Mutationsgeschehen des Corona-Virus - Was die Politik versäumt

Pandemien gab es schon immer. Doch der Abstand zwischen ihnen wurde im Verlauf der letzten Jahrzehnte immer geringer. Um sich zu wappnen, hat die Politik noch einiges nachzuholen.

Die Erwartungen an die Bundesregierung im Umgang mit der Pandemie sind hoch / dpa
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Autoreninfo

Professor Dr. Kuno Kirschfeld, einer der Gründungsdirektoren des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen, ist auch nach seiner Emeritierung dort tätig. Forschungsgebiet: Hirnforschung, vor allem Sehprozesse. Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und der Academia Europaea.

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Der Ausgangspunkt: Der Lebensraum Erde ist begrenzt, was bedeutet, dass die Menschheit nicht unbegrenzt weiterwachsen kann wie bisher, ohne dass es zu einem wie auch immer gearteten Zusammenbruch kommen muss. Die Fragen sind: Wann ist eine kritische Grenze erreicht, und, wie wird aller Voraussicht nach ein Zusammenbruch erfolgen? Ist die derzeitige Pandemie womöglich der unausweichliche Zusammenbruch, oder können wir damit rechnen, dass wir diese Pandemie, so wie alle bisherigen, überwinden können? 

Drei mögliche Szenarien

Rein formal lassen sich für die vor uns liegende Zeit drei denkbare, qualitativ verschiedene Szenarien skizzieren:
1. Es gelingt, die aktuelle Pandemie zu überwinden, das Leben normalisiert sich wieder.
2. Die aktuelle Pandemie wird überwunden, die nächste folgt aber in so kurzem Abstand, dass sich Lebensumstände und Weltwirtschaft noch nicht wieder normalisieren konnten.
3. Es treten in absehbarer Zeit so viele gefährliche Mutationen auf, dass die Gegenmaßnahmen, die wir ergreifen können, nicht ausreichen, um die Pandemie auf absehbare Zeit zu überwinden.

Welches der Szenarien ist das wahrscheinlichste? Natürlich hoffen wir alle, dass wir die Corona-Pandemie überwinden und zu einem normalen Leben zurückkehren können. Aber lassen sich das zweite und dritte Szenario ausschließen? 

Unaufhaltsames Mutationsgeschehen? 

Es gibt immer mehr Mutationen, vor allem auch solche, die gefährlicher sind, als die ursprünglichen. Und noch schlimmer: Es treten sogenannte Escape-Mutationen, Fluchtmutationen, auf. Sie haben das Virus so verändert, dass es auch geimpfte Personen infizieren kann, oder Genesene, also solche, die eine Erkrankung überwunden haben. Es ist dazu in der Lage, weil es den durch die Impfung gebildeten Antikörpern und Immunzellen entkommen kann. Dieses Mutations-Geschehen ist schon häufig im Detail beschrieben. Zurückgeführt wird es darauf, dass die Weltbevölkerung inzwischen so gewachsen ist, dass viel mehr Menschen infiziert sind, als in bisherigen Pandemien.

Dieses große Reservoir an Viren in Menschen führt zu einer noch nie dagewesenen Häufigkeit von  Mutationen. Aber stimmt diese Hypothese über die Ursache der vielen Mutationen auch? Sie lässt sich überprüfen. Stimmt sie nämlich, so müsste die Häufigkeit der Pandemien mit der Zeit zugenommen haben, denn mit den Jahren nahm ja die Weltbevölkerung zu, wie in der Abbildung gezeigt: Über dem Kalender-Datum ist sie mit Punkten, nach Wikipedia,  angegeben.  

Pandemien werden häufiger

Pandemien werden häufiger. Aus der Liste der Pandemien und Epidemien von Wikipedia sind für die Zeit von 1890 bis 2020 die Pandemien zusammengestellt, es waren 16 (Tabelle).

Pest und Cholera werden durch Bakterien verursacht, alle anderen von Viren. Will man erkennen, ob die Häufigkeit der Pandemien zunahm, so ist es am anschaulichsten, wenn man die Daten graphisch darstellt, wie in der Abbildung gezeigt.

Über den Kalenderjahren ist der Zeitpunkt der jeweiligen Pandemie angegeben. Die Säule mit Kreis für jede Pandemie zeigt an, wie lange Zeit die vorherige Pandemie zurücklag. Die bakterienbedingten Erkrankungen Pest und Cholera sind nicht mit einbezogen. Sie werden heute dank Hygiene und Antibiotika wohl kaum mehr gefährlich werden.

Nach rechts in der Abbildung werden die Säulen immer kürzer. Das zeigt, dass die Pausen zwischen den Pandemien seit dem Jahr 1900 bis heute immer kürzer wurden. In Anbetracht der wenigen Daten gibt es natürlich eine erhebliche Streuung. Trotzdem ist die Tendenz eindeutig.

Mittlerer Abstand wird kürzer

Wir stellen fest: Von 1950 bis zum Jahr 2000 gab es fünf Pandemien, im Mittel alle 10 Jahre eine. Von 2000 bis 2020 zählen wir sieben, im Mittel eine alle 3 Jahre. Das heißt, wie nach der Hypothese zu erwarten: Die Häufigkeit der Pandemien hat zugenommen. Was aber auch klar ist: Der mittlere Abstand der Pandemien ist inzwischen sehr kurz geworden – drei Jahre – Tendenz weiter abnehmend, denn die Menschheit nimmt ja weiter zu. Wenn aber Pandemien so kurz aufeinander folgen, so heißt das, die oben genannten Szenarien zwei und drei sind nicht auszuschließen.
Auch auf ungewollte Szenarien müssen wir uns vorbereiten, wenn sie möglich sind. 

Politik muss auf Probleme hinweisen

Was bedeutet das für die Politik? Sie hätte sich längst auch auf diese Szenarien einstellen müssen. Sollten sie eintreten, so lässt sich nicht behaupten, das hätte niemand vorhersehen können.  Seit dem von der Wissenschaft aufgezeigten Auftreten der Escape- Mutationen steht die Gefahr, dass wir den Wettlauf mit den Mutationen verlieren könnten, als Menetekel an der Wand. Sollte es zur Dauerpandemie kommen, so muss vorausgedacht werden, wie unsere Gesellschaft gestaltet werden soll.

Diesem Problem muss sich nicht nur die Politik stellen, es ist so weitreichend, dass sich möglichst viele Menschen aus möglichst verschiedenen Lebensbereichen damit befassen müssen, ist doch die ganze Gesellschaft betroffen. Ein Beispiel: Es gibt viele Menschen, die deshalb, weil sie es nicht ausgeben können, immer mehr Geld zur Verfügung haben, während andere um ihre Existenz kämpfen.

Bei einer Dauerpandemie müsste versucht werden, hierfür einen Ausgleich zu finden. Damit aber solche Überlegungen angestellt werden, muss die Politik, auf das Problem hinweisen, und nicht so tun wie bisher: Es wird schon alles wieder gut werden.  Schon auch deswegen, um in der Bevölkerung nicht immer wieder falsche Hoffnungen zu wecken, die möglicherweise nicht eingehalten werden könne. 

Mit Daten zur Normalität 

Vor allem aber: Besteht die Gefahr einer Dauerpandemie, so muss ohne Tabus alles versucht werden, um sie abzuwenden. Vor allem müsste der Datenschutz soweit gelockert werden, dass eine Corona-App entwickelt werden kann, die auch Ort und Zeitpunkt von Begegnungen mit Infizierten angeben und automatisch an eine zentrale Stelle melden kann, dies möglichst europaweit.

Nach dem Motto: Lieber als die Daten mit ins Grab zu nehmen, sollten wir sie zur Lebensrettung preisgeben. Mit einer solchen App wüssten wir längst, wo Infektionen stattfinden. Sie würde außerdem bereits während der Pandemie ein Leben in Richtung Normalität ermöglichen: Ein weitgehend gefahrloser Besuch von Restaurants wäre mit ihr vermutlich möglich.

Die Wirklichkeit richtig erkennen 

Da die Menschheit weiter wächst, was wohl kaum zu verhindern ist, wird, was immer wir tun, im günstigsten Fall nur für einen Aufschub sorgen können. Das Klima zu stabilisieren erweist sich ja, wie wir erleben, nicht einfach. Das weitere Wachstum der Weltbevölkerung ist eine zusätzliche Schwierigkeit. Dies alles sind beunruhigende Tatsachen, es hilft aber nicht, davor die Augen zu verschließen. In jedem Fall gilt: Lösungen für alle kommenden Probleme können nur gefunden werden, wenn wir die Wirklichkeit richtig erkennen. 

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