Zum 100. Geburtstag von Astor Piazzolla - Das 20. Jahrhundert in einem Tango verdichtet

Astor Piazzolla war ein Meister der kulturellen Aneignung. In seinem „Neuen Tango“ ist das gesamte 20. Jahrhundert musikalisch anwesend. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden.

Der argentinische Bandoneon-Spieler und Komponist Astor Piazzolla gilt als Begründer des Tango Nuevo und wäre heute 100 Jahre alt geworden. / dpa
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Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Natürlich ist das Jazz. Natürlich ist das klassische Musik. Wo immer man hineinhört in Astor Piazzollas Tango-Werk und in seine kammermusikalischen Ensembles: Man hört es. Auch die Besetzungen bürgen dafür, mit Cello, und stets mit Pianisten, die alles können, die von Rachmaninov oder Scriabin erst in den Jazz, dann in den Tango gleiten. Und natürlich mit den atemberaubenden Violinisten, Teufelsgeigern des Jahrhunderts.

Astor Piazzolla lebte als Kind und Jugendlicher in New York, wohin er 1925 mit seinen italienischstämmigen Eltern aus Mar del Plata bei Buenos Aires gezogen war. 1936 ging die Familie zurück. Er wächst in gewalttätiger Atmosphäre in Manhattan auf. Kämpft in der italienischen Gang gegen die jüdische Gang. Und saugt Musik auf. Jüdisch-osteuropäische Klezmer-Musik von den Hochzeiten im Viertel. Den Jazz-Sänger Cab Calloway in den Clubs, Duke Ellington und George Gershwin. Und er hört den Nachbarn im Haus neun Stunden am Tag Klavier spielen – meist Bach. Es ist der ungarische Pianist Béla Wilda, ein Schüler Rachmaninovs. Der wird tatsächlich Astors Musiklehrer, für Maniküre durch die Mutter und regelmäßige Pasta – und arrangiert für den Jungen Chopin und Bach fürs Bandoneon.

Strawinskys Partitur auf dem Nachttisch 

Diese multiple verdichtete musikalische Erfahrung wird durch Astor Piazzolla einen Tango verändern, der selbst schon, in den 1880er Jahren in den Vororten von Buenos Aires, als Mischung musikalischer Einwandereridiome entstand: von Zarzuelas und Habaneras, Polkas und Walzern. Auch wenn den jungen Piazzolla dieser Tango, den er abends mit seinem Vater auf dem Grammophon hört, zunächst weit weniger fasziniert.

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Anfang der 40er Jahre hat Piazzolla die Partitur von Strawinskys „Sacre du Printemps“ immer auf dem Nachttisch liegen. 1941 klingelt er bei Arthur Rubinstein in Buenos Aires, um ihm eine Klavierkomposition vorzulegen. Der nimmt sich einen halben Nachmittag Zeit für den Unbekannten und Unangemeldeten, spielt das Werk auf seinem Steinway, sagt seine Meinung und vermittelt ihm telefonisch seinen Kompositionslehrer der kommenden Jahre.

Er gehört zum Tango

Ein Stipendium ermöglicht ihm 1954 das Studium bei Nadia Boulanger in Paris, der großen Kompositionslehrerin, Freundin von Strawinsky und Maurice Ravel und Lehrerin von Aaron Copland, Leonard Bernstein oder Quincy Jones. Bei ihr lernt Piazzolla für sein Komponieren Kontrapunkt und Fuge – sie aber spürt und vermittelt ihm, dass er zum Tango gehört.

Trotzdem: Er studiert Ravel und Debussy, Prokofiev und Bartók, und er lässt Harmonik und Rhythmik der klassischen Moderne in seine Tangos fließen – oder schlagen, im Falle Bartóks, in harten Akzenten. Er amalgamiert die Musik eines Jahrhunderts in seinem „Neuen Tango“, dessen Geburtsjahr er einmal mit 1955 angab. Emotionale Intensität und Grundcharakteristika des Tango blieben, aber kompositorisch und rhythmisch wurde er modern.

Und alle pilgerten sie dann nach Buenos Aires, um Piazzollas Ensembles zu hören: Aaron Copland selbst, der hinreißende Komponist der amerikanischen Moderne, die Größen des amerikanischen Jazz, von Stan Getz bis Dizzy Gillespie, und die Brasilianer, von Joao Gilberto bis Milton Nascimento.

Das Genie Astor Piazzolla

Astor Piazzolla war ein Genie der kulturellen Aneignung – früher „Bildung“ genannt oder Offenheit für Inspiration, von woher auch immer. Und diese Gabe der Begegnung, des Anschlusses und der Verbindung verließ ihn nicht. Mit Gerry Mulligan, dem Bariton-Saxofonisten, dessen coolem Swing er viel verdankt, seit er ihn 1955 in Paris zuerst gehört hatte, nimmt er 1974 eine seiner besten Platten auf. Mit Jeanne Moreau, für die er 1975 eine Filmmusik schrieb, ist er in Paris oft zusammen.

„Sie ist eine sensationelle Frau“, schrieb er einem Freund. „Sie kennt sich mit Musik aus. Sie besitzt auch eine außerordentliche Gemäldesammlung, Paul Valerys Notizbücher, Le Corbusiers Möbel, und die unglaublichste Plattensammlung, von Gregorianischen Gesängen bis zu den Rolling Stones.“

100 Jahre...  

Für Pina Bauschs Tanztheater komponiert er. Mit der wunderbaren italienischen Sängerin Mina spielt er 1972, mit Georges Moustaki nimmt er 1982 auf, mit Milva 1985. Er fand, dass Milva die beste weibliche Gesangs-Interpretin seiner Musik war. Mstislaw Rostropowich spielt 1990 die Uraufführung von Piazzollas „Großem Tango“ für Cello und Piano. Mit dem Kronos Quartett nimmt er ebenfalls 1990 sein letztes Album auf. Aber stets klingt durch ihn das ganze Jahrhundert: Sein Gitarrist ist bis in die 70er Jahre Cacho Tirao, der einst Josephine Baker begleitete.
Astor Piazzolla starb am 4. Juli 1992 in Buenos Aires. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden. Man hört in seinen Tangos das 20. Jahrhundert verdichtet.

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