Krieg und Migration - „Die Ukrainer sind in existenzieller Not“

Im Cicero-Interview erklärt der Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans, welche Herausforderungen bei der Unterbringung der Flüchtlinge aus der Ukraine zu bewältigen sind. Insbesondere aufgrund der relativen kulturellen Nähe zu Deutschland und Osteuropa hält er eine Integration von ukrainischen Flüchtlingen prinzipiell für möglich. Dafür müssten aber auch die richtigen Voraussetzungen im Asylrecht und auf dem Arbeitsmarkt geschaffen werden.

Ein Zug mit Flüchtlingen aus Kiew kommt in Polen an / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

So erreichen Sie Nathan Giwerzew:

Anzeige

Prof. Dr. Ruud Koopmans lehrt und forscht am Lehrstuhl für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität Berlin. Zuletzt erschien im April 2020 seine Monografie „Das verfallene Haus des Islam: Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt“.

Herr Koopmans, wie werden die aus der Ukraine fliehenden Menschen in Deutschland registriert?

Die Flüchtlinge mit ukrainischem Pass dürfen rechtlich gesehen drei Monate lang in Deutschland mit einem Touristenvisum bleiben. Spätestens dann sollten sie sich behördlich melden, um etwa Anspruch auf Sozialhilfe und einen Aufenthaltstitel erhalten zu können. Da ist es natürlich wichtig, dass sie sich ausweisen können.

Und wie ist die Registrierung bislang bei anderen Flüchtlingsbewegungen gehandhabt worden?

Die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik ist schon seit langem durch das strukturelle Problem gekennzeichnet, dass Flüchtlinge oft nicht ordentlich registriert werden. Vor dem Ukraine-Krieg war die Situation oft so: Viele Flüchtlinge werden zwar formell registriert. Aber weil sie keinen Pass mit sich führen, werden dann Daten eingetragen, die sie selbst angeben. Wir haben schon 2015/16 oft beobachtet, dass Menschen, die ihre Ausweisdokumente weggeschmissen haben, hier trotzdem aufgenommen wurden und bleiben konnten. Das ist die Konsequenz einer verfehlten Migrationspolitik.

Welche Parallelen kann man zwischen beiden Fluchtbewegungen ziehen?

Die Ukrainer wollen zurück in ihre Heimat, sobald der Krieg vorbei ist – nur wissen sie genauso wenig wie wir, wie lange er sich noch in die Länge ziehen wird. Als in Syrien der Bürgerkrieg begann, war vielen Syrern wohl auch noch nicht klar, dass sie ihre Heimat für einen langen Zeitraum verlassen würden. Und sie ließen sich dann in den Nachbarländern nieder – in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien. Das war von Europa relativ weit entfernt und sie waren dort erst einmal in Sicherheit. Anders als jetzt die Ukrainer, die mitten in Europa leben und keine andere Wahl haben, als direkt in Richtung Westen zu fliehen. Schließlich werden sie aus allen anderen Himmelsrichtungen von der russischen Armee beschossen. Und im Vergleich zur Situation 2015/16 ist aktuell noch folgendes auffällig: Während die meisten Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan hierzulande kaum jemanden kannten, können viele Ukrainer hier oder in Polen bei Verwandten, Freunden oder Bekannten unterkommen. Die können ihnen dann mit der Registrierung und beim Schreiben des Asylantrags helfen, auch wenn das fürs Erste noch nicht notwendig ist.

 

Weitere Beiträge zu Flüchtlingen aus der Ukraine:

 

Einen derart massiven konventionellen Krieg wie jetzt in der Ukraine hat es seit den Zeiten des Zweiten Weltkriegs in Europa nicht gegeben. Experten gehen davon aus, dass bis zu 20 Millionen Menschen aus der Ukraine fliehen könnten. Wie kann Europa so viele Menschen aufnehmen?

Damit müssen wir fertig werden. Der Krieg in der Ukraine ist schließlich auch ein Krieg um die Zukunft Europas. Sind die Aufnahmekapazitäten zu gering? Ich denke, bei solchen Flüchtlingszahlen beantwortet sich die Frage von selbst. Der Ansatz muss eher lauten: Wenn es die Kapazitäten nicht gibt, dann müssen wir alles Mögliche unternehmen, um welche zu schaffen. Die Europäische Union und Deutschland sind dazu in besonderem Maße verpflichtet – auch weil Deutschland als das Zugpferd der EU mitgeholfen hat, Russland stark zu machen, indem es sich von russischem Gas und Öl abhängig gemacht hat. Wir sind jetzt in der Pflicht, alles zu tun, was wir können. Und selbst das wäre noch nichts im Vergleich zu dem Leid, das die Bevölkerung in der Ukraine jetzt erdulden muss.

Wäre ein gesamteuropäischer Verteilungsschlüssel eine machbare Option?

Eine reine Verteilungspolitik halte ich hier nicht für sinnvoll. Es ist ja offenkundig, dass die Ukrainer eine größere kulturelle Nähe etwa zu Polen, Deutschland oder Tschechien haben als zu Portugal, Finnland oder Griechenland. Viele Ukrainer werden auch in Polen oder Osteuropa bleiben, weil es bereits viele Ukrainer dort gibt. Auch die Landessprachen sind für sie leichter zu erlernen. Bei den Flüchtlingen, die 2015/16 hierher kamen, konnte man ähnliches beobachten. Sie wollten im Allgemeinen nicht nach Osteuropa, weil es in Osteuropa keine anderen Syrer, Afghanen oder Leute aus dem gleichen Kulturkreis gab. Also sind sie lieber nach Deutschland gekommen. Oder in andere westeuropäische Länder, wo sie auf eine ethnische Gemeinschaft von Menschen gestoßen sind, die aus der gleichen Region kamen. Generell verläuft Integration immer dann leichter, wenn es bereits ethnische Gemeinschaften gibt, bei denen die Menschen Anschluss finden können.

Gesetzt den Fall, dass der Krieg sich in die Länge zieht und viele Ukrainer hier bleiben werden: Wie stark ist Ihrer Einschätzung nach die Integrationsfähigkeit der Ukrainer? 

Ruud Koopmans / Marlena Waldthausen

Man kann ohne Probleme voraussagen, dass die Integration weniger schwierig verlaufen wird als bei vielen Flüchtlingen aus arabischen Ländern. Das hat mehrere Gründe. Es gibt einmal den Faktor der kulturellen Nähe. Die kulturelle Distanz zwischen Deutschland und der Ukraine ist zwar auch nicht klitzeklein, aber doch deutlich geringer als zu Afghanistan, Somalia oder Syrien. Und das macht das Zusammenleben und Zusammenarbeiten einfacher. Ein weiteres Problem, das bei der Integration von Flüchtlingen oder Zuwanderern aus Ländern aus dem Nahen Osten oder aus Asien oder Afrika eine Rolle spielt, ist die völlig unterschiedliche Auffassung von den Geschlechterrollen. Das hat Auswirkungen auf Integration in dem Sinne, dass Frauen aus islamischen Ländern kaum auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind – was dann natürlich auch die Integration der ganzen Gruppe beeinträchtigt, weil dadurch auch das Einkommen in den Familien geringer ist. Osteuropäerinnen dagegen sind eher auf dem Arbeitsmarkt vertreten.

Welche Faktoren spielen darüber hinaus eine Rolle?

Bei den Ukrainern sind es vor allem Frauen und Kinder, die herkommen. 2015/16 hatten wir dagegen ein sehr starkes Übergewicht an jungen Männern. Das führte damals zu erheblichen Integrationsproblemen, die bei den Ukrainern viel geringer ausfallen dürften. Denn gerade junge Männer sind für Kriminalität die anfälligste Gruppe. Und das gilt nicht nur für Flüchtlinge. Was die männlichen Gruppen betrifft, die seit 2015 nach Deutschland kamen, können wir eine hohe Kriminalitätsbelastung insbesondere in der Gewaltkriminalität und in Sexualdelikten feststellen. Und das ist etwas, was mit der demographischen Zusammensetzung der ukrainischen Flüchtlingsströme – wir haben es mit Frauen, älteren Menschen und Kindern zu tun – einfach weniger zu erwarten ist.

In Belarus wurden Flüchtlinge von Lukaschenko eingeflogen, von denen sich noch immer ein Teil auf belarussischem Territorium befindet. Es soll auch Migranten aus dem Mittleren Osten geben, die sich über die Ukraine auf den Weg Richtung Westeuropa machen. Ist Ihnen etwas darüber bekannt, wie verbreitet aktuell dieses Phänomen ist?

Es geht hier um sehr kleine Zahlen. Der Krieg in der Ukraine ist aktuell so intensiv, dass sich kaum jemand im Nahen Osten oder in Afghanistan denkt: „So, jetzt machen wir uns mal auf den Weg in die Ukraine und gehen dann über die polnische Grenze nach Deutschland.“ Der Weg durch die Ukraine ist nun einmal lebensgefährlich. Insofern habe ich große Zweifel daran, dass das ein Massenphänomen ist. Und aus meiner Sicht haben sich die Polen zu Recht geweigert, das Spiel von Lukaschenko und Putin mitzuspielen, die gemeinsam versucht haben, Druck auf die EU auszuüben, indem sie Leute nach Belarus eingeflogen haben. Ein Teil dieser Gruppe wird versuchen, sich als Ukrainer auszugeben. Aber sehr viele Menschen werden das nicht sein.

Und wie schätzen Sie die Debatte über die Situation ausländischer Studenten ein?

Das Schicksal dieser Gruppe wurde hier sehr viel thematisiert, obwohl sie natürlich im Vergleich zu der Gesamtzahl der ukrainischen Flüchtlinge sehr klein ist. Die Berichte, dass sie auf der Flucht diskriminiert wurden, sind richtig. Sie fliehen genauso vor dem Krieg wie die Ukrainer. Aber leider hat die Diskussion über ihren Status dazu geführt, dass jetzt manche Leute signalisieren, diese Menschen sollten genauso nach Deutschland kommen können und hier einen Flüchtlingsstatus erhalten. Aber die meisten von ihnen können in ihre Länder zurück. So gut wie alle Botschaften der betroffenen Länder kümmern sich um deren Evakuierung. Die Ukrainer hingegen haben ihre Heimat verloren. Sie sind in existenzieller Not, sie können nicht in ihre Häuser zurück, und die Männer kämpfen und sterben im Krieg. Deswegen finde ich es falsch, beide Gruppen nach den gleichen Maßstäben zu behandeln. Die Aufnahmekapazitäten sind schließlich begrenzt.

Welche Empfehlung können Sie der Politik mit auf den Weg geben, wie wir diese Herausforderungen für längere Zeit bewältigen können?

Wenn sich in den nächsten Monaten in der Ukraine ein Guerillakrieg herausbildet oder wenn die Ukraine unter russische Besatzung gerät, dann werden auch die meisten nicht zurückgehen wollen. Wir müssen den Flüchtlingen also eine Garantie dafür geben, dass sie hier bleiben können. Wer ukrainische Dokumente vorlegen kann, soll alle Vorteile des deutschen Asylrechts genießen dürfen. Die Ukrainer sollten möglichst schnell eine Arbeitserlaubnis erhalten und Sprachkurse besuchen dürfen – was ja auch schon 2015/16 für Flüchtlinge frühzeitig angeboten wurde. Es ist sehr wichtig, dass man die Menschen nicht lange in der Schwebe lässt, sondern schon sehr früh versucht, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es wäre zu hoffen, dass die aktuelle Wirtschaftskrise sich nicht auch noch negativ auf die ukrainischen Flüchtlinge in der EU auswirken wird, beispielsweise in Form von Arbeitslosigkeit.

Das Gespräch führte Nathan Giwerzew.

Anzeige