Andrew Ullmann liest... - Das politische Buch

Jens Spahn hat seine Zeit als Gesundheitsminister während der Corona-Pandemie in einem Buch festgehalten. Es ist ein Lehrbuch, wie Politiker ihre Selbstdarstellung perfektionieren, findet Andrew Ullmann, der es für uns gelesen hat.

Jens Spahn bei der Vorstellung seines Buches „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ / dpa
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Autoreninfo

Andrew Ullmann (FDP) ist Professor für Infektiologie an der Universität Würzburg und seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags. Er ist Obmann seiner Partei im Gesundheitsausschuss.

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Lesen Sie dieses Buch. Bitte. Unbedingt. Zumindest, wenn Sie Interesse an Psychogrammen haben. Und gerne Politiker analysieren. Ich halte es sogar für möglich, dass dieses Buch besser wird, wenn man es ein bisschen liegen lässt. Sechs oder sieben Jahre. Dann sollte man es auf jeden Fall noch mal zur Hand nehmen und lesen, was der Kanzlerkandidat beziehungsweise Bundeskanzler Jens Spahn damals aufgeschrieben hat über unsere Corona-Weltkrise und den tragischen Helden Jens Spahn. 

Jens Spahn ist unbestritten eines der großen politischen Talente in seiner Generation. Dass er sich zu Großem berufen fühlt, das kann in jeder Zeile seines Erlebnisberichts der Corona-Pandemie mitgelesen werden. Spahns Genie liegt darin, dass er den Leser mit sich auf die Reise durch die Anfangszeit der Pandemie nimmt. Dabei will er das Gefühl vermitteln, dass der Leser mit Jens Spahn pur unterwegs ist, ungeschminkt, ungeschönt, ungezwungen. Aber so sieht man ihn immer nur kurz. Denn für Spahn ist der Blick ins Innere immer nur der Weg, um daraus einen noch besseren Jens Spahn zu entwickeln. 

Für mich die interessanteste Episode dazu ist, wie er zum Höhepunkt der Pandemie am 8. März 2021 ins Büro geht – und nicht mehr kann. Er bricht zusammen. Mental. Ein Burnout. Er ruft sein Team zusammen. Sie kommen. Sie sind da. Sie trinken einen Schnaps. Sie überwinden den Burnout. Wofür andere Monate und Jahre brauchen, braucht der resiliente Jens Spahn ein paar Vertraute und einen Drink. 

Der lebende Wendehammer

Das ist das Bild, das Spahn in die Öffentlichkeit projizieren will. Er ist der, der Fehler macht, aber daraus lernt. Dass diese Fehler im Rückblick nicht mal Fehler waren, auch dafür hat Spahn eine passende Herleitung. Sie kommt aus Harvard, aber nicht von seinem geschätzten Kollegen Karl Lauterbach, sondern von Dan Levy. Von ihm hat Jens Spahn nach seiner Zeit als Gesundheitsminister gelernt, dass es bei der Entscheidung nicht darauf ankommt, was dabei rauskommt, sondern darauf, ob es in der jeweiligen Situation die vernünftigste Entscheidung war. Mit diesem kleinen Gedankenhebel kann jede Entscheidung aus ihrer Situation heraus gerechtfertigt werden. Schließlich sind die Informationen ja auf das begrenzt, was Jens Spahn zu teilen bereit ist. Maskendeals? Waren doch gut, und nicht zu handeln wäre schlimmer gewesen. Hauskauf? War doch aus Liebe zu Mensch und Natur. Der Zeitpunkt war doof. Aber wer hätte sich gegen die Liebe entschieden?

Verkorkste Maßnahmen? Schleppende Impfkampagne? Betrug in Testzentren? All das relativiert die Kunst der situativen Entscheidung. Und wenn es dann doch mal ganz unschön aussieht, dann gibt es ja noch das Verzeihen, das titelgebend für Spahns Pandemie-Parforceritt ist. Ob es dabei Ironie, Zynismus oder Ehrlichkeit ist, dass er seine Verzeihenshaltung nach einem Gespräch mit dem früh durch fragwürdige Affären gestählten Hendrik Wüst entwickelt, sei dahingestellt. 

Ich habe in den zwei Jahren der Pandemie und den vier Jahren im Bundestag als Oppositionspolitiker Jens Spahn kennengelernt und weiß, dass er ein lebender Wendehammer ist. Wenn es nicht weitergeht, dreht er um und fährt woanders lang. Ich weiß auch, dass Jens Spahn nicht scheitert, sondern nur menschliche, allzu menschliche Fehler macht. Er schaut nicht lange zurück. Als Mediziner war ich von seinen Fähigkeiten als Gesundheitsminister selten überzeugt. Als Neuling im politischen Betrieb habe ich allerdings sehr schnell mit Bewunderung auf Jens Spahn geschaut und auch viel von ihm gelernt – nicht zuletzt durch das Lesen seines Buches.

Jens Spahn: Wir werden einander viel verzeihen müssen. Heyne, München 2022. 304 Seiten, 22 €

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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