Wolfgang Schäubles politische Memoiren - Erinnerung wird zur Gegenwart

In seinen Erinnerungen präsentiert sich Wolfgang Schäuble wie bei seinen öffentlichen Auftritten: nüchtern, sachlich, erklärend, Zusammenhänge erläuternd. Dabei spart er auch nicht mit Selbstkritik - vor allem in Hinsicht auf die Russlandpolitik.

Viel zu umfassend für eine „normale“ Rezension: Wolfgang Schäubles Erinnerungen / dpa
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Thomas Speckmann ist Historiker und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

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Dieses politische Leben ist viel zu lang, viel zu vielschichtig, viel zu umfassend für eine „normale“ Rezension. Und bei der Lektüre der Erinnerungen von Wolfgang Schäuble dürften bei seinen Leserinnen und Lesern wiederum eigene Erinnerungen wach werden. Vieles dürfte dann verschwimmen: Schäubles Bilder seiner Zeit mit den eigenen, Schäubles Wahrnehmungen mit den eigenen, Schäubles Urteile und Wertungen mit den eigenen.

Doch daraus lässt sich auch etwas gewinnen, auch für eine Rezension. Zumal wenn der Rezensent ein Stück des politischen Weges von Wolfgang Schäuble begleitet hat – als sein Leiter des Referats Reden und Texte im Bundesministerium der Finanzen von Ende 2012 bis in den Herbst 2017, als Schäuble das Amt des Bundestagspräsidenten übernahm. Unzählige öffentliche Auftritte und Veröffentlichungen fallen in diese Jahre. Sie waren durchdrungen von Krisen, die Deutschland und Europa bis heute prägen: die Auswirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, beginnend in den Vereinigten Staaten, dann überschwappend nach Europa, in Folge die Eurokrise, die Griechenlandkrise, die Flüchtlingskrise, Brexit, Trump und nicht zuletzt die Kriege in der Ukraine, in Syrien und in Gaza.

Mitgearbeitet an Schäubles Erinnerungen hat der Rezensent nicht. Diese Rolle haben die Historiker Jens Hacke und Hilmar Sack übernommen. Hacke vertritt derzeit die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sack verantwortet den Fachbereich Geschichte, Politik und Kultur in den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestags. Zuvor war er Leiter des Präsidialbüros mit den Stabsbereichen des Bundestagspräsidenten und langjährig Leiter des Teams der Redenschreiber der Präsidenten Lammert und Schäuble.

Man habe die Lage damals falsch eingeschätzt

Vor diesem Hintergrund ist der Rezensent natürlich nicht nur ein Leser, sondern auch ein Augenzeuge des Denkens und Handelns von Schäuble als Bundesfinanzminister. Umso mehr ist dieses politische Kapitel für ihn von Interesse – nicht zuletzt zum Abgleich mit den eigenen Bildern aus dieser Zeit, den eigenen Wahrnehmungen, Urteilen und Wertungen.

Auffallend ist zunächst bei Schäubles Schilderungen, dass sie in einem Duktus verfasst sind, die seinen Auftritten in der Öffentlichkeit entsprechen: möglichst nüchtern, sachlich, erklärend, Zusammenhänge erläuternd und – gelegentlich – mit Ironie gewürzt, um eine Gemengelage oder einen Sachverhalt zu kommentieren oder zu verdeutlichen. Zwar könnten seine Ausführungen manchem Kritiker an einigen Stellen auch belehrend erscheinen, was dann jedoch vor allem vom jeweiligen Standpunkt in der Sache abhängen dürfte. Bemerkenswerter aber ist die Klarheit, mit der Schäuble sich immer wieder auch selbst belehrt sieht – gerade auf den Politikfeldern, die auch die heutige Nachrichtenlage beherrschen.

 

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Da ist zunächst der Umgang mit Putins Russland. Hier fragt sich Schäuble selbst, ob er rückblickend Dinge anders gemacht hätte. Seine ebenfalls nicht zuletzt an sich selbst gerichtete Antwort fällt schonungslos aus: „Mit dem Wissen von heute sicher ja, aber unter den gleichen Bedingungen von damals würde ich wohl wieder ähnlich handeln – und die gleichen Fehler machen.“ Deshalb betont er nach eigener Aussage mit Blick auf die seit dem Überfall auf die Ukraine zu Recht umstrittene Russlandlandpolitik, dass man die Lage damals falsch eingeschätzt habe – und deshalb seien Fehler gemacht worden, die man heute deutlich sehe. Doch im Nachhinein zu kritisieren, sei das eine, auch das einfachere, wichtiger sei, aus diesen Fehlern zu lernen.

Das Scheitern der um Frieden bemühten Regierungschefs vor dem 24. Februar 2022 ist für Schäuble in gewisser Weise „unser München-Moment“. Putin dürfe den Krieg nicht gewinnen, weil er dann wohl weitermachen werde. Diejenigen, die unter Verweis auf Deutschlands historische Verantwortung weiterhin den Pazifismus beschwören, irren in seinen Augen. Denn gerade die Lehren aus den Schrecken zweier Weltkriege verpflichteten, die Freiheit glaubhaft zu verteidigen.

Demokratie braucht die Bindekraft der Nationen

Schäuble zitiert einen Leitsatz aus dem alten Kalten Krieg, der nicht nur mit Blick auf Russland, sondern auch auf China und die geopolitischen Verwerfungen der gegenwärtigen internationalen Unordnung nicht nur ungemein aktuell, sondern geradezu zukunftsweisend erscheint: „Das Undenkbare denken und darauf vorbereitet sein, damit es nicht passiert.“ Dabei erinnert er daran, dass im alten Kalten Krieg das Buch „The Uncertain Trumpet“ von Maxwell D. Taylor breit diskutiert wurde. Der amerikanische General betonte darin, dass Abschreckung nur funktioniere, wenn Überzeugungen durch klare Ansagen gestützt würden. Schäuble leitet daraus für die Gegenwart und Zukunft ab: „Das fordert eine andere Entschiedenheit, gerade von uns Deutschen, damit die Putins dieser Welt verstehen, dass wir in Europa keine ,uncertain trumpet‘ sind, sondern für unsere Lebensweise, für Freiheit und Demokratie auch bedeutende Opfer zu bringen bereit sind.“

Überraschen mag da zunächst, dass Schäuble offen bekennt, in seinen europapolitischen Positionen in Teilen zurückhaltender geworden zu sein. Er sehe heute mehr die Notwendigkeit, behutsam vorzugehen, wenn man Europa verändern wolle. Die Bindekräfte der Nationen bezeichnet er als stark. Und eine freiheitliche Demokratie benötige diese Bindungen für die eigene Stabilität. Deshalb braucht es nach Schäubles Urteil die Bereitschaft, die Interessen, Erfahrungen, historischen und kulturellen Prägungen des anderen zu kennen und zu respektieren. Dies gelte besonders für den Umgang mit den osteuropäischen Nationen.

Gleichzeitig plädiert Schäuble zum einen für eine weitere Erweiterungsrunde der Europäischen Union, einschließlich des westlichen Balkans, da sonst ein schwelender Konflikt mitten in Europa jederzeit zu eskalieren drohe. Zum anderen werde die EU zweifellos institutionelle Veränderungen durchlaufen müssen, da eine solche Erweiterung nur gelingen werde, wenn man verschiedene Stufen der Integration schaffe – wofür sich wiederum die Blaupause schon in Schäubles zusammen mit Karl Lamers verfassten Papier von 1994 findet, wie er selbst bemerkt. Auch hier wird bei ihm Erinnerung zur Gegenwart, wenn nicht zur Zukunft.

Wolfgang Schäuble: „Erinnerungen. Mein Leben in der Politik“. Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 656 S., 38 €

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