9-Euro-Ticket - Eine Scheinlösung ersetzt politische Entscheidungen

Dieser Nahverkehr schreckt ab. Wer jetzt vom Auto auf die Bahn umsteigt, erlebt Überfüllung, Gedränge, Verspätung. Mit dem 9-Euro-Ticket haben die Regierungsvertreter abermals auf eine symbolpolitische Maßnahme gesetzt, anstatt sich um die jahrzehntealten Probleme eines maroden Systems zu kümmern.

Symbolpolitik trifft auf Realität: Mit dem 9-Euro-Ticket tut sich der Staat als Verkehrsunternehmer keinen Gefallen / dpa
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Autoreninfo

Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a.D.

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Wer hätte das ahnen können! Kurz vor Pfingsten wurde das 9-Euro-Ticket eingeführt. Und am langen Wochenende waren dann die Züge so voll, dass Fahrgäste zurückblieben und die Bundespolizei das heillos überforderte Zugpersonal unterstützen oder Züge sogar räumen musste. Dabei war das Ticket, welches effektiv die handstreichartige Verwirklichung des alten Spontitraums von den kostenlosen Öffis bedeutet, mit der sagenhaften Vorlaufzeit von drei Monaten beschlossen worden. Aus der Sicht des Koalitionsausschusses der Regierungsparteien offenkundig mehr als genug Zeit, die jahrzehntelangen Negativfolgen von verpatzten Bahnreformen, Sparmaßnahmen und Kürzungen, sowie den aktuellen Mangel an Arbeitskräften innerhalb und rund um die ÖPNV-Infrastruktur zu überwinden.

Fatale Folgen

Die Realität des 9-Euro-Tickets sieht aber anders aus: Dieser Nahverkehr schreckt ab. Wer jetzt vom Auto auf die Bahn umsteigt, erlebt Überfüllung, Gedränge, Verspätung. Es ist ja auch nicht so, dass die vom Ticket zum symbolischen Preis angelockten Massen auf eine prinzipiell intakte Struktur getroffen wären. „Noch nie gab es auf dem deutschen Streckennetz so viele Baustellen wie heute“, sagte der Bahnchef nur eine Woche vor Pfingsten. Ursächlich ist kein rasanter Netzausbau, sondern massiver Sanierungsstau.

Die Folgen für das Bild des deutschen Nahverkehrs sind fatal: Assoziieren werden die Neunutzer mit ihm nicht Umweltfreundlichkeit, Entspannung und Zuverlässigkeit, sondern Chaos, Stress und Enge.

Auch mal politischen Schmerz aushalten

Was aber wäre ein vernünftiger Politikansatz gewesen, welcher tatsächlich die Bevölkerung entlastet, der Umwelt genützt und die geopolitische Rohstoffabhängigkeit verringert hätte? Eine der gängigsten akademischen Definitionen von Politik ist jene des einflussreichen Politikwissenschaftlers David Easton. Demzufolge sei Politik ein soziales System unter vielen, welches sich aber dadurch unterscheide, dass hier Werte mit autoritativen Mitteln verteilt würden. Unterstrichen wird in dieser Definition, dass diese Werte nicht unbedingt materieller Natur sein müssen. Die politische Verteilung von Werten hätte in diesem Fall bedeutet, eine Grundsatzentscheidung zu treffen: Zu Gunsten des Nahverkehrs, vor allem der Schiene.

Raumplanung, die Notwendigkeit sozialgerechten Zugangs zu Mobilität, Umweltziele, Energiewende und neue geopolitische Prioritäten lassen eigentlich keinen anderen Schluss zu. Materiell würde das bedeuten, neues rollendes Material, mehr Personal, reaktivierte und neue Strecken sowie dichtere Takte ins Gleis zu setzen. Zugleich würde es nötig, Mittel in den öffentlichen Haushalten dauerhaft umzuschichten, das heißt, an anderer Stelle auch Kürzungen gegen Widerstände durchzusetzen und politischen Schmerz auszuhalten.

Was nichts kostet, ist auch nichts wert

Auf der immateriellen Seite der Werteverteilung bräuchte es das Eingeständnis, dass die scheinliberale Marktsimulation, in welcher der Bund als vermeintlicher Verkehrsunternehmer die als Kunden getarnten Länder Subventionen leisten lässt, die als Bezahlung verbrämt werden, gescheitert ist. Ein Quasimonopol der Grundversorgung wird nicht wie ein konventionelles Unternehmen funktionieren können.

Da eine moderne Staatsbahn aber nicht einfach ein Wiedergänger der Bundesbahn sein könnte, bedürfte es hier weitreichender politischer Reformen, die naturgemäß nicht nur Gewinner hervorbringen können, sondern für erbitterten Streit sorgen. Nur so würde das Ziel erreicht, dass Menschen dauerhaft und freiwillig auf den Nahverkehr umsteigen. Die Mitfahrt in einem maroden und nur halbwegs funktionierenden System faktisch kostenlos zu machen, ist aus Regierungssicht sicherlich eine billige, verkehrspolitisch aber keine strukturell nachhaltige Lösung. Was politisch nichts kostet, ist auch nichts wert – und erst recht keine autoritative Verteilung von Werten, die ja eigentlich die Regierungskunst ausmachen soll.

Gemeinwesen wird geschröpft statt gefördert

Warum handelt es sich beim 9-Euro-Ticket um eine weitere Scheinlösung, welche harte politische Entscheidungen ersetzt? Es ist die notorische Furcht, dass Handeln, unpopuläre Entscheidungen, Reformpolitik für Popularitätsdellen sorgen. Das politische Geschäft hat sich im Zeitalter höchst heterogener Koalitionen, eines immer größeren Pluralismus der Interessengruppen und des digitalen Dauerfeuers, das keine Verschnaufpausen kennt und für permanente Empörungsbereitschaft sorgt, noch erheblich erschwert. Jedwede Krise mit dem Ausreichen von Geld anstelle des Investierens in strukturelle Veränderungen zu beantworten, ist eine Versuchung, welche für die Spitzenpolitik heute einfach zu groß ist.

Allerdings wird dabei von der Substanz des Gemeinwesens gezehrt, anstatt dessen künftiges Funktionieren zu sichern. „Das ist nicht teuer, das bezahlt der Staat“, hat François Hollande einmal auf Kritik an einem seiner Geschenke zur Gewinnung der Wählergunst entgegnet. Genau das ist auch der konfliktscheu-paternalistische Geist, welcher aus dem 9-Euro-Ticket spricht. Die Anzahl der Krisen aber, die durch eine rein haushalterische Kraftanstrengung gelöst werden kann, ist so limitiert wie die öffentlichen Ressourcen.

Gute Entscheidungen müssen nicht beliebt sein

Große Kanzlerschaften begründen sich dagegen immer nach demselben Muster: Wenn die verantwortliche Person an der Spitze an irgendeiner Stelle einmal auf die öffentliche und veröffentlichte Meinung gepfiffen und eine politische Entscheidung getroffen hat, von der das Land auf Jahre, bestenfalls Jahrzehnte zehren kann.

Beim 9-Euro-Ticket wird sich am Ende aber zeigen: Es war ein teurer Spaß, der indes den deutschen ÖPNV keinen Millimeter voran-, sondern in Misskredit gebracht hat. Eine haushaltspolitische Materialschlacht, die keinerlei Früchte trug. Vielmehr ist es ein teuer erkaufter Prozentpunkt in der Sonntagsfrage, der morgen schon wieder abgeschmolzen ist, weil die Benutzung des Nahverkehrs nicht attraktiver geworden ist.

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