Krieg in der Ukraine - Russischer Terror in Mykolajiw

Während eine russische Delegation zu Friedensgesprächen nach Istanbul reist, verübt die russische Armee Terrorangriffe gegen die Menschen der südukrainischen Stadt Mykolajiw. Dabei kommt auch Streumunition zum Einsatz.

Die zerstörte Gebietsverwaltung der Stadt Mykolajiw nach dem russischen Raketenangriff / Moritz Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Am Montag hatte man in Mykolajiw noch das Gefühl, das Schlimmste sei vorüber: Tausende Menschen waren bei Frühlingswetter auf den Straßen der Halbmillionenstadt im Süden der Ukraine unterwegs. Die Schrecken der ersten Wochen, als russische Stoßtrupps bis in die Innenstadt vorgedrungen waren, als täglich Grad-Raketen in den Vororten einschlugen, schien vorbei, seit die Ukrainer die Russen über die letzten Tage in Richtung Cherson abdrängen konnten. Seit etwa einer Woche gab es kaum noch nennenswerte Angriffe auf die Stadt.

Doch um vier Uhr nachts donnern zwei heftige Explosionen über die Dächer der praktisch völlig verdunkelten Stadt. Eine der Raketen explodiert über einem Wohngebiet aus Einfamilienhäusern. Militärisch relevante Ziele sind hier nicht auszumachen, der Angriff, der mindestens einen Toten und mehrere Verletzte fordert, ist schlicht und einfach: Terror gegen Zivilisten.

Am Nachmittag sieht man hier Bombenentschärfer bei der Arbeit. Sie sammeln die Streumunition ein, kleine Metallzylinder mit weißen Bändern. Einer von ihnen, in einem Ganzkörper-Schutzanzug, trägt sie aus den Vorgärten der Häuser in eine Grube, dann wird vorsichtig Sand aufgeschüttet und per Fernzünder gesprengt. Es kracht, dann fliegt eine Erdfontäne in die Luft. Mehrere solcher Teams von Bombenentschärfern sind im Viertel unterwegs.

Von Sprengstoffexperten geborgene Streumunition in Mykolajiw / Moritz Gathmann

Immer wieder kommen Menschen aus den Häusern – viele scheinen die Gefahr nicht zu verstehen, die da in Form der kleinen Bomben in ihren Gärten liegt. Hunderte dieser Sprengkörper sind über das Wohngebiet verteilt. Eigentlich explodieren sie, wenn sie auf den Boden auftreffen, aber viele bleiben liegen, explodieren erst später – oder wenn sie von Menschen aufgehoben werden. Wegen diesen Gefahren für Zivilisten wurde Streumunition in einem internationalen Vertrag verboten, Russland und die USA haben ihn jedoch nicht unterzeichnet.

Wut auf Russland - und auf den Westen

An einem Tag, an dem russische und ukrainische Delegationen in Istanbul über ein mögliches Friedensabkommen verhandeln, glaubt in Nikolajew kaum jemand daran, dass der Frieden nah sein könnte.

Am Morgen gegen 8.30 Uhr zeigt die russische Armee, wozu sie neben Angriffen auf Wohnviertel noch fähig ist: Terror gegen Regierungsvertreter. Ein Marschflugkörper schlägt in die Gebietsverwaltung direkt im Stadtzentrum ein, genau dort, wo Gouverneur Witalij Kim täglich um diese Zeit seine Morgenkonferenz abhält. Ein Teil des neunstöckigen Gebäudes ist in sich zusammengestürzt. Soldaten schirmen das Gelände weiträumig ab, Krankenwagen fahren mit Verletzten davon.


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Um kurz nach neun Uhr stehen einige Mitarbeiter geschockt an der Straße, die zur Verwaltung führt. Sie versuchen per Telefon Menschen zu erreichen, die schon im Gebäude waren. Ein Mann mit verstaubter Jacke und einer kleinen Aktentasche konnte sich aus dem siebten Stock über das Treppenhaus nach draußen retten. Seine Lippen beben, als er redet: „Ich habe Menschen mit abgetrennten Armen und Beinen gesehen. Es war fürchterlich.“ Und er klagt den Westen an: „Das Blut der ukrainischen Männer, Frauen und Kinder klebt an den Händen Russlands, aber auch an euren. Ihr seid Feiglinge. Aber wenn ihr uns nicht die nötigen Waffen gebt, um uns zu verteidigen, wird das hier immer wieder passieren. Stattdessen kauft ihr weiter Öl in Russland und finanziert die Raketen, die uns treffen. Ich bin kein Fan von Lenin, aber mit einem hatte er Recht: Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen. So ist es auch mit dem Westen und Russland.“

Durch die Reihen der Soldaten kommt jetzt Dmytro, der Militärpressesprecher der Verwaltung, in voller Kampfmontur, in der einen Hand die Kalaschnikow, in der anderen die ukrainische Fahne aus dem Arbeitszimmer des Gouverneurs, die um eine abgebrochene Holzstange gewickelt ist. Die Luftalarm-Sirenen heulen wieder, und Dmytro treibt die Kamerateams und Reporter in eine nahegelegene Bar im Kellergeschoss eines Wohnhauses. Eine neue Attacke mit russischen Raketen ist jetzt jederzeit möglich. Offenbar kommen sie aus Richtung des Schwarzen Meers, das nur 50 Kilometer südlich der Stadt liegt.

Zehn Raketen auf Mykolajiw

Wenige Minuten später betritt der Gouverneur den Keller, der Mann, auf den der russische Angriff am heutigen Tag zielte. Kim ist ein 41-Jähriger in orangem Shirt und grünem Parka, ein Vertreter der neuen Ukraine, ohne jegliche sowjetisch anmutende Machtaura, halb Koreaner, halb Ukrainer. Über die letzten Wochen hat er sich mit seinen – trotz der ernsten Situation – aufmunternden Videobotschaften zum Liebling seiner Stadtbewohner und der ganzen Ukraine gemacht: Auf Telegram folgen ihm fast eine Million Menschen.

Gouverneur Witalij Kim

Kim gibt einen kurzen Kommentar zum Angriff ab: Zehn Raketen seien in der Nacht auf die Stadt abgefeuert worden, die letzte hat die Gebietsverwaltung zerstört. Wie viele abgeschossen und wie viele ihr Ziel erreicht haben, sagt er nicht. Ob er Angst habe? „Wir haben alle Angst. Aber was soll ich machen – weinen? Der Krieg geht weiter, wir arbeiten weiter.“ Dann verschwindet der Mann, der gerade dem Tod von der Schippe gesprungen ist, wieder in Begleitung von Soldaten. In seinem Telegram-Video wird er später als Grund für sein Überleben sagen: Ich habe heute verschlafen.

Die Bilanz aus der Gebietsverwaltung bis zum Nachmittag, die Aufräumarbeiten sind noch lange nicht beendet, die Trümmer noch meterhoch: Sieben Menschen tot, 22 verletzt.

Taxifahrer Andrej wünscht zum Abschied eine „langweilige Nacht.“ Warum nicht „gute oder ruhige Nacht“? „Das hat uns Witalij Kim beigebracht. Immer, wenn er uns eine „ruhige Nacht“ gewünscht hat, ist was passiert.“

Auch die scheinbar guten Neuigkeiten aus Istanbul lassen die Menschen nicht aufatmen: Moskau verspricht ein Zurückfahren der militärischen Aktivitäten im Raum Kiew und Tschernihiw. Vom Süden des Landes ist keine Rede.

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