Debatte um Wehrpflicht - Junge Menschen auf Sinnsuche: Politiker kein Vorbild

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine diskutiert Deutschland über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. Während Außenministerin Baerbock von einer „Diskussion aus dem letzten Jahrhundert“ spricht, sieht der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz viel Zustimmung für eine allgemeine Dienstpflicht in der Bevölkerung. Noch aber ist eine entscheidende Frage offen: Was ist das eigentliche Ziel einer neuen Wehrpflicht?

Noch blicken junge Menschen etwas orientierungslos auf die Debatte um die Dienstpflicht / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen.

aus: Artikel 12a Grundgesetz (Auszug), unverändert gültig
 

Elf Jahre sind vergangen seit der Entscheidung des Bundestages, die Wehrpflicht 55 Jahre nach ihrer Einführung auszusetzen. Wirklich glücklich war außer der FDP damals keine der im Parlament vertretenen Fraktionen mit diesem Schritt. Schaut man sich die Debattenbeiträge vom 24. März 2011 mit dem Wissen von heute noch einmal an, fällt auf, dass die generelle Einstellung von Regierung und Abgeordneten gegenüber der Bundeswehr seitdem nicht an Klarheit gewonnen hat. Genau das wäre aber notwendig für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem jüngsten Vorstoß von Oppositionsführer Friedrich Merz, der sich „aufgeschlossen“ gezeigt hat für eine „allgemeine Dienstpflicht“.

Für das Wehrrechtsänderungsgesetz der Bundesregierung stimmten damals die Abgeordneten der schwarz-gelben Koalition aus CDU/CSU und FDP sowie in der Opposition Bündnis 90/Die Grünen. Zugleich wurde damals ein freiwilliger Wehrdienst von sechs bis 23 Monaten geschaffen, der seither Männer und Frauen gleichermaßen offensteht. Bis zu 15.000 Freiwillige sollten, das war der Plan 2011, neben den Zeit- und Berufssoldaten in der Bundeswehr dienen. Das gelang nicht; derzeit sind es gerade einmal halb so viele.

Die Aussetzung der Wehrpflicht galt als Teil einer „Streitkräftereform“, mit der Regierung und Parlament die Bundeswehr von 255.000 auf 185.000 verkleinern wollten. Das Ende der Dienstpflicht gilt seither jedoch nur für Friedenszeiten. Im Spannungs- oder Verteidigungsfall kann sie jederzeit wieder aktiviert werden. Artikel 12a des Grundgesetzes blieb deshalb unangetastet. 

Schwieriges Erbe

„Ich finde das keinen Freudenakt heute, dass wir hier die Wehrpflicht aussetzen“, betonte Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) damals im Plenum, der diesen historischen Einschnitt von seinem an seiner Dissertation und dem Umgang mit seinen Verfehlungen kurz zuvor gescheiterten Vorgänger KarlTheodor zu Guttenberg geerbt hatte. Aber auch de Maizière meinte, die Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr zu begründen, denn „Deutschland benötigt leistungsfähige und finanzierbare Streitkräfte". Die 319 Millionen Euro, die die Bundeswehr ab 1. Juli 2011 sparen sollte durch den Verzicht auf Wehrpflichtige, wollte der Verteidigungsminister anschließend für den Freiwilligendienst und eine Erhöhung des Wehrsoldes ausgeben.

Es war die SPD in Person ihres Wehrexperten Hans-Peter Bartels der bei späteren Personalentscheidungen von seiner Partei dann regelmäßig übergangen wurde , der Union und FDP in dieser Debatte noch einmal kräftig die Leviten las. Zwar sei die Aussetzung der Wehrpflicht und die Einführung eines freiwilligen Wehrdienstes „prinzipiell richtig“. Allerdings habe die schwarz-gelbe Koalition unter der Führung von Angela Merkel und Guido Westerwelle die Bundeswehr „veralbert“, als sie kurz zuvor noch die Wehrdienstzeit auf dann nur noch sechs Monate verkürzte. Und mit seinem eigenmächtigen Beschluss, im Vorgriff auf die Aussetzung bereits ab 1. März 2011 keine Wehrpflichtigen mehr einzuziehen, habe sich zu Guttenberg „hart am Rande der Rechtsstaatlichkeit" bewegt, wenn die Regierung solche Entscheidungen ohne die vorherige Zustimmung durch den Bundestag treffe. 

SPD-Mann Bartels mahnte die Regierung zudem, keine Reform „nach Kassenlage“ zu betreiben (wie es dann nach neuerdings allgemeiner Wahrnehmung geschah). Die FDP-Fraktion hingegen begrüßte die Aussetzung der Wehrpflicht ausdrücklich; die Liberalen hätten diesen Schritt bereits seit Jahren gefordert. Linke und Grüne hätten die Wehrpflicht lieber gleich ganz aus dem Grundsetz gestrichen: „Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes wäre das konsequent gewesen.“ Die Grüne Agnes Malczak bemängelte in der Debatte von 2011, die Regierung habe kein Konzept über die zukünftigen Strukturen und Aufgaben der Bundeswehr vorgelegt. 

Für die CDU/CSU-Fraktion stellte demgegenüber der Abgeordnete Ingo Gädechens klar, die Union habe sich „nur schweren Herzens von der Wehrpflicht verabschiedet". Die Bundeswehr sei eben doch „eine Art Schule der Nation“ gewesen. Dort hätten junge Menschen zum ersten Mal gelernt, dass sie als Bürger auch etwas für den Staat und die Gesellschaft tun müssten. Gädechen, Berufssoldat a. D., wagte damit als einer der wenigen aus der Union wenigstens bei dieser Gelegenheit noch eine Andeutung, wie heftig Fraktion und Partei vom damaligen Merkel-Kabinett II auch bei diesem Thema überrollt worden sind.  

Aber weil das hier, Fraktionschef Volker Kauder sei Dank, ohne nennenswerten Widerstand so gut geklappt hatte, sollte dieselbe Kanzlerin dasselbe Verfahren ein Vierteljahr später erneut anwenden, als es darum ging, ihren Atomausstieg und ihre sogenannte Energiewende ebenfalls widerspruchslos durch den Bundestag zu bringen, so geschehen am 30. Juni 2011, ebenfalls auf der Grundlage bereits durch die Exekutive vollendeter Tatsachen. 

Merz zäumt sein Pferd von hinten auf

Spätestens dieser historische Rückblick liefert den Rahmen, in dem sich Friedrich Merz heute bewegt, wenn er über Wehr- und Dienstpflichten spricht: Es war, wie auch in anderen schicksalhaften Grundentscheidungen der vergangenen 30 Jahre - Verkehr, Klima, Energie, Erziehung, Rentenfinanzierung, Euro/EZB , die Union, die reihenweise maßgeblich jene Abhängigkeiten  und Widersprüche erzeugte, die also jenen Schlamassel anrichtete, in dem unser Land heute steckt. Diesen Umstand möglichst weiträumig umfahrend, versucht Merz nun das Pferd von hinten aufzuzäumen. Doch ohne gründliche Aufgabenkritik und -bestimmung ist jede Debatte über eine Dienstpflicht, wie immer im Detail gestaltet, nicht wirklich sinnvoll.   

Nicht einmal die Bundeswehrführung selbst hat der CDU-Vorsitzende hier im Moment auf seiner Seite. So zitiert das Verteidigungsministerium seinen Generalinspekteur Eberhard Zorn mit den Worten, eine Wiedereinführung der Wehrpflicht sei auch „aus aktuellem Anlass“, also mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine, „nicht erforderlich“, denn die Bundeswehr und ihre Aufgaben hätten sich verändert. Sie brauche vielmehr „gut ausgebildetes, in Teilen sogar hochspezialisiertes Personal, um das gesamte Aufgabenspektrum abzudecken". Zorn wörtlich: „Für den Kampf im Cyberraum, um nur ein Beispiel zu nennen, sind Wehrpflichtige absolut ungeeignet.“ Das klingt, als würden Ministerin Christine Lambrecht und ihr ranghöchster Mann künftige Wehrpflichtige nicht etwa als Unterstützung betrachten, sondern eher als Klotz am Bein, um den man sich dann noch zusätzlich irgendwie zu kümmern habe, ohne darin einen Sinn zu erkennen. 

Tatsächlich sind die Ansprüche, die das Bundesministerium der Verteidigung heute bereits an seine Freiwilligen stellt, nicht von schlechten Eltern. Interessenten sehen sich mit einem Eignungstest konfrontiert, der unter hohem Zeitdruck auf allerlei anspruchsvollen Themenfeldern für viele Hauptschüler, Mittelschüler und auch Gymnasiasten eine hohe Hürde darstellen dürfte, wie dieser winzige Auszug aus einem breiten Fragen-Spektrum zu Politik, Gesellschaft, Logik, Physik, Mathematik oder Geschichte zeigt:     

Kategorie: Allgemeinwissen

Welche Aussage zum Strom in einer Parallelschaltung ist korrekt?

a) Durch den kleinsten Einzelwiderstand fließt der kleinste Strom.

b) Je höher die Spannung, um so kleiner der Strom.

c) Der Strom in einer Parallelschaltung ist überall gleich groß.

d) Durch den größten Einzelwiderstand fließt der kleinste Strom.

aus: Freiwilliger Wehrdienst - Einstieg in die Bundeswehr ohne Verpflichtung 

Die Bundeswehr will die Besten, eine Elite anlocken und perfektionieren. Damit tritt sie in Konkurrenz zu Konzernen und Mittelständlern, die ganz andere Gehälter zu zahlen in der Lage und bereit sind und nebenbei auch eine möglicherweise deutlich attraktivere Arbeitskultur anzubieten haben.

Hinzu kommt in dieser Betrachtung folgender, ebenfalls damals vom Abgeordneten Gädechen angesprochener Aspekt: Mit dem Bewusstsein, dass junge Menschen „als Bürger auch etwas für den Staat und die Gesellschaft tun müssen“, ist es elf Jahre später möglicherweise nicht mehr so weit her. Die Kultusminister haben unverändert kein Problem damit, wenn mehr Jungen und Mädchen als jemals zuvor die Schule ohne Abschluss verlassen. Das Abiturzeugnis („Reifezeugnis“) ist vielerorts nicht mehr Beleg für das Vorhandensein grundlegender Kenntnisse und Fähigkeiten für ein Hochschulstudium. Und wenn 15- bis 20-Jährige in der Pandemie eines gelernt haben, dann: Hilf Dir selbst, denn sonst tut es niemand. Die Schule jedenfalls nicht und die Uni eher auch nicht. Mit Glück noch das eigene Elternhaus soweit vorhanden und intellektuell, räumlich und zeitlich in der Lage dazu.

Es fehlt eine aufrichtige Debatte

Dass sich in Deutschland seit 2011 eine gigantische Welle jugendlicher Dankbarkeit gegenüber dem Staat aufgebaut habe, die nun dringend ein Ventil suche in Form einer Dienstverpflichtung, ist somit nicht erkennbar. Andererseits ist folgendes aber auch wahr: Mehr denn je sind junge Menschen auf Sinnsuche. Landesverteidigung, die Verteidigung von Freiheit und Demokratie und Werten, wie es die Ukraine seit 100 Tagen dem Rest der Welt vormacht, könnte ein solcher Sinn sehr wohl sein. Was Merz aus seinen Begegnungen mit Schülern aus seinem Wahlkreis berichtet und als Zeichen einer großen Aufgeschlossenheit gegenüber einer Allgemeinen Dienstpflicht deutet, muss also nicht auf einer berufsbedingten Wahrnehmungsverzerrung beruhen. 

Nur kommt es eben wie stets auf die Voraussetzungen und auf die konkrete Realisierung an. Und erst recht wäre es unverschämt, von jungen Leuten mehr Patriotismus und Opferbereitschaft zu verlangen, als die Politiker selbst aufzubringen und zu beweisen bereit sind. Genau davon kann aber gerade in dieser Ampelkoalition keine Rede sein. Landtagsabgeordnete, die sich als erste Amtshandlung nach ihrer Wahl eine Diätenerhöhung genehmigen, während ganz in der Nähe die Schlangen vor der (von Freiwilligen nur noch mit Mühe aufrecht erhaltenen) Lebensmitteltafel Rekordlängen erreichen, sind erst recht alles, nur kein Vorbild.

Es hilft also nichts: Die Politik mit Koalition und Opposition vorneweg muss sich im Wege einer gerne strittigen, aber aufrichtigen Debatte im Klaren darüber werden, wohin sie eigentlich mit der Bundeswehr will angesichts des anders als 2011 noch vermutet unverändert virulent Bösen und welche Voraussetzungen dafür zu schaffen sind. Das gilt für das Material, wofür 100 Milliarden Euro kein schlechter Anfang sind, das gilt aber auch und erst recht für das Personal. Dieses ist im Hinblick auf Intelligenz und Motivation, wie uns nicht zuletzt wieder die Ukraine zeigt, mindestens ebenso entscheidend. 

Friedrich Merz wird sich auch auf diesem Feld nicht auf Dauer davor drücken können, die schweren Fehler seiner Partei während der Ära Merkel auch als solche klar zu benennen, denn nur auf dieser Grundlage kann ein neues Grundsatzprogramm überzeugen und funktionieren. Dazu scheint er bis jetzt in Sorge um den Zusammenhalt der Union nicht bereit. Andere werden ihm diese Aufgabe aber nicht abnehmen - erst recht nicht die vielgeschmähte Jugend von heute. 

Wenn sie Lebenszeit opfern soll, vielleicht sogar ihr Leben im Falle eines bewaffneten Konfliktes, hat sie ein Recht, zu erfahren, wofür. Und ganz nebenbei hat sie auch ein Recht auf anständige Bezahlung, Freiwilligkeit oder Pflicht hin oder her, sonst wird das nichts. Bruttozahlungen von derzeit 1500 bis 1900 Euro sind kein gutes Argument.

P. S.: Die richtige Antwort ist d): Durch den größten Einzelwiderstand fließt der kleinste Strom. Deshalb verbraucht zum Beispiel eine 100-Watt-Glühbirne mit ihrem dickeren Glühfaden (und einem entsprechend geringeren Widerstand) viermal mehr Strom als etwa eine 25-Watt-Birne.

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