Neuerscheinungen zu 150 Jahren Deutsches Kaiserreich - Des Kaisers neue Bücher

Vor 150 Jahren, im Januar 1871, wurde das Deutsche Reich gegründet. Zahlreiche Neuerscheinungen blicken derzeit auf dieses historische Ereignis nebst seiner Nachwirkungen zurück.

Reichsgründung im Spiegelsaal von Schloss Versailles / Foto: Bismarck-Museum Friedrichsruh
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Zu keiner Epoche hat der Deutsche ein ambivalenteres Verhältnis als zum zweiten Kaiserreich. Galt es unseren Großeltern noch als die „gute alte Zeit“, so hat sich dieses Bild ab den sechziger Jahren grundlegend geändert. Das liegt zum einen daran, dass von da an die Zahl der noch lebenden Augenzeugen kontinuierlich abnahm, vor allem aber sorgte das gesellschaftspolitische Klima nach 1968 für eine Neubewertung. Aufbauend auf der sogenannten Fischer-Debatte über die Kriegsschuldfrage am Ersten Weltkrieg wurde das Kaiserreich in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend zum Wegbereiter des Dritten Reiches, zu einer Brutstätte von Chauvinismus, Militarismus und Antisemitismus.

Dass man mit gutem Grund auch ein anderes Bild zeichnen könnte, etwa von einem für seine Zeit hochmodernen Land, einem Rechtsstaat mit effektiver Verwaltung, niedrigen Steuern, florierender Wirtschaft, technischen und wissenschaftlichen Spitzenleistungen auf dem Höhepunkt seiner kulturellen Entfaltung und auf dem Weg in eine konstitutionelle Monarchie, ging in dem Furor, eine Kontinuitätslinie von Bismarck bis Hitler aufzeigen zu wollen, unter. Erst in jüngerer Zeit hat sich, etwa durch die Arbeiten von Christopher Clark und Herfried Münkler, ein differenzierterer Blick auf die Kriegsschuldfrage und damit auf das Bild des Kaiserreichs als Ganzes etabliert.

Verengt durch nationale Perspektive

Wenn nun dennoch die alte Geschichte vom militaristischen, nationalistischen und aggressiven Obrigkeitsstaat noch einmal aus der Schublade geholt wird, dann kann das keine wissenschaftlichen, sondern allenfalls politische Gründe haben. Und aus denen macht Eckart Conze in seinem Buch „Schatten des Kaiserreichs“ auch kein Geheimnis. Zumindest das muss man dem Marburger Historiker zugutehalten. Sein Buch, ein Versuch, „das Kaiserreich im Lichte der Gegenwart zu betrachten“, sei „historische Analyse und geschichtspolitische Intervention“, schreibt er in der Einleitung.

Entnervt von der Debatte um Clarks „Die Schlafwandler“, vom Aufbau des Berliner Stadtschlosses und der Diskussion über die Hohenzollern möchte Conze klarstellen, dass die „Kriegsgeburt“ Kaiserreich kein positiver Bezugspunkt des wiedervereinigten, postnationalen, demokratischen Deutschlands sein kann, sondern allenfalls Lehrstück über die Gefahren einer Renationalisierung. Zu diesem Zweck zeichnet er das Bild eines innerlich zerrissenen Reiches, das seine Konflikte mit einem aggressiven Bellizismus zu überwinden sucht. 

Dabei kann man sich nicht immer des Eindrucks entziehen, dass Conze hier Opfer der nationalistischen Propaganda des späten Wilhelminismus wird und dabei die Alltagsrealität ebenso aus den Augen verliert wie den vergleichenden Blick auf Frankreich oder England. Der zeigt nämlich, dass das „militaristische“ Deutschland deutlich weniger Wehrpflichtige eines Jahrgangs an der Waffe ausbildete als Frankreich und auch weniger Steuergelder pro Kopf in seinen Wehretat steckte.

Conzes antinationalistische Intervention leidet somit an einer sehr nationalen Perspektive. Vor allem verhindert sein von aktuellen Debatten gelenkter Blick eine nüchterne Einordnung. Insbesondere der „mit Fliege und im roten Käfer-Cabriolet, erzählend und singend“ durch Deutschland tourende Clark provoziert den Autor zu einer Interpretation des Kaiserreichs, die durch seine eigenen Ausführungen nicht immer gedeckt ist.

Traurigste und glücklichste Kriege

Ein weniger einseitiges Bild zeichnet der Berliner Historiker Christoph Jahr in seinem Band „Blut und Eisen“. Dabei kommt er zunächst zu ganz ähnlichen Urteilen wie Conze. Etwa, dass die Reichs­einigung nicht an einem Tag, dem 18. Januar 1871 vollzogen worden sei, sondern einen Prozess darstellte, der im Prinzip mit der Gründung des deutschen Zollvereins 1834 einsetzte und mit der Kaiserproklamation nicht abgeschlossen war. Auch die widerstrebenden Kräfte vor und nach der Reichsgründung hebt Jahr hervor.

Anders als bei Conze, der einen Bogen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg spannt, konzentriert sich Jahr ganz auf die „Einigungskriege“, den „Experimentalfeldzug“ gegen Dänemark, den „traurigsten aller Bürgerkriege“ gegen Österreich und den „glücklichsten aller Kriege“ gegen Frankreich. Dabei wird deutlich, dass alles auch hätte anders kommen können, auch wenn unterm Strich eine Deutsche Einheit unvermeidbar schien. 

Wohltuende Einblicke in die Fachwissenschaft

Wie verwickelt der Weg zur Reichs­einigung war, erzählt der am Magdalene College in Cambridge lehrende Oliver Haardt in seinem Werk „Der ewige Bund“ anhand der Verfassungsgeschichte des Reiches und setzt damit einen ganz anderen Schwerpunkt als die deutschen Autoren. Dabei wird deutlich, dass das Reich eben nicht einfach ein preußisch dominierter Nationalstaat war, sondern ein föderaler Verfassungsstaat. Es werden so nicht nur Unterschiede zu anderen föderal verfassten Staaten deutlich, sondern auch Kontinuitätslinien, die bis in die Gegenwart reichen.

Haardt zoomt sehr dicht an die staats- und verfassungsrechtlichen Debatten der Zeit heran. Das erlaubt ihm, detailliert zu rekonstruieren, wie die Kräftekonstellationen eines historischen Moments in Verfassungsrecht gegossen und so der titelgebende „ewige Bund“ begründet wurde. Schlägt Conzes Streitschrift einen eher populären Ton an und gelingt es Jahr, die Ereignisse unter Einbeziehung zahlreicher historischer Quellen lebensnah zu erzählen, so gibt sich Haardts Arbeit deutlich fachwissenschaftlicher. Angesichts der emotional geführten Debatten hierzulande ist das aber durchaus wohltuend.

Christoph Jahr: Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang. C. H. Beck, München 2020. 368 Seiten, 26,95 €.

Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe.
dtv, München 2020. 288 Seiten, 22 €.

Oliver F. R. Haardt: Bismarcks ewiger Bund. wbg Theiss, Darmstadt 2020. 944 Seiten, 40 €.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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