: auf Intelligenz, Begabung, Beliebtheit, Wohlstand und eine intakte Familie. Anstatt Niederlagen und vermeintliche Benachteiligungen zu ertragen und in schulischen Ehrgeiz umzumünzen, versuchen sich solche Schüler an denen zu rächen, die das haben, was sie selbst vermissen. In den heute üblichen heterogenen Schulklassen finden Schüler immer Gründe, andere zu stigmatisieren, sie als nicht zur Gruppe gehörig zu brandmarken. Die Ausgrenzung ungeliebter Mitschüler verschafft ihnen einen emotionalen Kick und erhöht den eigenen Status als Anführer.

Diese Mechanismen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Lehrkräfte. Sich ihr entziehen zu wollen, wäre töricht, weil man dann riskierte, dass einem die Klasse gänzlich entgleitet. Lernen ist nur in einer angstfreien Atmosphäre möglich. Deshalb ist die Arbeit am friedlichen Miteinander in der Schulklasse auch ein Beitrag zu einem wirksamen Unterricht und zu guten Lernergebnissen der Schüler. 

Die richtigen Sanktionen finden

An einem Berliner Gymnasium, an dem ich unterrichtete, kam ein 13-jähriges Mädchen eines Tages nicht mehr zur Schule. Eine Krankmeldung löste die andere ab. Erst ein Gespräch mit den Eltern brachte Klarheit. Ihre Tochter hatte anonyme E-Mails bekommen, in denen sie aufs Übelste beschimpft wurde. Sie stinke, sei fett und hässlich, niemand in der Klasse wolle mit ihr noch etwas zu tun haben, am besten sei es, wenn sie die Klasse verlässt.  

Die Lehrkräfte waren entsetzt. Hatten sie es doch hier mit einer besonders hässlichen Form von Mobbing zu tun, weil sie aus der Anonymität der digitalen Medien heraus geschehen war. Da alle pädagogischen Bemühungen, die Urheber der Verunglimpfungen zu ermitteln, vergeblich blieben, schaltete der Schulleiter die Polizei ein. Schnell war die IP-Adresse der Täter ermittelt: Es waren drei Mädchen aus der eigenen Klasse. Sie gaben vor, ihre Mitschülerin nicht zu mögen, weshalb sie aus der Klasse verbannt werden sollte.  Es war eine Ausgrenzung im wörtlichen Sinne.  

Nach intensiven pädagogischen Beratungen wurden die Schülerinnen bestraft. Die Haupttäterin wurde in eine Parallelklasse versetzt. Alle drei mussten Sozialstunden bei einer karitativen Hilfsorganisation ableisten. Der Ausschluss der Anführerin aus der Klasse war ein starkes Signal an alle Schüler: Wer Mitschüler durch Mobbing aus der Gemeinschaft ausgrenzt, hat das Recht, dieser Gemeinschaft anzugehören, verwirkt. 

Schüler empfinden den Ausschluss aus ihrer Klasse als empfindliche Strafe. Eine Klasse ist ein Schutzraum, ein Ort der Geborgenheit im unübersichtlichen Kosmos Schule. Deshalb lautet die wichtigste Regel, die Psychologen in Anti-Mobbing-Seminaren vermitteln: Wer diesen Schonraum für Mitschüler zu einem unsicheren Ort macht, sollte ihn selbst verlassen müssen. Nachdem die Lehrer dieses Gymnasiums diese Strafe in allen Klassen kommuniziert hatten, ging die Zahl der Übergriffe durch Mobbing deutlich zurück. In der Sprache der Justiz nennt man dies Generalprävention. 

Jede Schule braucht ein Anti-Mobbing-Training

Die Instrumente, derer sich Lehrer bei der Befriedung einer Klasse bedienen können, sind vielfältig und didaktisch gut aufbereitet. Ein systematisches Anti-Mobbing-Training mit Hilfe von Rollenspielen hat sich vor allem bewährt, um eine neu zusammengestellte Schulklasse mit den Regeln des friedfertigen Zusammenlebens vertraut zu machen. Unter Anleitung eines Trainers schlüpfen die Schüler in drei Rollen: die des Opfers, des Täters und eines Mitschülers, der sich schützend vor das Opfer stellt. So lernen die Schüler Empathie mit den Opfern, aber auch, wie man Täter in die Schranken weist, ohne sich selbst zu gefährden. Bei diesem Training lernen die Schüler verbale Stoppsignale, die einen aggressiven Schüler daran hindern sollen, den Streit zu eskalieren. 

Lehrer sollten ein Minimum an Kenntnissen über gruppendynamische Prozesse besitzen, um Mobbing frühzeitig zu erkennen und ihm rechtzeitig entgegentreten zu können. Wichtig ist, dass sie genau hinschauen, wenn Hänseleien und Kabbeleien stattfinden. Erst durch genaueres Hinsehen können sie erkennen, ob es sich um harmlose Plänkeleien handelt oder ob sich dahinter ein aggressives, feindseliges Potential verbirgt. Es hat sich bewährt, dass Lehrer bei einem Mobbing-Verdacht Mitschüler der betroffenen Schüler befragen. Schüler haben naturgemäß mehr Einsicht in die Binnenprozesse einer Schulklasse, als es Erwachsenen möglich ist. Den befragten Schülern muss dabei verdeutlicht werden, dass es ein Gebot der Kameradschaft ist, drangsalierte Mitschüler vor ihren Peinigern zu schützen. 

 

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Im Netz kann man Erfahrungsberichte von Schulen finden, die zeigen, wie man wirksam gegen Mobbing vorgehen kann. So hat eine Schule in Nordrhein-Westfalen analog zum Patenmodell für gegenseitige fachliche Unterstützung ein Helfer-Modell etabliert. Die Schüler einer Klasse bilden Pärchen, die sich gegenseitig beistehen, wenn sie von Mitschülern gemobbt werden. Die Lehrkraft verpflichtet die Klasse, den Vertrauens- oder Klassenlehrer über Verdachtsfälle zu informieren. Einer auf diese Weise präparierten Klasse wird klar, dass die Preisgabe von Mobbing-Tätern mit Petzen nichts zu tun hat. 

Im Internet kann man eine kleine Video-Sequenz über einen Mobbing-Vorfall in einer iranischen Schulklasse finden, die zeigt, dass man mitunter zu unorthodoxen Methoden greifen muss, um ausgegrenzte Kinder erfolgreich zu schützen. Als ein Schüler nach einer medizinischen Behandlung alle Haare verlor, wurde er von seinen Mitschülern so heftig als „Glatzkopf“ verspottet, dass er die Lust verlor, weiter zur Schule zu gehen. Darauf ließ sich der Lehrer auch eine Glatze rasieren, um zu zeigen, dass er jetzt auch zu den ausgestoßenen Glatzköpfen gehört. Die Mitschüler fanden das so „cool“, dass sie nach und nach alle mit Glatzköpfen in die Schule kamen. Auf diese Art – radikal, aber mit komischer Note – wurde das Problem gelöst. 

Schüler tragen die Verfeindungen ihrer Eltern aus

Seit einigen Jahren kann man an unseren Schulen ein neuartiges Phänomen beobachten: Schüler werden aus religiösen Gründen gemobbt. Jüdische Kinder werden von muslimischen Mitschülern attackiert und für die Politik Israels gegenüber den Palästinensern verantwortlich gemacht. Viele jüdische Schüler verließen deshalb in den letzten Jahren die öffentlichen Schulen und wechselten auf jüdische Privatschulen, die wie israelische Schulen von Security-Kräften bewacht werden. 

Ein krasser Fall von antisemitischem Mobbing ereignete sich 2016 an einer Gemeinschaftsschule im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Dort war ein 15-jähriger jüdischer Schüler von muslimischen Schülern so lange drangsaliert, beleidigt und geschlagen worden, bis seine Eltern ihn von der Schule nahmen. Für Aufsehen sorgte ein Leserbrief von Eltern, deren Kinder diese Schule besuchen. Darin sorgten sie sich besonders um den Ruf der Schule, der durch „unreflektierte und einseitige“ Berichterstattung in der Presse geschädigt worden sei.  Die erwähnte Schule ist seit 2016 Teil des Netzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Offensichtich hält dieses Label nicht immer, was es als Schild am Schultor verspricht. 

Auch säkular eingestellte muslimische Kinder werden von „glaubensstarken“ Mitschülern attackiert, wenn sie während des Ramadans ihren Pausensnack essen. Deshalb täuschen manche Kinder das Fasten vor, um so den Übergriffen fanatischer Schüler zu entgehen. Auch Kämpfe zwischen sunnitischen und schiitischen Schülern hat es gegeben, die sich gegenseitig den Abfall vom rechten Glauben vorwarfen. Religiöse Feindbilder entwickeln Kinder nicht von sich aus. Sie werden ihnen von ihren Eltern eingeimpft, die der Meinung sind, ihre Kinder von klein auf im Geiste des Hasses gegen „Ungläubige“ erziehen zu müssen. Hier müsste das Anti-Mobbing-Training auch im Elternhaus stattfinden.

Nach Auskunft des Robert-Koch-Instituts ist Suizid bei Jugendlichen nach Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesart. Psychologen gehen davon aus, dass diesen Selbsttötungen oft schweres Mobbing in der Schule vorausgegangen ist. Wenn man sich diese Zahl vergegenwärtigt, muss man den Eindruck gewinnen, dass unsere Schulen noch kein Instrumentarium entwickelt haben, um Mobbing in all seinen Facetten zu erkennen und die Täter rechtzeitig zur Rechenschaft zu ziehen. 

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