ARD-Vorsitzende Patricia Schlesinger - „Es geht nicht nur um links oder rechts“

Seit Jahresbeginn ist rbb-Intendantin Patricia Schlesinger auch ARD-Vorsitzende. Im Interview spricht sie über ihre Ideen, wie mehr Meinungspluralismus in der ARD möglich wäre, über Antisemitismusvorwürfe gegen ihr Haus und twitternde Redakteure. Sie erklärt, warum sie zwar nicht gendert, es anderen aber auch nicht verbieten will. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sieht sie als „Rückgrat der Demokratie“ und spricht vom Recht der Gebührenzahler auf „klare, saubere und ungiftige Nachrichten“.

Patricia Schlesinger ist Intendantin des rbb und seit 1. Januar ARD-Vorsitzende / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Patricia Schlesinger ist Intendantin des rbb und seit 1. Januar ARD-Vorsitzende. Cicero traf sie Anfang Februar in ihrem Büro an der Berliner Masurenallee. Kurz vor Beginn des Gesprächs wurde bekannt, dass Russland die Deutsche Welle verbieten, die Korrespondentenbüros schließen und den Journalisten die Akkreditierung entziehen will. In der Folge wird das Gespräch mehrfach unterbrochen, weil eine gemeinsame Erklärung von ARD, ZDF und Deutschlandradio entstehen soll. In der Form ein Novum in der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Der russische Überfall auf die Ukraine war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar.

Frau Schlesinger, vor wenigen Minuten kam über den Ticker, dass Russland das Büro der Deutschen Welle schließen lässt. Jetzt geht es Schlag auf Schlag, und Sie stimmen sich sehr orchestriert ab für ein gemeinsames Statement von ARD, ZDF und Deutschlandradio. Darf ich annehmen, dass Sie sich nach vier Wochen im Amt der ARD-Vorsitzenden schon ganz gut eingelebt haben?

Wir konnten hier beim rbb von Tag eins an durchstarten, weil wir ein echt gutes Team sind, uns intensiv vorbereitet haben und schnell und direkt miteinander kommunizieren. Diesen Umgang habe ich mir auch von den anderen Intendanten erbeten. Wir haben alle Handys, wir können direkt miteinander reden und müssen nicht immer über die Büros gehen.

Also weniger Brief mit Wachssiegel und mehr WhatsApp?

Genau. Und ohne die Frage, wer jetzt zuerst wen durchstellen darf. Das ist Old School.

Starten wir darüber hinaus mit einer Bestandsaufnahme: Wo steht die ARD Anfang Februar 2022?

Die ARD steckt im größten Transformationsprozess seit ihrem Bestehen. Wir reformieren die ARD zwar bereits seit einigen Jahren, aber mit mehr Tempo – nach innen wie nach außen. Die Digitalisierung trägt dazu maßgeblich bei.

Sie meinen die Vernetzung der Mediatheken zum Beispiel?

Das ist schon der zweite Schritt. Der erste Schritt war der Beschluss, dass die Mediathek genauso wichtig ist wie das Erste. Allen Beteiligten ist klar: Die Mediathek wird wichtiger werden als das lineare Programm. Wir unternehmen deshalb große Reformbemühungen in den Häusern, um die Mediathek und das Digitale aufzuwerten und insgesamt nahbar zu machen. Wo wir das bereits tun, sind wir auch schon richtig gut.

Haben Sie ein Beispiel?

Die Tagesschau hat bei Instagram 3,6 Millionen Abonnenten, bei TikTok 1,2 Millionen Follower und gehört bei jungen Menschen zu den erfolgreichsten Informationsformaten. Genau das ist der Auftrag, den wir zu erfüllen haben: die Menschen dort zu erreichen, wo sie sind. Auch die Über-50-Jährigen informieren und unterhalten sich schließlich längst im Netz.

Und was machen Sie noch nicht so gut?

Wir brauchen mehr Dialog mit den Menschen, die für uns bezahlen. Das hat Tom Buhrow mit dem „Zukunftsdialog“ erfolgreich begonnen, aber ich glaube, wir müssen einen Schritt weitergehen und mehr Präsenz in den Regionen zeigen. Deshalb haben wir zum Beispiel beim rbb das Netz an Regionalkorrespondenten um 14 zusätzliche Reporter und Reporterinnen vergrößert. Wir müssen aber auch als Intendantinnen und Intendanten raus und mit den Menschen, unseren Zuschauern, Hörern und Nutzern direkt reden.

Inwiefern?

Ich habe angefangen, mich mit Menschen zum Gespräch zu treffen, die einem Ehrenamt nachgehen. Zum Auftakt waren wir bei der Freiwilligen Feuerwehr in Genthin (Stadt in Sachsen-Anhalt - Anm. d. Red.) und haben zehn Männern zugehört, wie sie unsere Arbeit sehen und was sie beschäftigt. Solche Gespräche sind wichtig, denn ein bisschen ist uns – nicht der ARD allein, sondern generell der Gesellschaft – die Fähigkeit zur zivilisierten Auseinandersetzung verloren gegangen. Die Fähigkeit, gedanklich um etwas Gutes zu ringen und es für möglich zu halten, dass unser Gegenüber vielleicht einen Punkt hat oder sogar Recht.

Wenn wir heute ein öffentlich-rechtliches System erdenken würden: Wie sähe das wohl aus?

Ich mag diese „What if?“-Geschichten nicht so gerne: Wir haben diesen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wie er ist, und er ist föderal organisiert wie unser Land. Damit sind wir gut aufgestellt, wir wissen alle, warum das so ist. Das heißt nicht, dass Reformen nicht richtig und wichtig sind. Die Frage ist, welches Rundfunk- beziehungsweise Mediensystem sich eine Gesellschaft leistet. Und wir leisten uns ein gutes, ein duales Rundfunksystem aus Öffentlich-Rechtlichen und Privaten.

Ein öffentlich-rechtliches System, das aber auch sehr groß und sehr teuer ist.   

Einerseits. Andererseits: Netflix kostet in HD-Qualität 18 Euro, Dazn nimmt 30 Euro im Monatsabo. Und dafür gibt es weder Hörfunk noch Nachrichten noch regionale Kultur noch Auslandsberichterstattung.

Mit dem Unterschied, dass ich bei Netflix und Dazn selber entscheiden kann, ob ich dafür zahlen möchte.

Wissen Sie, wenn Sie in Deutschland eine Wohnung beziehen, egal wo …

Jetzt bin ich gespannt ...

… egal, ob in der Stadt oder auf dem Land, ob im Norden, Süden, Westen oder Osten, dann haben Sie einen Wasseranschluss. Ob Sie nie duschen oder ob Sie ihr Wasser nur aus Flaschen trinken, ist völlig egal. Sie zahlen für diesen Wasseranschluss, aus dem klares, sauberes und ungiftiges Wasser strömt. So ähnlich ist es mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Sie haben in diesem Land einen Anspruch auf klare, saubere und ungiftige Nachrichten.

Heute kann dennoch jeder überall und zu jeder Zeit auf Informationen zugreifen. Warum brauchen wir trotzdem noch zwei öffentlich-rechtliche Hauptsender, namentlich Das Erste und das ZDF? Das Angebot ist doch relativ ähnlich.

Finden Sie das wirklich? ARD und ZDF kooperieren, wo es sinnvoll ist, zum Beispiel beim „Morgenmagazin“ oder beim „Mittagsmagazin“. Ansonsten stehen wir in kluger Konkurrenz zueinander. Ich halte den Wettbewerb gerade bei den Nachrichtensendungen und bei den großen politischen Magazinen für sinnvoll. Uns geht es mit beiden Vollprogrammen verdammt gut.

Verglichen mit?

Schauen Sie in die USA mit ihren polarisierten und polarisierenden Medien. Da sehen Sie die Folgen fehlgeleiteter Medienpolitik. NPR spielt praktisch keine Rolle, PBS genauso wenig, obwohl beide einen überzeugenden Job machen.

Die britische BBC ist relativ groß in den USA.

Und warum? Weil sie in den USA kein eigenes gutes System haben. Ich glaube daran, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland Teil des Rückgrats dieser Demokratie ist. Es geht Demokratien besser und sie sind stärker, wenn sie über ein gutes öffentlich-rechtliches System verfügen.

Ich habe mir einen Kompromissvorschlag überlegt: Wir behalten Das Erste und das ZDF, aber einen von beiden Sendern machen wir spürbar konservativer, damit wir nicht zwei große linkspolitische Sender haben.

Haben wir zwei linkspolitische Sender? Sehen Sie das wirklich so?

Sagen wir so: Die Schlagseite ist schon relativ deutlich. Kennen Sie ein bekanntes Gesicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wo Sie sagen würden, der wählt definitiv nicht links?

Ja. Auch im Hörfunk haben wir Moderatoren mit konservativer Grundhaltung.

Aber wir sind ja gerade bei Das Erste und beim ZDF.

Wir achten darauf, dass unterschiedliche Stimmen vorkommen. Aber ich weiß, wo Sie hinwollen. Mein Lieblingsbild ist da der See: Stehe ich am Südufer und schaue nach Norden, sehe ich Bäume. Stehe ich am Nordufer und schaue nach Süden, ist da Strand. Es ist immer noch derselbe See, aber aus unterschiedlichen Perspektiven. Und dass es bei uns hier oder dort Nachholbedarf gibt, gestehe ich gern zu, und da sind wir auch dran.

Der bekannte rbb-Moderator Jörg Thadeusz meinte vergangenes Jahr in einer Diskussionsrunde, die Öffentlich-Rechtlichen seien ein „Tendenzbetrieb“.

Die Öffentlich-Rechtlichen ist ein bisschen wie die Medien. Ich kann mit solchen Aussagen nichts anfangen. Man muss schon klar benennen, wo genau nicht sauber, an welcher Stelle einseitig berichtet wurde. Ich schließe nicht aus, dass das vorkommt. Aber seit ich hier in Haus angetreten bin, haben wir beim rbb viele Dinge maßgeblich geändert, um den ganzen See zu überblicken.

Sie sprachen gerade davon, mehr politische Sichtweisen reinbringen zu wollen. Wie soll das gelingen?

Wir arbeiten zum Beispiel an einem Meinungsformat. Rechts und links, alt und jung … etwas, bei dem unterschiedliche Meinungen aufeinanderstoßen.

Wie „Pro und Contra“ damals?

„Pro und Contra“ war gut, es hatte seine Zeit. Aber jetzt kommt bestimmt gleich Ihr Vorschlag, ein Duo wie ehedem Kienzle und Hauser wiederzubeleben.

Das fände ich gut.

Ja, aber da war nichts spontan, das war gescriptet.

Schauen Sie, das wusste ich nicht.

Ich auch nicht, bevor ich mich damit beschäftigt habe, eben, weil ich so etwas in der Art gerne im Programm sähe. Aber es geht nicht nur um links oder rechts, sondern um unterschiedliche Horizonte, um unterschiedliche Hintergründe. Um ein Beispiel zu nennen: Auch junge Menschen kommen auf uns zu und sagen: „Wo ist die Talkshow für mich? Für Menschen, die so alt sind wie ich? Die so aussehen wie ich? Und mit den Fragen, die unsere Generation berühren?“ Das haben wir im Netz, jedoch nicht im Linearen.

Ich musste gerade an Funk denken. Da gibt es schöne Sachen: Der Hijab als Zeichen des Feminismus und die Critical-Whiteness-Theorie. Ich bin ganz bei Ihnen, dass der ÖR Formate für junge Menschen braucht. Aber welche jungen Leute soll derlei außerhalb einer bestimmten Bubble denn bitte abbilden?

Haben Sie sich den Erfolg von Funk denn mal angeschaut?

Naja, das ist wahrscheinlich wie beim „Tatort“: Die Hälfte der Leute schaut nur zu, um sich zu beschweren. Meine Theorie.

Ich glaube nicht, dass sich elf Millionen Menschen den „Tatort“ oder den „Polizeiruf“ nur deshalb anschauen, um sich anschließend zu beschweren. Das ist Lagerfeuerfernsehen. Und wenn Sie mich nach Funk fragen: Ich finde das meiste, aber auch nicht alles toll, was dort gemacht wird – ich bin aber auch nicht die Zielgruppe. Wenn wir mit solchen Formaten junge Leute erreichen, dann ist das genau richtig. Und wenn sie dabei aus meiner Sicht mal über das Ziel hinausschießen – Stichwort Hijab –, dann müssen Sie und ich auch aushalten, dass es dort andere Meinungen, andere Auffassungen gibt. Das Kopftuch als Zeichen des Feminismus und modisches Beiwerk zu bezeichnen: Das kann man so sehen. Muss man aber vielleicht nicht.

Patricia Schlesinger in ihrem Büro / dpa

Meinungspluralismus ist gut und fein. Aber erstens werden bei Funk Theorien und Weltanschauungen als Fakten verkauft. Zum Beispiel, dass es keinen Rassismus gegen Weiße gebe. Und zweitens: Wenn Funk, sagen wir mal, die Erstwähler abbildet, die die Grünen gewählt haben. Wo sind dann die Erstwähler, die ihre Stimme der FDP gegeben haben?

Niemand, kein einziges Meinungsforschungsinstitut, hat uns vorhergesagt, dass so viele Jungwähler FDP wählen würden. Da haben wir gesamtgesellschaftlich wohl einiges übersehen.

Ich glaube, es wurde deshalb übersehen, weil in vielen Medien ständig von Fridays for Future und Greta Thunberg gesprochen wurde, wenn es um „die Jungen“ ging. Aber halt nicht von – ich übertreibe jetzt – dem jungen und fleißigen BWL-Studenten, der sich von seinem selbstverdienten Geld eine geile Karre kaufen will.

Vielleicht machen wir es uns gerade ein bisschen zu einfach mit der Klientel. Ich kenne genug FDP-Wähler, die auf Umweltschutz achten, aber eben mehr auf technische Lösungen aus sind, als Verzicht zu fordern.

Nehmen wir die Klischees mal raus, bleiben trotzdem viele junge Menschen, die einen anderen Weg gehen wollen als die Grünen. Die nicht wollen, dass sie von oben herab pädagogisiert werden, die vielleicht reich sein wollen und erfolgreich. Wie können Sie die abbilden?

Da sind wir wieder bei dem See, den man von beiden Seiten betrachten sollte. In welcher Welt wollen wir in Zukunft leben? In der ARD hatten wir dazu eine Themenwoche, wo wir nicht ausschließlich – wie Sie sagen würden – „links-grüne Varianten“ der Zukunft gemalt haben. Wenn Sie oder andere Zuschauer aber sagen, dieses oder jenes Thema wird zu wenig oder nicht dezidiert genug behandelt, dann müssen wir darüber nachdenken.

Die ARD hat hierzu im vergangenen Jahr den sogenannten „Zukunftsdialog“ organisiert. Unterm Strich ging es darum, einen offenen Dialog über die Zukunft der ARD und den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu führen. Menschen konnten Kritik und Lob loswerden, aber auch konkrete Vorschläge machen. Inwieweit werten Sie die Ergebnisse des „Zukunftsdialogs“ nicht nur als Orientierungshilfe, sondern als konkreten Auftrag?

Wir verstehen die Ergebnisse des „Zukunftsdialogs“ als konkreten Auftrag. Daraus entstehen Formate über alle Ausspielwege hinweg. Nicht alles ist möglich, aber dort, wo sie Mehrheiten gefunden haben, setzen wir die Ideen um.

Haben Sie bestimmte Ergebnisse des „Zukunftsdialogs“ überrascht?

Mich hat überrascht, dass sich so viele Menschen am Gendern stören.

Das hat Sie überrascht?!

In der Eindeutigkeit, ja.

Also stellen Sie das Gendern jetzt wieder ein?

Ich gendere nicht, das haben Sie gemerkt. Aber wenn das jemand möchte, soll er es ruhig tun. Auch wir haben in der Jugend anders gesprochen als unsere Eltern, Sprache darf sich ändern und entwickeln. Und wenn das Neue einem politischen Impetus entspringt und deshalb das Pendel weit ausschlägt, dann kehrt es aller Erfahrung nach irgendwann auch wieder in die Mitte zurück. Ich blicke weniger ideologisch als pragmatisch auf solche Phänomene.

Ich glaube, die Leute stören sich nur teilweise an einem Glottisschlag oder daran, dass jemand „Fahrradfahrende“ sagt, dafür mehr an dem ideologischen Hintergrund des Ganzen. Gendern ist eben ein bisschen wie früher bei Hofe, wo Französisch gesprochen wurde, um sich vom Pöbel abzugrenzen.

Das ist ein seltsamer Vergleich.

Vielleicht. Aber ich sehe schon, dass das Gendern ein Code ist, weil ich den Leuten da draußen mit einem Sternchen sehr gut signalisieren kann, wo ich politisch stehe. Daher halte ich das Gendern im Journalismus auch für bedenklich.

Warum bedenklich, wenn es Menschen gibt, denen das Gendern aus kulturellen und politischen Gründen wichtig ist? Wer ist hier ideologisch?

Aber Sie würden beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk doch auch keine Moderatorin mit einem T-Shirt der Grünen Jugend vor die Kamera lassen.

Das stimmt. Deshalb wird in rbb-Nachrichten auch nicht gegendert, ausgenommen bei Fritz, der jungen und urbanen Jugendwelle. Davon abgesehen darf unsere Berichterstattung so bunt und vielfältig sein wie unser Land.

Ich sag’s anders: Man kann privat sehr wohl die Grünen wählen und sie dennoch sehr kritisch begleiten.

Das versteht sich.

Aber, und darum geht es mir beim Gendern: In dem Moment, wo ich das vor der Kamera tue, gebe ich ein politisches Statement ab, das nichts mit meinem Beruf zu tun hat, sondern mit meiner privaten politischen Einstellung.

Das sehe ich gelassener, weniger ideologisch. Ich bin in keiner Partei, und das ist kein Zufall. Die Menschen haben bei der ARD ein Anrecht auf klare, saubere Informationen, die nichts damit zu tun haben dürfen, wie die Journalistin oder der Journalist darüber denkt oder wen er oder sie wählt. Da sind wir ganz schnell bei der Frage der Haltung.

Ein Begriff, der völlig überstrapaziert ist.

Das sehe ich genauso. Darüber habe ich auch schon auf diversen Podien gestritten. Haltung wird oft mit Gesinnung verwechselt, und die hat in unserem Beruf nichts verloren. Wir haben zu sagen, was ist, nicht mehr, nicht weniger. Wenn ich einen Kommentar spreche, kann ich meine Ansichten offenlegen, bei einem politischen Meinungsmagazin wie „Kontraste“ oder „Panorama“ ebenfalls, aber ansonsten nicht.

In Ihrem Antrittsinterview, das Sie der dpa gegeben haben, gibt es auch selbstkritische Passagen zur Corona-Berichterstattung. Sie sagten zum Beispiel: „Vielleicht sind wir zu spät auf jene Menschen eingegangen, die Impf-Vorbehalte haben.“ Das Interview ist am 1. Januar erschienen. Ich habe Ihnen ein Zitat vom 16. Januar mitgebracht: „Theoretisch können Querdenker schwimmen, weil sie hohl sind, in der Praxis gehen sie aber unter, weil sie nicht ganz dicht sind.“ Dieses Zitat hat die Leiterin des WDR-Studios Essen, Georgine Kellermann, auf Twitter geteilt und mit einem „Danke“ überschrieben. Also zwei Wochen, nachdem Sie angemerkt haben, dass man in der Berichterstattung hätte mehr auf die Menschen zugehen müssen. Was machen wir denn jetzt?

Ich äußere mich nicht zu einzelnen Tweets und einzelnen Mitarbeitern. Nur so viel: Ein Journalist muss sich der Wirkung seiner Worte bewusst sein.

Und wenn Georg Restle im Zusammenhang mit der AfD von einem „tiefbraun vergorenen Haufen“ twittert und Beiträge von der „Seebrücke“ teilt, der von Kritikern vorgeworfen wird, das Geschäft der Schlepperorganisationen zu unterstützen?

Wie gesagt, ich äußere mich nicht zu einzelnen Tweets einzelner Mitarbeiter.

Nun gut. Anderes Thema: Vergangenes Jahr gab es eine große Diskussion um antisemitische Ausfälle der geplanten „Quarks“-Moderation Nemi El-Hassan. Vor wenigen Tagen ging ein Video viral, in dem eine WDR-Redakteurin Menschen mit „jüdischen klingenden Namen“ abtelefoniert und das als Journalismus verkauft. Ich frage mal ganz direkt: Gibt es bei der ARD ein Antisemitismusproblem?

Nein. Was es gibt, sind hin und wieder Unsicherheiten im Umgang mit Antisemitismus. Und die beiden Beispiele, die Sie genannt haben, sprechen dafür. Dann gilt es schnell zu reagieren und klare Grenzen zu setzen. Bei Antisemitismus gibt es keine Toleranz. Auch deshalb gibt es in allen Häusern Schulungen, Seminare und Informationspapiere zu diesem Thema.

Gibt es bei der ARD denn Probleme damit, muslimischen Antisemitismus als solchen zu benennen, weil das konträr zur Diversitätslinie steht, die Sie mit der ARD verfolgen?

Was meinen Sie?

Naja, ein ausgegebenes Ziel ist doch, dass mehr Menschen mit arabischem Kulturhintergrund für die ARD arbeiten sollen. Und da gibt es dann eventuell bestimmte Sichtweisen zu Israel, die sich schon durch die Familiengeschichte ziehen. Das heißt, es kann immer wieder vorkommen, dass junge Leute mit arabischem Hintergrund, die Sie einstellen, erstmal sehr weltoffen wirken, aber zu Israel eine sehr schräge Einstellung haben. Da ist die Frage, ob man beim Auswahlprozess nicht genauer hinschauen müsste.

Eine Gesinnungspolizei gibt es bei uns nicht.

Sie würden doch auch niemanden einstellen, der bei Pegida mitgelaufen ist und ein Schild getragen hat, auf dem Sigmar Gabriel eine Schlinge um den Hals liegt.

Wichtig ist, wo ein Mensch steht, und das ist für mich selbstverständlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Daher: Gesinnungsschnüffelei? Nein. Toleranz? Selbstverständlich. Antisemitismus? Kein Spielraum.

Aber Sie arbeiten nach wie vor mit Leuten zusammen, von denen man weiß, dass sie eine mindestens diskussionswürdige Einstellung zu Israel haben.

Nicht jeder, der Israel kritisiert, ist gleich ein Judenfeind.

Aber es ist schon auffällig, dass es bei jungen Journalisten aus dem linken Spektrum, gerade auch mit muslimischem Hintergrund, eine regelrechte Obsession gibt mit einem Land, das bevölkerungsmäßig kleiner ist als Bayern und in dem 20 Prozent Araber leben. Die gleichen Leute stören sich aber nicht in dem gleichen Maße daran, wenn irgendwo jemand im Sand eingegraben und im Namen des Islam gesteinigt wird.

Natürlich stören sie sich daran, ich bitte Sie …

Aber eben nicht in dem Maße. Ich spreche von der Obsession.

Das ist ein schmaler Grat, aber noch einmal: Bei Antisemitismus gibt es keine Toleranz.

Das Thema Corona-Berichterstattung haben wir mit dem Tweet von Frau Kellermann gerade schon angeschnitten: War der deutsche Journalismus in den vergangenen zwei Jahren insgesamt zu unkritisch gegenüber der Regierung?

Waren wir mit Frau Merkel zu unkritisch? Waren wir mit Jens Spahn zu unkritisch? Den Eindruck habe ich nun wirklich nicht.

Vielleicht geht es gar nicht so sehr um einzelne Personen, sondern beispielsweise um die Berichterstattung zu bestimmten Corona-Maßnahmen. Nach dem Tenor: „Wenn die Regierung bestimmte Regeln erlässt, wird sie schon wissen, was sie tut.“

Ich finde wirklich nicht, dass die Medien in den vergangenen zwei Jahren zu unkritisch waren. Kritik bedeutet aber weder Hohn noch Arroganz. Ich nehme den meisten Politikern ab, dass sie darum ringen, was richtig ist. Die meisten Politiker, die ich kenne, sind jedenfalls weder Zocker noch Zyniker.

Wie bewerten Sie die Corona-Maßnahmen denn?

Auch ich verstehe nicht jede Maßnahme. Aber wir sind in der Pandemie eine Lerngemeinschaft. Da braucht es ein bisschen Geduld, ein bisschen Langmut. Natürlich machen Politiker Fehler. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Verband Kritik an den Maßnahmen äußert. Über all das wird berichtet.

Laut einer Allensbach-Umfrage sind 46 Prozent der Befragten der Meinung, die Medien – wer damit auch immer konkret gemeint ist – würden in Zusammenhang mit der Corona-Lage „Panikmache“ betreiben. Und nur noch 28 Prozent der Befragten gaben an, die Medien zeichneten „ein wirklichkeitsgetreues Bild“. Was denken Sie darüber?

Wir sagen, was ist, ob die Regierung nun unsicher wirkt, Fehler macht oder nach bestem Wissen handelt. Panikmache, ganz ehrlich, sehe ich nicht.

Letze Frage: Sind wir Medien schuld, dass Karl Lauterbach jetzt Gesundheitsminister ist? Hat er zu viel Aufmerksamkeit bekommen?

Ich hatte auch den Eindruck, dass Herr Lauterbach omnipräsent war. Aber er ist eben auch ein ziemlich guter Gesprächspartner. Außerdem hatte er bei vielen Maßnahmen, die er empfohlen hat, einfach Recht. Das haben die Leute geschätzt.

Das Gespräch führte Ben Krischke.

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