Baltic Sea Philharmonic  - Nordische Schwäne, genussvoll dargeboten 

Unser Genusskolumnist hat keineswegs nur Essen und Trinken im Sinn. Er war am Donnerstag erstmals seit langer Zeit wieder in der Berliner Philharmonie und hat ein großartiges Konzert der Baltic Sea Philharmonic erlebt. Der Name des Orchesters ist Programm: Die Musiker kommen aus allen Anrainerstaaten der Ostsee. Von Dänemark bis Russland.

Die Baltic Sea Philharmonic in Berlin / Balcerowiak
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Es war fast eine Art kulturelles Erweckungserlebnis. Erstmals seit über zwei Jahren war ich wieder in der Philharmonie. Für die Musiker des Baltic Sea Philharmonic dürfte dies ähnlich sein, denn auch sie mussten die Tournee mit ihrem aktuellen Programm wegen Corona verschieben.

Der Name des Orchesters ist das Programm. Das 2008 anlässlich des Usedomer Musikfestivals gegründete Ensemble unter der Leitung von Kristjan Järvi vereinigt junge Musiker aus allen Anrainerstaaten der „Baltic Sea“, also jenes Binnenmeers, das in Deutschland als Ostsee bezeichnet wird.

Jenseits aller nationalen Rivalitäten und Konfrontationen arbeiten Musiker aus Dänemark, Estland, Finnland, Deutschland, Lettland, Litauen, Norwegen, Dänemark, Polen, Russland und Schweden zusammen, auf der Spur der verschiedenen und gemeinsamen kulturellen Ausprägungen in diesem nordischen Raum, in dem es trotz aller historischen Verwerfungen immer besondere Bindungen gab. 

Ein Orchester mitten in der Politik 

Die Konzerte sind choreografierte Gesamtkunstwerke mit Klang-, Licht- und Projektionskunst. Die Musiker spielen alle Werke auswendig, ohne Notenständer, was dem Erscheinungs- und Klangbild eine ganz eigene Dynamik verleiht. Und wenn Musiker, die möglicherweise mal in einer Nato-Armee oder in den russischen Streitkräften gedient haben, gemeinsam diese Energie produzieren, ist das heutzutage auch ein politisches Statement.

Ohnehin agiert so ein großer, aufwendiger Klangkörper nicht im luftleeren Raum. Es war seit der Gründung umstritten, dass die North Stream AG (später North Stream 2 AG) als Hauptsponsor fungierte. Diese Zusammenarbeit wurde Ende Februar – nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine – beendet. 

Schwäne als nordischer Mythos 

„Nordic Swans“ lautet der Titel des aktuellen Konzertprogramms, mit dem das Baltic Sea Philharmonic jetzt durch Europa tourt. Kaum ein Tier hat in der an Fabelwesen reichen nordischen Mythologie so einen großen Raum wie eben der Schwan mit seinen majestätisch-erhabenen Flugbewegungen und seiner sphärischen Anmut. Und die baltische Region gehört zu seinen wichtigsten Lebensräumen. So kann es kaum verwundern, dass sich sehr viele Künstler dieser Länder auf die eine oder andere Art und Weise mit dem Wesen und dem Erscheinungsbild von Schwänen auseinandersetzen. 

Wie zum Beispiel der estnische Komponist Arvo Pärt, dessen elegischer „Swan Song“ eine Momentaufnahme eines Schwanenzuges und seines Entschwindens in der Ferne zeichnet. Wesentlich mystischer geht es beim finnischen Nationalkomponisten Jean Sibelius zu. „Der Schwan von Tuonela“ führt in die dunklen Zwischenwelten des finnischen Nationalepos Kalevala“ und verliert sich am Ende in zittrigen Streichern und einem leisen Trommelschlag   

Den Abschluss bildete schließlich jenes Werk, das seit seit Entstehung und bis zum heutigen Tag weltweit zum Symbol für die künstlerische Beschäftigung mit Schwänen geworben ist: Peter Tschaikowskys „Der Schwanensee“. Doch Dirigent Kristjan Järvi hat dieses Werk von seiner Rolle als Funktionsmusik für ein Ballett quasi entkoppelt und zu einer dramatischen Symphonie umgearbeitet. Eine etwas hochtrabende Bezeichnung, denn Järvis Bearbeitung kommt eher als Potpourri schmissiger Tänze, Märsche und Hymnen daher, verbunden durch elegische Passagen.    

Mehr als nur ein Konzert 

Es ist eben dieser Spannungsbogen von der „einfachen“ Annäherung an die Erhabenheit dieser Tiere beim „Swan Song“, über die Auslotung ihres Wesens und ihrer Verbundenheit zu dunklen Sphären in Sibelius’ „Der Schwan von Tuonela“ bis hin zur mächtigen, lebensfrohen Hymne an die stolzen Schwäne auf der Basis von Leitthemen von Tschaikowskis „Schwanensee“. Ein Spannungsbogen, der dem Dirigenten und den über 60 Musikern viel abverlangt.

Järvi meistert diese Aufgabe mit Bravour. Mal führt er das Orchester mit weichen, ausladenden Gesten, mal setzt er harte, präzise Signale. Er lebt die Rhythmen mit dem ganzen Körper, manchmal hüpft er wie ein Gummiball oder fast wie ein Breakdancer über die Bühne, um schließlich abrupt zu bremsen. Das Orchester folgt ihm aufmerksam und hat erkennbar großen Spaß. Und einige choreographierte Bewegungsabläufe und das dezente, aber präzise Lichtdesign machen dieses ohnehin atemberaubende, ohne Pause dargebotene Konzerterlebnis zu einem multimedialen Erlebnis. 

Unverzichtbare Seelennahrung 

Nach knapp zwei Stunden verlässt man schließlich mit einem entspannten Lächeln und einem befreiten, licht- und klangdurchfluteten Kopf die Berliner Philharmonie. Es sind derartige, relativ kurze Genussmomente, in denen es im Kopf keinen Krieg, kein Corona und keine Klimakrise gibt, die für die mentale Gesundheit so unverzichtbar sind. Vor allem, weil sie sich im Gedächtnis verankern. Und am Wochenende werde ich mal an die Spree oder den Landwehrkanal fahren. Da sind bestimmt Schwäne. 

Am heutigen Sonnabend spielt das Baltic Sea Philharmonic im Europäischen Solidaritätszentrum in Danzig. Ein Konzert, das ganz im Zeichen der Solidarität mit der Ukraine steht. Schirmherr ist Lech Walesa, der Gründer der Bewegung Solidarność und von 1990 bis 1995 polnischer Staatspräsident. Das Konzert kann ab 20 Uhr kostenlos im Livestream verfolgt werden. 

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