Volkszählung in Deutschland - Zensus 2022: Wird ein weiteres Projekt an die Wand gefahren?

Mit Infrastrukturvorhaben hatte Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten kein glückliches Händchen. Investitionen in die Hardware laufen mit gigantischen Zeitverzögerungen und explodierenden Kosten aus dem Ruder, digitale Projekte entwickeln sich gleichfalls fatal. Die Hoffnung, dass die Planer aus solchen Schäden klug werden ist gering. Erschreckende Mängel offenbart auch der derzeit ablaufende Zensus.

Wer lebt hier wie? Blick über Rostock / dpa
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Autoreninfo

Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Linowski (Foto Eva Heisenberg) ist studierter Mathematiker und promovierter Betriebswirt; seine aktuellen Arbeitsgebiete liegen im Bereich der angewandten Ökonomie. Im Mai 2021 erschien sein Buch „Herausforderungen der Wirtschaftspolitik“.

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„Theorie ohne Praxis ist leer, Praxis ohne Theorie ist blind.“ Dieses Zitat von Immanuel Kant gehört zu unserem geistigen Allgemeingut, es formuliert eine einfache Wahrheit und wird nichtsdestotrotz im heutigen Deutschland in beiden Teilen nicht hinreichend verstanden beziehungsweise praktiziert. Im Folgenden werde ich meine Überlegungen aus Beobachtungen beim Zensus (früher: Volkszählung), der im Jahr 2022 in der Bundesrepublik abgehalten wurde, und an dem ich mich mit zahlreichen Schülern der 12. Klasse eines Rostocker Gymnasiums beteiligt habe, entwickeln.

Wichtig beim Verständnis des Zensus‘ ist, dass die Teilnahme nicht freiwillig ist, vorausgesetzt, ein zu Befragender akzeptiert finalerweise ein Bußgeld, das bis zu ca. 5.000 Euro betragen kann. Dies stellt einen fundamentalen Unterschied zu aktiven Bürgerbeteiligungen dar und es erlaubt somit weitergehende Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung, die in Deutschland zum Stichtag 15. Mai 2022 lebte, als ein verkürzter Blick auf die die öffentliche Debatte dominierenden Gruppen.

Junge Menschen müssen egoistisch sein

Es war einerseits der erklärte Sinn des Zensus‘ – der Ermittlung, wie viele Menschen in Deutschland leben, wie sie wohnen und arbeiten – und der Auswertung dieser Daten – die Basis für zahlreiche Entscheidungen in Bund, Ländern und Kommunen darstellt – und anderseits das Bedürfnis, mehr über die Bevölkerung meiner Stadt zu erfahren, die mich zur Teilnahme am Zensus bewogen hatten. Für die Schüler stellte die steuerfreie Aufwandsentschädigung für ihre Tätigkeit fraglos den interessantesten Bestandteil der Mitwirkung am Zensus dar.

Dass (junge) Menschen (seriös) Geld verdienen wollen, ist so normal wie gut. Ich bitte nicht missverstanden zu werden. Junge Menschen müssen meines Erachtens zu einem wesentlichen Teil egoistisch sein, um sich selbst entwickeln und der Gesellschaft später etwas zurückgeben zu können. Es ist also gerade bei jungen Menschen von fundamentaler Bedeutung, Anreize zu setzen, die egoistische Motive mit gesamtgesellschaflichen Interessen versöhnen.

Auf dem Weg zu (unvollständigen) Antworten

Der aktuelle Zensus beruht auf einer Stichprobe. Stichproben werden erhoben, weil eine Gesamterhebung zu aufwendig bzw. zu teuer ist. Ob die Zensus-Stichprobe tatsächlich repräsentativ war, kann ich nicht beurteilen; dies ist hier auch irrelevant. Beim Haushalte-Zensus 2022 (parallel fand eine Gebäude- und Wohnungszählung statt) wurden in Gesamtdeutschland ca. 10,3 Millionen Einwohner (d.h. etwa ein Achtel der Bevölkerung Deutschlands) befragt.

 

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Dabei wurden Wohnadressen „zufällig“ ausgewählt, bei denen alle dort Wohnhaften durch sogenannte Erhebungsbeauftragte, einer davon war ich, zu befragen waren. Dies gilt für ein Einfamilienhaus ebenso wie für einen Aufgang in einem Hochhaus, in dem mitunter mehr als 100 Personen gemeldet waren. Es folgte eine schriftliche Terminankündigung mit Informationsmaterial zum Zensus.

Die anschließende Befragung bestand aus zwei Teilen, einem ersten, bei dem Stammdaten wie Name, Vorname, Geburtsdatum und Geschlecht vom Erhebungsbeauftragten persönlich erhoben wurden, und einem zweiten, in dem einige weiterführende Fragen insbesondere zum Bildungsstand sowie zu Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit gestellt wurden. Diesen zweiten Teil sollten die Bürger online oder auf einem Fragebogen beantworten.

Zweifel, dass diese Summe realistisch ist

Insgesamt sind in Deutschland von Mai bis Ende des Jahres 2022 über 100.000 Erhebungsbeauftragte unterwegs; die mit dem Zensus verbundenen Kosten wurden von der Bundesregierung auf ca. 1,5 Mrd. Euro (also ca. 180 Euro pro Einwohner bzw. 330 Euro pro Erwerbstätigem) geschätzt. Doch ich habe deutliche Zweifel, dass diese Summe realistisch ist.

Mein Einzugsbereich war die Hanse- und Universitätsstadt Rostock, also keinesfalls eine „abgehängte“ Region. Rostock ist mit etwas über 210.000 Einwohnern zwar durch eine starke soziale Segregation der Stadtteile gekennzeichnet, es gibt aber keine wirklichen Problemviertel. Die renovierten DDR-Plattenbauten, die etwa die Hälfte der Stadt ausmachen, sind baulich in gutem Zustand, die Stadt ist grün und der öffentliche Nahverkehr funktioniert gut.

Ich habe zusammen mit den Schülern etwa 5.000 Befragungen – davon 500 selbst – durchgeführt und damit indirekt etwa 2 Prozent der Rostocker Bevölkerung kennengelernt. Dies betrifft den wohlhabenden Teil ebenso wie die weniger einkommenstarken Teile der Bevölkerung. Jenseits etwa 1 Prozent aller angeschriebenen Bürger, die die Befragung fundamental ablehnten (obwohl der Zensus über Monate in den Medien thematisiert wurde und sie durch ein Bundesgesetz zur Mitwirkung verpflichtet wurden und ggf. Strafen zu erwarten hatten) ergaben sich rasch aus der Beobachtung gespeiste erste Erkenntnisse.

Überschätzte Digitalkenntnisse, unverständliche Fragen und Fehlanreize

Die erste Erkenntnis war, dass die Regierung die Digitalkenntnisse der deutschen Bevölkerung grandios überschätzt hat. So ging man offensichtlich davon aus, dass circa 75 - 80 Prozent der Bevölkerung den zweiten Teil der Befragung online absolvieren könnten. Tatsächlich waren lediglich etwa die Hälfte der Befragten in der Universitätsstadt Rostock überhaupt technisch in der Lage, „auf gehobenem Niveau“ online zu kommunizieren und jenseits von Universitätsstädten wie Heidelberg und Tübingen dürfte sich die Situation in Deutschland kaum besser darstellen.

Die Ursachen dafür sind ebenso offensichtlich: der bekannte fortgeschrittene Alterungsprozess der Bevölkerung Deutschlands und zahlreiche real existierende überforderte Haupt- und Realschulabsolventen. Migranten scheitern an sprachlichen und kulturellen Hürden, obwohl der Online-Zensus neben Deutsch in 14 weiteren Sprachen beantwortet werden konnte.

Ein in Teilen unbrauchbares Projekt

Die zweite Erkenntnis war, dass von denjenigen, die online kommunizieren konnten, nach meiner Erfahrung wiederum fast die Hälfte einige Fragen, die für „Eingeweihte“ zumeist durchaus logisch und verständlich waren, nicht vollständig verstanden haben. Die Folge waren und sind falsche Antworten. Die Konsequenz ist ein Zensus, der in Teilen unbrauchbar ist bzw. nur vermeinlich exakte Ergebnisse.

Um dies besser zu verstehen, muss man ferner wissen, dass die Erhebungsbeauftragten Freiwillige in dem Sinne waren, dass sie eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 6 Euro (Teil 1) plus 7 Euro (Teil 2) pro Befragten erhielten. Dabei war es irrelevant, ob mit den zu Befragenden ein ausführliches Interview, das sich bei etwas Übung seriös auf ca. 10 Minuten pro Person (Kinder und Pensionäre erfordeten bei gleichen Pauschalen weniger Zeit) beschränken ließ, durchgeführt wurde, oder Online-Kennungen zum Selbstgebrauch übergeben wurden.

So lag für die Erhebungsbeauftragten, die bei guter Selbstorganisation ihre Stundensätze von seriös circa 50 Euro in den dreistelligen Bereich „hochjazzen“ konnten, in der Tat ein perverser Anreiz vor, die Gespräche so kurz wie möglich zu halten. Anzumerken ist, dass der überwiegende Teil der mit dem Zensus befassten Verwaltungsangestellten nur temporär bis Dezember 2022 eingestellt wurde.

Pilotphasen könnten grobe Mängel vermeiden helfen

Wie zu erwarten, war eindeutig zu beobachten, dass die Fragen nicht auf ihre Praxistauglichkeit getestet wurden. Ein markantes Beispiel ist die Frage „Wurden Sie auf dem heutigen Staatsgebiet von Deutschland geboren?“, die Menschen, die bis 1945 in zum Beispiel Ostpreußen oder Schlesien geboren wurden, in bizarre Folgefragen verwickelte beziehungsweise verwickelt hätte können, wenn der Erhebungsbeauftragte nicht abkürzen konnte oder wollte. Schlimmere technische Fehler wurden von der Gebäude- und Wohnungszählung berichtet.

Warum vor dem „Großexperiment Zensus Deutschland“ keine lokalen Experimente (wie bei unserem „systemischen Rivalen“ China) gemacht wurden bzw. solche ausgewertet wurden, bleibt zu erforschen. Wie wir die Welt im Umbruch verstehen wollen, wenn wir nicht einmal uns selbst kennen, ebenso. Meine Beobachtungen decken sich mit „Digitalisierungsversagen“ bei den Schulinformationssystemen wie Itslearning, der elektronischen Steuererklärung Elster, dem Onlineanmeldungsprozess bei der Arbeitsagentur, und so weiter.

Beim weniger gebildeten Teil der Bevölkerung verfestigt sich der Eindruck, dass der Staat ihn für dumm hält. Dieses Gesamtversagen geht kausal auf eine unheilvolle Kombination von Bürokratie, Digitalisierung und Teilprivatisierung öffentlicher Aufgaben zurück. Verstärkend wirken mangelnde Abstimmungen zwischen den verantwortlichen Ministerialbeamten und den Programmierern. Auf der Strecke bleiben die Qualität der Ergebnisse; m.a.W: mit unverhältnismäßig hohem Aufwand werden schlechte Ergebnisse erzielt. Optimiert wurden offensichtlich wieder einmal die falschen Dinge.

Nicht beantwortet wurde die Fragen nach dem „guten Leben“, die John Maynard Keynes als einer von vielen so schön gestellt hat und Mariana Mazzucatos ebenfalls nicht neue Frage „Wie kommt der Wert in die Welt?“. Der häufigste Satz, den ich im Frühsommer 2022 gehört habe war: „Die wissen doch sowieso schon alles.“ Kurz und banal zusammengefasst, lässt sich sagen, dass die Regierenden die von ihnen Regierten nicht kennen und dass ein substanzieller Teil der Regierten zwischen Resignation und abgrundtiefer Verachtung der Regierenden schwanken.

Ein Kalif mischt sich unters Volk

Die großen Naturwissenschaftler der Neuzeit wie Issac Newton und Charles Darwin, Ökonomen (von Adam Smith über Karl Marx zu John Maynard Keynes) und Soziologen (Max Weber, Michel Foucault, David Graeber) haben wichtige Anregungen für ihre theoretischen Arbeiten aus Beobachtungen und damit aus der Anschauung gewonnen. Daran werden wir uns erinnern müssen, wollen die Geisteswissenschaften im erweiterten Sinne ihre Existenzberechtigung bewahren. Vielleicht hilft uns hier der Verweis auf Harun al Raschid, Kalif in Bagdad im 8. und frühen 9. Jahrhundert weiter: Er soll sich, weil er seinen Wesiren nicht (ver)traute, regelmäßig als Bettler verkleidet unter das Volk gemischt haben, um dessen Stimmung zu erfassen.

Wenn etwas Positives bleibt, dann, dass meine Schüler von einem „Elitegymnasium“ ihre Stadt und die Gesellschaft nach dem Zensus mit anderen Augen sehen. Dass sie verwahrloste Wohnungen, einsame alte Menschen und Kinder, die in unserem reichen Land nie eine echte Chance zum sozialen Aufstieg haben werden, gesehen haben, war für sie eine – ich hoffe das sehr - wichtige Erfahrung, die nicht vollständig in Vergessenheit geraten wird. Noch besser wäre es, wenn auch Regierung und Verwaltung zukünftig einen realistischeren Blick an den Tag legen würden.

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