Armut und Wohlstand - „Konsum ist wahnsinnig angenehm“

Früher arm, heute wohlhabend: Wie verändert Geld unser Leben? Diese Frage stellt sich Anna Mayr in ihrem neuen Buch „Geld spielt keine Rolle“. Im Interview spricht sie über Konsum, Entfremdung und linken Pragmatismus.

Macht Konsum uns glücklich? / picture alliance
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Autoreninfo

Lukas Koperek ist Journalist und lebt in Mannheim und Berlin.

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Anna Mayr ist Autorin und Redakteurin im Politikressort der Wochenzeitung Die Zeit. In ihrem ersten Buch, „Die Elenden“, erschienen 2020 im Hanser Verlag, geht es um das Thema Armut. Ihr zweites Buch, „Geld spielt keine Rolle“, ist am 20. März 2023 erschienen.

Frau Mayr, in Ihrem neuen Buch „Geld spielt keine Rolle“ reflektieren Sie über Ihr Verhältnis zu Geld. Was bedeutet Wohlstand für Sie?

Kurz gesagt: mit einer Sorglosigkeit durch die Welt zu gehen.

Sie selbst sind in schwierigen finanziellen Verhältnissen aufgewachsen. In einer Talkshow haben Sie, passend dazu, mal gesagt, Armsein bedeute das Fehlen von Selbstverständlichkeit.

Ein Beispiel: Wenn ich früher mit dem Zug gefahren bin, habe ich mir riesige Sorgen darüber gemacht, dass mein Ticket nicht überall gültig ist oder ich falsch einsteige und an irgendeinem Bahnhof strande. Aber in dem Moment, wo man Geld hat, verschwinden diese Ängste. Wenn ich heute an einem Bahnhof strande, ist das zwar nervig, aber dann gehe ich zum nächsten Hotel und nehme mir ein Zimmer. Diese Sorglosigkeit führt natürlich auch dazu, dass man manchmal Geld verschwendet und irgendeinen Quatsch kauft – aber es kann einem ja egal sein.

Um das Armsein ging es in Ihrem ersten Buch, „Die Elenden“. Woher kommt dieser Antrieb, über Ihre finanzielle Situation zu schreiben?

Die Autorin Anna Mayr / © Anna Tiessen

Der Antrieb zu dem ersten Buch kam aus meinem Inneren. Das habe ich quasi 25 Jahre lang geschrieben. Meine Eltern waren sehr politisch, ich habe schon früh ein Verständnis für unsere Situation entwickelt. Irgendwann hatte ich dann eine Agentin und einen Verlag, und das war dann eben der Zeitpunkt, wo der Text entstanden ist. Was ich im Nachhinein interessant fand: Viele Leute haben sich gerade von den Teilen des Buches angesprochen gefühlt, in denen es um Konsumentscheidungen geht. Dabei spielten die in „Die Elenden“ eigentlich eine untergeordnete Rolle.

Und das war die Inspiration für „Geld spielt keine Rolle“?

Das Thema Konsum – was man sich alles so kauft von seinem Geld – war für mich einfach präsent. Beim Schreiben meiner Kolumne für Die Zeit habe ich festgestellt, dass ich immer häufiger über Sachen geschrieben habe, die ich kaufe oder besitze, sodass es fast schon zum festen Thema der Kolumne wurde. Das war für mich ein Zeichen dafür, dass daraus vielleicht auch ein Buch werden könnte.

In dem Buch geht es auch um die Zerrissenheit, die Sie als Linke gegenüber Ihrem neu gewonnenen Wohlstand empfinden. Ein reicher Neoliberalist – das ist immerhin konsistent. Finden Sie, mehr Linke sollten Ihre Privilegien hinterfragen?

Ach, das machen die ja sowieso schon, und am Ende kommt da auch nichts bei heraus. Wenn ich meine Privilegien hinterfrage, habe ich noch nichts Positives in der Welt bewirkt. Etwas Positives bewirken kann man, indem man Leuten hilft – eine Sache findet, die nicht richtig ist, und versucht, sie besser zu machen. Wenn jemand es schafft, dass irgendwo ein armes Kind 25 Euro mehr hat, ringt mir das Respekt ab. Und dann ist es mir eigentlich auch egal, ob derjenige gerne sehr teuren Ziegenkäse isst und seine Abende damit verbringt, Wein zu trinken und über den neuen Roman von Eribon zu reden. Das ist so ein Pragmatismus, den man sich aneignen muss.

Unter anderem schreiben Sie auch über die sogenannten Effektiven Altruisten, die den Ansatz vertreten, überflüssiges Geld nach einer Priorisierung zu spenden: Wem es am schlechtesten geht, bekommt zuerst und am meisten. Das leuchtet erstmal ein, ist aber als Anspruch kaum praktisch umsetzbar – was vielleicht auch ein Problem ist, auf das viele Linke irgendwann stoßen.

Ich bin da noch nicht am Ende meines Denkprozesses. Pragmatismus kann sicherlich auch zur Ausrede werden, wenn wir Adorno zitieren und sagen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen, also kann ich genauso gut ein Arsch sein. Das funktioniert nicht ewig.

Das Gefühl von Fremdheit, mit dem Sie hohe Ausgaben beschreiben, bewirkt, dass man beim Lesen manchmal einen anderen Blickwinkel auf seinen Konsum bekommt – wir geben viel Geld für Unsinn aus. Kann man schon von Dekadenz sprechen?

Ich bin immer vorsichtig damit, Geld und Geldhaben zu verteufeln. Generell ist es gut, wenn für einen gesorgt ist. Allerdings beobachte ich, dass wir in der westlichen Welt keine Beziehung mehr zu den Dingen haben, die wir konsumieren. Ich versuche gerade, ein Jahr lang keine neue Kleidung mehr zu kaufen, weil ich gemerkt habe: Es wird mir immer gleichgültiger, ob der Preis, den ich zahle, gerechtfertigt ist und ob die Näherin, die die Kleidung macht, einen fairen Lohn dafür bekommt. Es war okay, das beiseite zu schieben, als ich kein Geld hatte. Wenn man die Wahl hat, finde ich es nicht mehr okay.

Warum fällt es uns so schwer, nichts Neues zu kaufen?

Dieser beziehungslose Konsum ist natürlich wahnsinnig angenehm. Man muss nichts dafür tun, man muss nicht einmal suchen – man bekommt Produkte einfach als Werbung auf Instagram serviert und in drei Tagen nach Hause geschickt. Mit dem Essen ist es ähnlich. Wir wissen nicht, wer den Brokkoli geerntet und die Kuh geschlachtet hat. Und ich glaube, das macht wirklich unglücklich – im Kern.

Diese Entfremdung ist auch in den Teilen des Buches spürbar, die von der Abstraktheit unserer finanziellen Entscheidungen handeln, zum Beispiel beim Abschließen von Versicherungen. Macht Geld unser Leben kompliziert?

Ich denke, wir würden es nicht schaffen, unsere Gesellschaften anders zu organisieren als mit Geld. Es gibt eine Währung, die ein Staat ausgibt, damit ein Volk sich auf einen allgemeinen Wert einigen kann – und erst das stellt dann sicher, dass es einen Staatsapparat gibt, Polizisten, Lehrer, und die Menschen einer Arbeit nachgehen. Bei so vielen Leuten, wie wir sind, wäre es wohl extrem schwierig, das Leben ohne Geld zu organisieren. Mir fällt allerdings auf, dass Menschen mit mehr Geld weniger Reziprozität leben. Ich erinnere mich, dass wir früher in der Nachbarschaft relativ viel miteinander zu tun hatten. Man wusste, wer die Leute waren, hat sich um die Fische der Nachbarn gekümmert, die Hunde Gassi geführt, für die Oma nebenan eingekauft. Leute mit Geld machen das eher nicht. Wenn man den Katzensitter bezahlen kann, fragt man nicht den Nachbarn. Das macht auch einsam.

Unser Verständnis von Armut und Wohlstand ist ja auch insofern bemerkenswert, als die Begriffe immer nur im Verhältnis Bedeutung bekommen. Absolut betrachtet lebt ein Mittelständler in Deutschland heute mit mehr Komfort als Julius Cäsar – zumindest in gewisser Hinsicht.

Gefühle sind immer relativ, nicht nur wenn es um Geld geht. Zum Beispiel auch beim Thema Liebe. Jemand, der in einem extrem liebevollen Elternhaus aufgewachsen ist, wird trotzdem manchmal in der gleichen Intensität auf seine Eltern wütend sein wie jemand, der mit extrem gemeinen Eltern aufgewachsen ist. Ich denke, die Amplituden von Gefühlen sind immer die gleichen, nur die Auslöser sind – von außen betrachtet – unterschiedlich stark. Die Menschen zu Cäsars Zeiten waren wahrscheinlich im gleichen Maße glücklich oder traurig wie wir, nur die Auslöser waren anders.

Das ist auch ein interessanter Gedanke in Bezug auf das Thema Fortschritt. Wir leben in dem Glauben, dass unsere Welt durch technische Innovation immer besser wird. Aber ist der Mensch heute glücklicher als vor 10.000 Jahren?

Das ist eine spannende Frage, die man kaum beantworten kann. Ich denke schon, dass wir viel Leid abschaffen könnten und dass man gewisse Sorgen auch mit Geld wegkaufen kann. Aber trotzdem tendiert der Mensch nicht dazu, eines Tages zufrieden zu sein.

Beim Lesen Ihres Buches kam mir ein Zitat von Oscar Wilde in den Sinn: „Heute kennt man von allem den Preis und von nichts den Wert.“ Ist das so – verklärt materieller Wohlstand unseren Blick für immaterielle Werte?

Der Gedanke, der mich in Bezug auf das Verhältnis von Preis und Wert im Moment am meisten beschäftigt, ist der des Gebens und Nehmens. Ich denke, dass unsere Gehirne für viele Dinge, die wir tagtäglich tun, eigentlich nicht gemacht sind. Für das Autofahren zum Beispiel – man kann es zwar lernen, aber eigentlich sind unsere Gehirne nicht in der Lage zu erfassen, wie schnell so ein Auto fährt. Ähnlich ist es mit dem Lesen. Lesen ist wie Tanzen. Fast jeder Mensch lernt von alleine das Laufen, aber nicht jeder Mensch lernt von alleine Cha-Cha-Cha. Lesen ist für das Gehirn wie Cha-Cha-Cha. Man muss es ihm beibringen. Und trotzdem ist das Lesen ein elementarer Bestandteil unserer Welt. Ich denke, genau so ist es beim Geld. Unsere Gehirne sind nicht dafür gemacht, dass es so etwas wie eine Währung gibt, die mehr oder weniger universell ist, weil man sie für alles Mögliche hergeben kann.

Das ist wieder das Thema der Abstraktion.

Zum Beispiel: Früher musste man erst eine Pflanze gießen und hat dann eine Frucht geerntet. Oder man hat einen Vogel geschossen und den gegessen – es war ein direktes Geben und Nehmen mit der Umwelt. Aber dann ist das Geld gekommen. Das Geld entkoppelt einen von dem, was man dafür bekommt. Wenn ich mir einen Mantel kaufe, habe ich nichts zu tun mit den Leuten, die ihn hergestellt haben, ich muss mich nicht einmal bei ihnen bedanken. Ich muss einfach nur das Geld hergeben.

Das Geld vereinfacht also, aber es entfremdet auch.

Es überfordert uns, denke ich. Es überfordert unsere Fähigkeit, mit Ressourcen umzugehen. Wenn wir etwas kaufen, denken wir nicht über Ressourcen und Zeitaufwand und Arbeitskraft nach, die zum Beispiel in so einen Mantel geflossen sind. Wir rechnen nur Geld gegen Ware. Aber wenn ich wüsste, was diesem Mantel schon passiert ist und woher er kommt, wenn ich die Kaschmirziege persönlich kennen würde, dann würde ich ihn vielleicht ganz anders behandeln.

Das ist wohl auch einer der Gründe, warum es so schwierig ist, sich die Auswirkungen seines Lebensstils bewusst zu machen. Man geht nicht in den Sweatshop, um sich Sneaker zu kaufen.

Ja. Es ist ziemlich absurd.

Noch einmal zurück zu Ihrem Buch. Auf die Frage, ob Wohlstand auf Glück oder Eigenleistung zurückzuführen sei, schreiben Sie, dass „alles aus Glück besteht und Leistung egal ist“. Stehen Sie dazu?

Es ist kompliziert. Wenn ich diese Frage zu hundert Prozent durchexerzieren wollte, müsste man mich exakt so, wie ich bin, noch einmal vor andere Umstände stellen und schauen, ob ich dann an der gleichen Stelle rauskomme. Das geht natürlich nicht. Aber ich würde sagen, dass auch unter Glück fällt, als was für ein Mensch man geboren wird. So etwas wie eine gewisse Resilienz, also die Fähigkeit, Krisen zu ertragen, ist letztendlich auch Glück – manche Menschen haben das, manche nicht. Man kann es nicht auseinanderhalten: Ist es Leistung oder Glück? Ich kann ziemlich viel schaffen, ich lese zum Beispiel sehr schnell, was ganz elementar ist in unserem Job, und es fällt mir leicht, Entscheidungen zu treffen. Aber so war ich schon immer, da habe ich nichts für getan.

Am Ende Ihres Buches heißt es: „Es fiel mir schwer, dieses Buch zu schreiben, weil ich keine Handlungsanweisung habe.“ Könnte man vielleicht sagen, eine Maxime, die sich aus der Lektüre ergibt, ist die Aufforderung zur Selbstbeobachtung: Wie gebe ich mein Geld aus?

Ja, vielleicht. Wenn man sich den ganzen Tag selbst reflektiert, und es geht einem einfach nur schlecht dabei, ist keinem geholfen. Aber wenn sich daraus eine Idee ergibt, wie man eine positive Veränderung für sich und seine Mitmenschen erwirken kann, würde ich sagen, die Selbstreflexion ist eine gute Handlungsmaxime. Andererseits ist auch niemand gezwungen, etwas zu verändern. Deshalb habe ich auch keine Forderung ins Buch geschrieben. Ich glaube, im Grunde weiß jeder für sich, wann er sich selbst peinlich ist.

Das Gespräch führte Lukas Koperek.

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