Selbstbestimmungsgesetz und Geschlechtswechsel - „Ein die Kinder schützender Rahmen wird aufgegeben“

Die Ampel-Regierung möchte ein „Selbstbestimmungsgesetz“ verabschieden, dass das bisherige Transsexuellengesetz ersetzen soll. Es soll unter anderem ermöglichen, seine Geschlechtsangabe im Personalausweis zu ändern, ohne ein psychiatrisches Gutachten anzufordern. Und das soll bereits für 14-Jährige gelten. Der Psychoanalytiker Bernd Ahrbeck befürchtet, das könnte die Tür für chirurgische Geschlechtsumwandlungen bei Jugendlichen öffnen - ein Schritt, der von Betroffenen nicht selten später bereut wird.

Keira Bell klagte erfolgreich gegen die Tavistock-Klinik, weil sie ihrem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung fahrlässig gefolgt sei / dpa
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Autoreninfo

Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Bernd Ahrbeck ist Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker. Er lehrt und forscht an der Internationalen Psychoanalytischen Universität. Im Verlag „Zu Klampen“ ist am 28. Februar seine Monografie „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“ erschienen. Der von ihm mit Marion Felder herausgegebene Band „Geboren im falschen Körper. Gender-Dysphorie bei Kindern und Jugendlichen“ ist zurzeit im Druck und erscheint im Kohlhammer-Verlag Stuttgart.

Herr Ahrbeck, was tut sich aktuell in der Bundestagsdebatte um das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz? 

Nachdem ein entsprechender Gesetzentwurf in der letzten Legislaturperiode gescheitert ist, kommt es nun zu einer Neuauflage. An entscheidenden Punkten ist keine Verbesserung eingetreten. Auch in dem neuen Gesetz sollen Kinder ab 14 Jahren über ihre Geschlechtsidentität bestimmen können. Mit einschneidenden Folgen: Es geht nicht nur darum, dass das Geschlecht per Sprechakt einmal jährlich gewechselt werden kann. Viel weitergehender noch ist die Einleitung einer Transition, die Hormonvergaben und chirurgische Eingriffe umfasst. Und die kann auch gegen den Willen der Eltern erfolgen.

Kindliche Transitionswünsche haben in den letzten Jahren immens zugenommen. Macherorts explodieren die Zahlen geradezu. Auch das gemahnt zur Vorsicht. Hinzu kommt, dass die Geschlechterbinarität zu einem gesellschaftlichen Streitthema avanciert ist. Wie definiert sich Geschlecht und wie viele Geschlechter gibt es überhaupt, das ist eine viel diskutierte Frage geworden. Wie hoch die emotionalen Wellen dabei schlagen können, zeigt die Bundestagsdebatte um Tessa Ganserer/Markus Ganserer. Diese Debatte sollte nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.

Es muss also eindeutig geklärt werden, ab wann und unter welchen Voraussetzungen man als mündig gilt.

Exakt. Es ist schon bemerkenswert, dass die kindliche Selbstbestimmung in vielen Bereichen und mit gutem Grund eingeschränkt wird. Vierzehnjährige Kinder dürfen sich nicht ohne Erlaubnis tätowieren lassen, keinen Alkohol trinken, und das Autofahren ist ihnen auch nicht erlaubt. Nach dem Selbstbestimmungsgesetz sollen sie aber autonom darüber entscheiden, ob eine Geschlechtsumwandlung eingeleitet wird, die lebenslange, kaum überschaubare und zum Teil irreversible Konsequenzen hat. Kindern wird damit eine Entscheidungsfreiheit eingeräumt oder sollte man besser sagen: zugeschoben, der sie in aller Regel nicht gewachsen sind. Die Erwachsenen ziehen sich damit aus ihrer Verantwortung zurück. Ein die Kinder schützender, fürsorglicher Rahmen wird aufgegeben.

International wird unterschiedlich agiert. Die USA haben mit dem Equality Act, der noch nicht endgültig unterzeichnet ist, eine transaffirmative Richtung eingeschlagen. Wenn eine uneingeschränkte Selbstbestimmung als Menschenrecht gilt, steht jeder Widerspruch dazu auf einem nahezu verlorenen Posten. Der Vorwurf der Inhumanität ist dann nicht mehr fern. In Schweden hingegen ist ein Umdenken erfolgt. Die Gefahren einer vorschnellen Affirmation werden jetzt sehr deutlich gesehen. Wir wissen also nicht genau, wohin die internationale Reise geht.

Noch einmal naiv gefragt: Kann sich überhaupt ein Vierzehnjähriger oder ein noch jüngeres Kind für eine Geschlechtsumwandlung entscheiden? Und in welchen Fällen ist das überhaupt notwendig?

Bernd Ahrbeck

Das ist eine gute Frage. Man sollte genau hinschauen. Früher gab es nur sehr wenige Kinder, die ihr Geschlecht wechseln wollten, vor allem Jungen. Inzwischen haben sich die Vorzeichen verkehrt. Immer mehr Mädchen wollen zu Jungen werden, und dieser Wunsch, auch das ist neu, tritt größtenteils erst in der Pubertät auf. Warum die Zahl der Kinder mit Gender-Dysphorie so stark zugenommen hat, ist nicht vollständig bekannt. Dass nunmehr auf breiter Ebene etwas zutage tritt, was sich früher nicht zeigen durfte, ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Vieles spricht dafür, dass ganz unterschiedliche Probleme dahinterstecken. Rollenunsicherheiten, Identitätsprobleme, homosexuelle Entwicklungen, Protesthaltungen, die Vergewisserung der eigenen Besonderheit, sogar ein modischer Chic. Angefeuert durch mediale Berichte vor allem in den USA, die Transitionen als Befreiungsakt zelebrieren, und durch eine als Aufklärung getarnte Internet-Werbung, die verspricht: „Wenn du dich umwandeln lässt, sind alle deine Probleme gelöst.“

Fest steht, dass sich die Gender-Dysphorie in der großen Mehrzahl der Fälle von allein wieder auflöst. Umwandlungswünsche werden aufgegeben, es erfolgt eine Versöhnung mit dem eigenen Geschlecht. Klare Prognosekriterien gibt es keine: Man weiß nicht, wie sich die Kinder entwickeln werden. Insofern kann vor übereilten Entscheidungen nur gewarnt werden. Alexander Korte, einer der wichtigsten Fachexperten, gibt zu bedenken, dass eine medizinisch unterstütze Transition bei Kindern und Jugendlichen leicht zu einer Einbahnstraße wird. Ist dieser Weg erst einmal eingeschlagen, gibt es kaum noch ein Zurück. Wenn abgewartet wird, stellt sich häufig ein anderes Ergebnis ein, von einer Transition wird dann abgesehen. 

Für eine kleine Personengruppe ist eine Geschlechtsumwandlung der beste Weg. Ohne jeden Zweifel. Für sie ist die Vorstellung, in ihrem Körper weiterleben zu müssen, unerträglich. Sie erleben ihre Situation als äußerst quälend, ihren Entschluss als unumkehrbar, sie fühlen sich erst dann befreit, wenn sie ein anderes Geschlecht annehmen können. Bisher erfolgen Transitionen in Deutschland unter intensiver ärztlicher und therapeutischer Begleitung. Das hat sichergestellt, dass die getroffenen Entscheidungen wohlüberlegt und auf den Einzelfall abgestimmt sind. Fehldiagnosen finden sich deshalb nur selten.

Was würde es für das Wohl von Kindern und Jugendlichen bedeuten, wenn das Selbstbestimmungsgesetz tatsächlich durchkommt?

In England hat der Fall Keira Bell Aufsehen erregt. Ihre erstinstanzliche Klage vor dem High Court verlief erfolgreich. Es wurde bestätigt, dass ihrem Transitionswunsch als Fünfzehnjährige in der Tavistock-Klinik fahrlässig gefolgt wurde – ohne ausreichende Beratung, ohne kritische Distanz, ohne abwägende Überlegungen. Und das Gericht zog in Zweifel, ob Kinder in diesem Alter überhaupt schon in der Lage sind, eine derart weitreichende Entscheidung zu treffen.

Wenn das Gesetz wirklich kommt, werden Transitionen erleichtert, Fehlentscheidungen nehmen zu und damit auch der Wunsch, Transitionen rückgängig zu machen. Ich halte es für fatal, dass Kinder dadurch in eine äußerst gefährliche Situation geraten. Sie bleiben auf eine sträfliche Weise sich selbst überlassen. Die Erwachsenengeneration entzieht sich ihrer Verantwortung. Und das wird dann auch noch als ein emanzipatorischer Akt gefeiert.

Wie ordnen Sie den gesellschaftlichen Kontext ein, in dem diese Debatte gerade geführt wird? 

Die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung halte ich für sehr bedenklich. Die Interessen spezieller Gruppen nehmen einen immer größeren Raum ein. Die Identitätspolitik ist auf dem Vormarsch, ihr Einfluss ist inzwischen beträchtlich. Eine überzogene politische Korrektheit und die sogenannte Cancel-Culture (eine Kultur ist sie wohl eher nicht) mögen dafür als Stichworte ausreichen. Sie lähmen öffentliche und wissenschaftliche Diskurse, und es ist kein Zufall, wenn der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, schreibt, dass die Wissenschaftsfreiheit aktuell bedroht ist. In den USA und in Großbritannien, zum Teil in Frankreich ist diese Entwicklung noch weiter fortgeschritten. Verbindende und verbindliche Maßstäbe sind längst ins Schwanken geraten. 

An die Stelle offener Diskurse und gegenseitiger Akzeptanz sind scharfe Angriffe getreten. Kritische Stellungnahmen werden mit Verbotsdrohungen belegt. Wer anders denkt, gilt dann leicht als transphob, homophob oder beides zusammen. Denken Sie nur an die Philosophin Kathleen Stock, die über Monate so heftig angefeindet wurde, dass sie ihre Professur in Brighton aufgeben musste. Ihr Vergehen: Sie hat darauf bestanden, dass es Männer und Frauen gibt und sich diese Begriffe nicht beliebig zur Disposition stellen lassen.

Der klassische Feminismus, ausgehend von Alice Schwarzer und anderen Protagonistinnen, sagte klar, er stehe für die Interessen von Frauen ein. Die Queerfeministen kritisieren daran aber, dass dadurch beispielsweise Transsexuelle ausgeschlossen werden.

Alice Schwarzer, der die Frauenbewegung so viel verdankt, wird seit längerem heftig attackiert. Sie sei transgenderfeindlich, unaufgeklärt und rückwärtsgewandt, weil sie nur Fraueninteressen vertrete. Im Hintergrund steht eine sehr grundlegende Frage, die nach der Existenz zweier Geschlechter. Aus der Sicht eines radikalen Dekonstruktivismus stellen sich die Verhältnisse anders dar. Selbst das Körperliche soll die Folge sozialer Konstruktionen sein. Erst durch die Auflösung einschlägiger Kategorien, so lautet die reichlich diffuse Hoffnung, könne der Mensch in ein neues Reich der Freiheit eintreten, in der das Geschlecht – in fast unendlicher Vielfalt gedacht – zu einer subjektiven Wahl wird. Mann oder Frau zu sein, das ist dann nicht mehr bedeutungsvoll, Frauenrechte sind es auch nicht mehr. Daran stößt sich Alice Schwarzer.

Eines ist aber verwunderlich: Bei der Transsexualität wird behauptet, es gebe ein unumstößliches Wissen um das eigene Geschlecht. Selbst Kinder würden sich darin nicht irren. Von einer Flexibilität, der Offenheit für alle möglichen Entwicklungen, die sonst gelten soll, ist hier nicht mehr die Rede.

Welchen Umgang mit Transsexuellen empfehlen Sie?   

Einen aufgeklärten und unideologischen. Es ist ein riesiger Fortschritt, dass sich Transsexuelle sehr viel weniger verstecken müssen. Sie verdienen in ihrem Anliegen Anerkennung und Respekt, ebenso wie jeder andere Mensch auch. Das ist so selbstverständlich, dass es dazu keiner weiteren Ausführungen bedarf. Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, dass sie sich in einer speziellen Lebenssituation befinden, die je nach Lebensalter unterschiedliche Fragen aufwirft. Das wahrzunehmen, ist keine Diskriminierung.

Ihr Buch „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“ trägt den Untertitel „Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft“. Was erwartet den Leser in Ihrem Buch?

Subjektive Befindlichkeiten spielen im öffentlichen Leben eine immer stärkere Rolle. Wenn die persönliche Betroffenheit dazu führt, dass Diskurse unterbleiben, Meinungen nicht mehr frei ausgesprochen werden dürfen und sogar bestimmte Fakten als unerträglich gelten, dann ist eine gefährliche Situation entstanden. Dieses Thema wird anhand unterschiedlicher Themenfelder behandelt: Gerechtigkeit, Inklusion, Sexualpädagogik, Transgender, Identitätspolitik und Vergangenheitsbewältigung. Das berechtigte Ziel der Gleichstellung, der nur zu verständliche Wunsch, Diskriminierungen abzuschaffen, schießt gegenwärtig über das Ziel hinaus. Es ist ein regelrechter Kulturkampf entstanden, ein Kampf um Deutungshoheiten, bei dem verbindende Gemeinsamkeiten und gemeinsame Bezugssysteme zugunsten von Partialinteressen immer weiter in den Hintergrund geraten. Das ist beunruhigend. Deshalb dieses Buch.

Das Gespräch führte Nathan Giwerzew.

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