Humboldt Forum im Selbstversuch - Eine abenteuerliche Reise zu den Humboldts

Heute eröffnet das Humboldt Forum im wiederaufgebauten Berliner Schloss. Eine Familie hat sich aufgemacht, das neue Haus zu erkunden. Was dann folgte, waren viele Stunden Neugier und ein Tag voller Entdeckungen.

Im Humboldt Labor wird die Familie von einem Fischschwarm empfangen Foto: David von Becker
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Elke Buhr ist Chefredakteurin des Monopol Magazins

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Wie heißt eigentlich das Gesetz, das besagt, dass man für den familiären Aufbruch von zu Hause immer länger braucht, als man denkt? Und das überraschenderweise immer noch Gültigkeit hat, obwohl alle Beteiligten doch schon so selbstständig oder gar erwachsen sind? Trägheit der Masse wahrscheinlich. Der Neunjährige sucht seine Mütze, der 17-Jährige schaufelt noch schnell ein paar Nudeln in sich hinein und verkündet dann, sein Fahrrad sei kaputt. Die nächsten zehn Minuten gelten der Suche nach einem dieser schicken Mietroller, die erst verführerisch blinken und dann doch nicht genug Akku haben. Also wieder zurück aufs Rad.

Aber egal, irgendwann ist Berlins Humboldt Forum erreicht, der dort wartende Gatte hat die Zeit gut überbrückt. Und dann geht es los: Familien-Museumsbesuch. Eine Aktivität, die in vergangenen Jahren nicht unbedingt immer auf Begeisterung gestoßen ist bei der jüngeren Generation – wer eine Kunstkritikerin als Mutter hat, geht wahrscheinlich allein schon aus Notwehr lieber auf den Bolzplatz. Aber nach über einem Jahr pandemischer Ereignisarmut ist die Offenheit für kulturellen Input spürbar gewachsen. Hauptsache, man sieht mal was anderes. Und außerdem ist eine gewisse Neugierde da, schließlich haben wir über Jahre bei jedem Ausflug in Berlins Mitte dieser Baustelle beim Wachsen zugeschaut und am Abendbrottisch auch immer mal wieder über Sinn und Unsinn eines modernen Gebäudes mit barocken Fassadenteilen diskutiert. Letztere machen beim Zwischenstopp im Innenhof einen überraschenden Eindruck – es gibt viel zu gucken. Noch schneller als die eine Löwin unter den vielen Löwen an der Verzierung des Simses ist allerdings die Lautsprecherbox entdeckt, die gerade probeweise aufgebaut ist – mal wieder ein Open-Air-Konzert, das wär’s!

Ein kolossaler Empfang

Drinnen werden wir als Erstes von kolossalen Figuren empfangen – antike Helden und Götter, die der einstige Schlossbaumeister Andreas Schlüter über einem der Portale im kleinen Schlosshof hatte anbringen lassen. Jetzt stehen sie in einem Skulpturensaal im Erdgeschoss und schinden bei uns ungemein Eindruck. Doch nicht nur die Skulpturen erzählen von der wechselhaften Geschichte des Ortes, sondern auch ein riesiges Videopanorama sowie über das ganze Haus verteilte Spuren. Unten im Schlosskeller konnten wir die einzigen originalen baulichen Befunde besichtigen – die Reste eines alten Klosters sowie die Fundamente des Berliner Schlosses.

Doch die alten Zeiten sind vorbei. Von den großen Giganten schleichen wir schnell hinüber zum Vielteiligen und Winzigen. Eine Etage höher nämlich stehen wir vor einem Fischschwarm. Auf dem raumhohen Vorhang im Eingangsbereich des Humboldt Labors zappeln und zucken bunte Meerestiere, und wenn man sich ihnen nähert, reagieren sie sogar: Die schüchternen zischen ab, die neugierigen knubbeln sich vor der tastenden Hand. Das bunte Schauspiel künstlicher Intelligenz bildet den Auftakt für eine konzentrierte Ausstellung, die den wissenschaftlichen Reichtum der Berliner Forschungslandschaft so in Objekte und Filme übersetzt, dass wir alle einen ­Zugang finden. Wie viel der Drittklässler von dem Film über das Exzellenzcluster versteht, vor den er sich erwartungsvoll positioniert, weiß man zwar nicht – aber die Projektion und der Klang der großen Kopfhörer fesseln seine Aufmerksamkeit.

Afrika in Berlin

Weiter geht es in den großen ­Ausstellungsraum, der mit seinem futuristischen Look dem Namen Humboldt Labor alle Ehre macht. Wie Lichtinseln strahlen die Vitrinen mit den Exponaten in dem großen Raum, sie sind mit roboterartigen Armen aus der Filmtechnik an der Decke befestigt und können für Veranstaltungen einfach hochgezogen werden. Wie praktisch! Eine ganze Seitenwand ist Projektionen vorbehalten, Landschaften und Technikbilder ziehen vorüber, man sieht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die über Nachhaltigkeit oder die Verteidigung der demokratischen Grundordnung reden, Filmscreens fahren rauf und runter – und der 17-jährige Digital Native, der zu Hause beim Fernsehen immer zusätzlich ein Smartphone im Anschlag hat, merkt überraschenderweise an, das sei doch etwas viel Input auf einmal.

Zu Konzentrations- und Gesprächsinseln werden die Vitrinen, wo wir schnell bei der gruseligen abgetrennten Hand eines Schimpansen hängen bleiben – und von der Aufarbeitung des Präparats aus der Zoologischen Lehrsammlung ziemlich beeindruckt sind. Denn hier werden sorgfältig die politischen und historischen Zusammenhänge erklärt, wie die Kolonialherren in Afrika das Jagdrecht als Ausdruck von Herrschaft einführten, wie in Deutschland schon Anfang des 20. Jahrhunderts Evolutionsbiologie zu rassistischen Lehren missbraucht wurde.

Es gibt kein Exponat in dieser Ausstellung, bei dem nicht auf ähnliche Weise Wissenschaftsgeschichte hinterfragt wird – und selbst der Neunjährige findet das nach kurzer Erklärung durch seinen großen Bruder spannend, denn Themen wie Kolonialismus und Ausbeutung entflammen seinen Sinn für Gerechtigkeit. Ich höre noch schnell in Klangaufnahmen von Vordenkern der Négritude wie Frantz Fanon hinein. Der Gatte hingegen hätte wahrscheinlich den Rest des Tages im Lautarchiv für alte Sprachaufnahmen verbringen können: Seine tief empfundene Leidenschaft für Dialekte schiebe ich immer auf die Herkunft aus der Schweiz, wo sich die Leute ja endlos darüber unterhalten können, wer in welchem Kanton wie welchen Vokal ausspricht.

Das Rad der Geschichte

Aber jetzt müssen wir nachschauen, was man direkt gegenüber aus unserer aktuellen Heimatstadt gemacht hat. BERLIN GLOBAL, verantwortet von Kulturprojekte Berlin und dem Stadtmuseum Berlin, erwartet uns mit bunten Armbändern, die wir brav umschnallen. Im Laufe des Ausstellungsparcours werden wir immer wieder Türen mit verschiedenen Aufschriften begegnen, die Meinungen repräsentieren – je nachdem durch welche wir gehen, stimmen wir ab. Weniger auf diesem partizipatorischen Tool liegt unsere Aufmerksamkeit als auf den Exponaten und Installationen der Ausstellung, von denen viele ihren eigenen Mitmachwert haben.

Gemeinsam drehen wir am Rad der Geschichte und tauchen in Bilder der Revolution von 1918 ein, deren entscheidende Aktionen genau dort stattfanden, wo wir gerade stehen, auf dem Gelände des Berliner Schlosses. Großartig ist der Klang in der glänzenden Halbkugel, in der der Drittklässler mithilfe eines nachgebildeten Grammofons Platten aus den 1930er-Jahren anspielt, die in Berlin produziert wurden. Der 17-Jährige ist derweil an der Wand mit den Filmen und Tonbeispielen zur Geschichte des Berliner Hip-Hops hängen geblieben. Und wird bei dem Kapitel über Subkulturen ziemlich nachdenklich. Denn deutlich lieber als in dieser Ausstellung hätte er das Setting aus dem kürzlich erst geräumten Jugendzentrum Potse draußen an seinem angestammten Platz gesehen. Schon komisch, wenn einem die weggebrochenen Freiräume der Stadt als frisch gesäubertes Exponat in einer Ausstellung begegnen. Nacheinander stapfen wir dann durch die Tresortür aus Berlins legendärem Technoclub – doch bevor es zu einer gefährlichen Die-Alten-erzählen-von-früher-Situation kommt, tauchen wir schnell in das Kapitel über Berliner Mode ein.

Am Ende hängt die ganze Familie ziemlich platt in der Sitzlandschaft, in der man per Audioaufnahmen viele verschiedene Berlinerinnen und Berliner aus aller Welt über ihre Heimat reden hören kann. Beim Auschecken mit dem Chiparmband bekommen wir als Auswertung für unsere Abstimmungen unsere Position in der Werteskala: eher für Freiheit? Für Tradition? Für Sicherheit? Die Meinung des Familienrats ist klar: für Abendessen! Zu Hause am Abendbrottisch gibt es viele neue Gesprächsthemen. Und ein Fazit: Der perfekte Tag im Humboldt Forum wäre nicht einer, sondern mehrere. Die wird es ganz sicher geben, wenn auch das 2. und 3. Obergeschoss zugänglich sind und wir endlich einen Abstecher auf das Dach machen können.

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