Wahlerfolg der Grünen - Neue deutsche Sonderwege

Bei den Europawahlen schnitten die Grünen besonders gut ab. Sie sind die deutscheste aller Parteien. Sie verbinden das gute Gewissen mit der großen Angst. Europa aber funktioniert anders

Glückstrunken und gehyped: Annalena Baerbock (links) und Katrin Göring-Eckard / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Glückstrunken sind sie, die deutschen Grünen, und sie haben allen Grund dazu. Herzlichen Glückwunsch! Ein Ergebnis oberhalb der 20 Prozent-Marke bei den Wahlen zum EU-Parlament ist eine stramme Ansage. Kein Spalt, sondern ein tiefer Graben klafft zur moribunden SPD, die sich mit weniger als 16 Prozent zufrieden geben musste. Bei ihr ist die Null, bei den Grünen der Himmel die Grenze. Der sozialdemokratische Gemischtwarenladen wird zur Bückware, um das grüne Ein-Thema-Angebot reißen sich die wählenden Konsumenten. Und doch bleibt ein grünes Europa auf absehbare Zeit ein Wunschbild. Im Höhenflug der deutschen Grünen drückt sich die alte deutsche Unfähigkeit zur Mitte aus.

Die Ernte, die hierzulande die Grünen für ihre thematische Fokussierung auf Umweltschutz und für ihre personelle Geschlossenheit einfuhren, blieb im Rest Europas auf den Feldern. Wenn es im Straßburger Parlament künftig rund 9 Prozent grüne Vertreter geben wird mit zirka 70 Sitzen – 17 mehr als bisher –, dann ist der Anstieg fast ausschließlich auf die Wähler der Bundesrepublik zurückzuführen. Da die christ- und sozialdemokratischen Parteien ihre gemeinsame absolute Mehrheit eingebüßt haben, werden die grünen Stimmen wichtiger. Große Sieger aber sind die Liberalen der ALDE einerseits und die noch unverbundenen rechten Parteien andererseits. 9 von 10 EU-Parlamentariern sind nicht grün – und selbst in Deutschland haben 4 von 5 Wählern nicht für die Grünen votiert.

Die deutsche Angst als Wahlhelferin

Insofern gilt nach der Wahl dasselbe wie vor der Wahl: Der medial angefachte Hype, der stellenweise in kaum verklausulierte journalistische Wahlempfehlungen mündete, ist geringer als die soziale Wirklichkeit. Weite Teile des Ostens etwa ließen sich vom grünen Klima-Alarmismus nicht entzünden.

Und wo der Hype in die harte Währung eines phänomenalen Wahlergebnisses umgerechnet werden konnte, etwa in der Transfer- und Spaß-Metropole Berlin, da grüßt ein alter deutscher Sonderweg, der sich zur demoskopischen Sonderkonjunktur auswuchs: Jenseits von Überschwung oder Angst finden sich die Deutschen nicht wieder. In der Mitte Europas ist die politische Mitte ein seltener Gast.

Die breit orchestrierte Angstkampagne der Grünen, der von einigen Wissenschaftlern, vielen Medien und sehr vielen Aktivisten unterstützte apokalyptische Ton fällt auf fruchtbaren Boden, wo ein Volk wenig Zutrauen hat in die eigenen Gestaltungskräfte. Wo es klassischerweise an Zukunftsfreude gebricht und politischer Phantasie. Wo Politik nur die Atempause zwischen Verhängnissen ist, wo das Schicksal waltet und die Angst triumphiert, der Himmel könnte den Menschen jederzeit auf den Kopf fallen. „Wir sind ein abhängiges Land“, sagte unlängst Bundesaußenminister Heiko Maas, der freilich der SPD angehört.

Bewegung der Unvertretbaren

Die deutsche Grundbefindlichkeit namens Angst erzwingt von Zeit zu Zeit einen emotionalen Überschwang. Dieser soll aus jener retten, auch in metaphysischem Sinn. Einen solchen vulgärrousseauistischen Fehlschluss haben die Grünen ins Praktische gewendet, weshalb sie die deutscheste aller Parteien sind. Das Wahre, das Echte, das Authentische lauert demnach im unverbogenen Sein. Und nur dort. Der Gedanke der Repräsentanz – ein Urelement der parlamentarischen Demokratie – hat es darum in Deutschland besonders schwer. Letztlich, so die grünen Halb-Rousseauisten, kann die eigene Befindlichkeit nicht delegiert werden. Handle stets so, dass deine eigene Subjektivität nicht im Objektiven verleugnet werden muss: Das ist der Fundamentalsatz grüner Weltanschauung. Das ist die Ursehnsucht deutscher Weltbemeisterung.

Und wer davon nichts wissen will, der bekommt mit einem Wahlkreuz für die Grünen post festum und medial zertifiziert, dass die eigene Sorge im grünen Kollektiv gut aufgehoben ist. Dass in der Wahlkabine also das unvertretbare Gefühl sich aufaddiert zur Bewegung der Unvertretbaren. Zur grünen Volksbewegung, die wachsen muss, damit das Ich sich findet. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die deutsche grüne Sonderkonjunktur wird sich nun an den europäischen Realitäten brechen. Ist das nicht der Sinn eines Projekts namens EU?

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