Ukraine-Krieg - Die Flüchtlinge am Hauptbahnhof – ein Ortsbericht aus Berlin

Noch vor wenigen Tagen waren für uns die Bilder von fliehenden Menschen weit entfernt. Jetzt kommen die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auch zu uns. Unser Redaktionspraktikant Nathan Giwerzew hat am Mittwoch an der Hilfsaktion am Berliner Hauptbahnhof teilgenommen und mit einigen Flüchtlingen und Freiwilligen gesprochen.

Nach seiner Ankunft am Berliner Hauptbahnhof hält ein Junge ein Stofftier zwischen den Beinen / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Es ist 19 Uhr. Ich sitze im ICE von Hamburg nach Berlin. Von Freunden habe ich per WhatsApp erfahren, dass am Hauptbahnhof ukrainische Flüchtlinge ankommen würden und Hilfe brauchen. Besonders seien Russisch-Muttersprachler gesucht, hieß es in der Ankündigung. Statt über den Bahnhof Spandau nach Hause zu fahren, entscheide ich mich also spontan, am Hauptbahnhof auszusteigen, mich an der Hilfsaktion zu beteiligen und mit den Freiwilligen und den Flüchtlingen zu reden. Erst vor einigen Tagen hatte ich einen Bericht meines Kollegen Moritz Gathmann über die Flüchtlinge gelesen, die Lwiw verlassen. Jetzt muss ich mich erst darauf einstellen, dass Flucht und Vertreibung nun auch hier Realität sind.

Als ich gegen 20 Uhr mit dem Zug am Hauptbahnhof ankomme, ist der Helferstand in der Nähe des McDonalds im zweiten Untergeschoss bereits gut mit Helfern besetzt. Auch für die Flüchtlinge gibt es genug Platz: Sie ruhen sich nach den Strapazen ihrer Reise auf eigens für sie hingestellten Bänken, auf ihren Koffern oder auf dem Boden aus. Für sie gibt es genug Lebensmittelspenden, Hygieneartikel und Kleidung. Eine Kinderecke mit Malzubehör und Spielzeug gibt es auch.

Schon vorab wurde eine notärztliche Versorgungsstation für die Ankommenden eingerichtet und Freiwillige an den richtigen Orten aufgestellt. Sie begleiten die Flüchtlinge vom Gleis zu den Orten, von denen aus sie weiter in die Städte ihrer Wahl fahren können. Oder zum Bahnhofsvorplatz, wo Freiwillige sie empfangen, die ihnen einen Schlafplatz für ein paar Nächte bereitstellen. Wer immer sich vor Ort freiwillig meldet, erhält eine gelbe Weste, auf die man den eigenen Vornamen sowie die Sprachen aufschreiben soll, die man beherrscht. Ich notiere auf meinen Sprachzettel „RU/GER/EN/FR“ und werde zu den Russischsprachigen eingeteilt.

Diejenigen, die vor allem Deutsch und Englisch sprechen, verteilen Lebensmittel und andere Hilfsartikel an die Ankommenden. Die russisch- und ukrainischsprachigen Freiwilligen empfangen die Flüchtlinge in der Regel direkt am Gleis, helfen ihnen, ihre Koffer zu tragen oder den nächsten Anschlusszug zu finden. Denn nicht alle bleiben in Berlin: Für manche ist Berlin nur eine Zwischenstation auf einer Route, die über die Ukraine quer durch Polen in die westlichen Länder der EU führt. Wer irgendwo Verwandte oder Freunde in Westeuropa hat, versucht erst einmal, dort unterkommen. Besonders orientierungslos sind dabei vor allem die Nicht-Ukrainer, die als Gastarbeiter oder als Austauschstudenten in die Ukraine kamen und noch nicht wissen, wie und wohin sie sich jetzt überhaupt durchschlagen sollen. Darunter sind etwa Schwarze aus afrikanischen Ländern, indische Sikhs, Kurden oder Araber. Viele von ihnen sprechen Russisch, manche erkundigen sich auf Englisch und Französisch, wo sie etwas zu essen oder eine Bleibe kriegen können.

Der Anteil an Russisch-Muttersprachlern unter den Freiwilligen ist hoch

Es stimmt mich sehr zuversichtlich, dass es unter den Freiwilligen viele Russisch-Muttersprachler gibt, mit denen ich mich vor Ort an der Hilfsaktion beteilige. Niemand von ihnen glaubt ernsthaft die Propagandalüge, dass die „Entnazifizierung der Ukraine“ der Zweck des von Russland entfesselten Krieges sei: Offen gesagt halten sie den russischen Überfall auf die Ukraine für verbrecherisch. Einige von ihnen haben sich Bändchen mit den Farben der ukrainischen Flagge ans Handgelenk geheftet. Und fast alle, mit denen ich sprach, berichten davon, wie stark gerade jetzt der generationelle Riss durch die russischen Familien geht. Oft sind es ihre Eltern, die russisches Fernsehen konsumieren. Es ist die ältere Generation, die sich allen Ernstes vor einem Angriff der Nato auf Russland fürchtet – und die jedes von russischer Seite begangene Kriegsverbrechen als Falschmeldung abtut.

Von den am Bahnhof vertretenen jungen Russen spricht niemand der Ukraine als Staat das Existenzrecht ab. Und niemand würde auch nur auf die Idee kommen, die Ukraine – wie im russischen Imperialjargon seit jeher üblich – „Kleinrussland“ zu nennen. Viele von ihnen haben Freunde aus der Ukraine, die sich auf dem Maidan für die Westannäherung der Ukraine eingesetzt hatten, weil sie ihr Land zu einem freieren und demokratischeren Ort machen wollten. Und sie wissen selbst sehr gut, mit wem man es in der russischen Führung zu tun hat, wenn in einer verfrühten (und daher schnell wieder gelöschten) Siegesmeldung auf dem staatlichen Nachrichtenportal RIA Novosti von einer „Lösung der ukrainischen Frage“ die Rede war, die Putin – statt sie späteren Generationen zu überlassen – allein auf sich genommen habe.

Mit zwei Freiwilligen habe ich mich länger unterhalten. Eine von ihnen, Lena, ist Anfang dreißig und kommt aus Wladiwostok. Während wir am Gleis auf den ankommenden Zug warten, unterhalte ich mich mit ihr über Russland. Dass die russischen Medien schrittweise verstaatlicht wurden, weiß sie sehr gut. Aber dass jetzt auch die letzten einigermaßen oppositionellen Sender Echo Moskwy und Telekanal Dožd’ den Sendebetrieb einstellen mussten, schockiert sie dennoch zutiefst. Dabei kann sie schon einige Erfahrung auf Demonstrationen gegen Putin vorweisen. Schon im Winter 2011/12 hat sie an den Protesten in Russland gegen die Wahlfälschungen teilgenommen – „als Wahlfälschungen noch Empörung auslösen konnten“, wie sie lakonisch anmerkt. Vor vier Jahren entschied sie sich, zusammen mit ihrem Mann nach Deutschland auszuwandern. Der zweite Freiwillige, mit dem ich mich ausführlich ausgetauscht habe, heißt Viktor. Er hat sowohl in der Ukraine als auch in Russland Familie. Seine russischen Verwandten wohnen in der Oblast Rostow, die aktuell zum Aufmarschgebiet der russischen Streitkräfte an der Westgrenze geworden ist.

Das erste Mal sei er 2006 in den Westen gefahren, erzählt mir Viktor. Damals war er 14 Jahre alt und nahm an einem Schüleraustausch in Indiana teil. Als er nach Russland zurückkam, musste er sich erst wieder an den barschen Ton der Flughafenmitarbeiter in Moskau gewöhnen. Auch Viktor entschied sich vor einigen Jahren, Russland zu verlassen. Von da an wurde ihm klar, dass mit der russischen Gesellschaft etwas nicht stimmt. Als Informatiker sieht er für sich in Russland keine Zukunft. Er müsste schließlich gegen sein Gewissen arbeiten: Denn die einzigen lukrativen Web-Aufträge vergeben derzeit das russische Verteidigungsministerium oder kremlnahe Troll-Agenturen, die seit Jahren gezielt Desinformation über Russland, die Ukraine und den Westen verbreiten. Angesichts des Totalabsturzes des Rubels befürchtet er eine Hyperinflation wie in den 1990er-Jahren, an die er sich noch gut erinnern kann. Den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft hält er nicht nur für unausweichlich, sondern auch für absehbar. Über Telegram hat er von der Hilfsaktion am Berliner Hauptbahnhof erfahren.

Zerrüttete Einzelschicksale

Am Bahnhofsvorplatz mache ich eine kurze Pause, um Luft zu holen. Auf dem Weg zurück sehe ich, wie ein älterer Herr im Rollstuhl deutschsprachige Helfer auf Russisch beschimpft. Auch er ist aus der Ostukraine geflohen, ist aber ethnischer Russe. Er muss nach Eisenhüttenstadt, kann sich aber keine Bahnfahrkarte besorgen, weil der Schalter geschlossen ist. Und die Polizei lässt ihn ohne gültige Fahrkarte nicht in den Fahrstuhl Richtung Zug steigen. Dort würde ein Bekannter auf ihn warten und er müsse unbedingt in den Zug; sonst würde er allen Beteiligten weiter Ärger machen. Ich einige mich also darauf mit der Polizei, dass er im Rahmen der gerade erst in Kraft getretenen Sonderregelungen auch ohne Fahrkarte in den Zug steigen darf. Während wir im Fahrstuhl zum Gleis hochfahren, posaunt er eine antisemitische Parole der Weißen Armee im russischen Bürgerkrieg hinaus: „Töte Juden, rette Russland!“ Ich sage ihm daraufhin offen, dass auch ich Jude bin und ukrainisch-russische Wurzeln habe. Woraufhin er entgegnet, dass er doch kein Antisemit sei. Denn er habe nichts gegen „normale Juden“. Aber Zelenskij, Putin und Lukaschenko – das seien allesamt sehr mächtige Juden, die sich gegen die „heilige Rus“ verschworen hätten. Und als er mir dann noch erzählt, dass der Mossad Atomwaffen in seiner Heimatstadt Dnipro stationiert hätte, lache ich einfach darüber, helfe ihm in den Zug und wünsche ihm eine gute Reise. So banal diese Feststellung klingt: Auch solche Situationen gehören zum Helferalltag dazu. Es fliehen schließlich auch psychisch Kranke aus dem Kriegsgebiet.

Weil der Zug sich alle paar Minuten verspätet, gehen Lena, Viktor und ich ab und zu für eine Raucherpause nach draußen. Am Bahnhofsvorplatz treffen wir zwei Afghanen, die schon vor einigen Stunden aus der Ukraine angekommen waren. Sie sind doppelt vom Unglück verfolgt: Wie mir einer der beiden auf Russisch erklärt, waren sie in der Hoffnung auf ein besseres Leben vor sieben Jahren aus Afghanistan nach Kiew geflohen. Dort haben sie einen kleinen Kiosk mit SIM-Karten und Lebensmitteln betrieben. Jetzt aber haben sie nicht nur ihre alte Heimat Afghanistan verloren, sondern auch alles, was sie sich in ihrer ukrainischen Wahlheimat aufgebaut hatten: Sie würden nur das besitzen, was sie am Leibe tragen. Und sie hoffen darauf, dass aus dem nächsten Zug auch einige ihrer Landsleute aussteigen, damit sie sich zusammen eine Bleibe organisieren können.

Vom Gleis zur Unterkunft

Endlich kommt schließlich nach mehr als einer Stunde Verspätung der Zug am Gleis 14 an. Alle russischsprachigen Freiwilligen haben sich bereits so aufgestellt, dass sie die ankommenden Familien auf dem Weg zur Aufnahmestation im 2. Untergeschoss begleiten können. Es reisen vor allem Mütter mit Kindern an, aber es sind auch einige ältere Menschen und Jugendliche dabei. Viktor, Lena und ich helfen zwei Familien, ihr Gepäck zu tragen und die Hilfsgüter entgegenzunehmen. Eine Familie kommt aus Kiew, die andere aus Mariupol. Es ist kaum vorstellbar, wie sich die Flucht ins Ungewisse anfühlen muss, wenn die eigene Heimatstadt in Schutt und Asche gebombt wird und man dem Familienvater – möglicherweise für immer – Lebewohl sagen musste. Viele der Flüchtlinge sind deshalb traumatisiert und orientierungslos, insbesondere die Kinder. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Ankommenden sofort von Helfern in Empfang genommen und betreut werden.

Ich kümmere mich um die Familie aus Kiew, die so viel Gepäck mitgenommen hat wie nur möglich. Sogar ein Kater ist dabei, der dringend eine wärmende Decke und Futter braucht. Während ich seiner Besitzerin dabei helfe, am Freiwilligenstand Katzenfutter in Empfang zu nehmen, bringt Lena einem Mädchen einen Teddybären mit. Die Kleine schaut verunsichert auf die Menschenmenge und hat vor allem Angst. Ihr Bruder, der ein Teenager ist, findet es aber cool, jetzt in Deutschland zu sein. Von manchen deutschen Städten habe er schon gehört. Und er fragt uns neugierig, wo es viele russischsprachige Menschen, hippe Viertel und günstige Mieten in Deutschland geben würde.

Seine Mutter hat sich mit einem hier lebenden Bekannten aus der Ukraine verabredet, damit sie und ihre Kinder vorerst bei ihm unterkommen könnten. Als dann endlich der Anruf kommt, dass er sie am Bahnhof gleich abholt, machen wir uns auf den Weg zum Auto. Er möchte möglichst schnell Deutsch lernen, sagt er mir und fragt mich auf Russisch nach Tipps. „Schau zu, dass du dich mit deutschsprachigen Teenagern umgibst, sieh auf Deutsch fern und höre Radio“, empfehle ich ihm – denn so hätten es zumindest meine Eltern gut hinbekommen, als sie ohne Deutschkenntnisse vor dreißig Jahren nach Deutschland eingewandert waren. Mit meinem Ratschlag im Hinterkopf steigt in das Auto ein, während ich müde mit dem Nachtbus nach Hause fahre.

Auf der Suche nach unbürokratischen Lösungen

Meiner Einschätzung nach ist die bisherige Ratlosigkeit der Politik dafür mitverantwortlich, dass jetzt vor allem Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe einspringen müssen. Bis zuletzt verschloss man die Augen vor der realen Gefahr eines russischen Angriffs auf die Ukraine, obwohl Putin schon im Juli 2021 seine imperiale Agenda klar dargelegt und ab November immer mehr Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze konzentriert hatte. Zurzeit sind mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine auf der Flucht. Es könnten noch bis zu vier Millionen werden. Ungefähr eine halbe Million ist bereits in Polen aufgenommen worden, andere befinden sich in Ungarn, Deutschland oder in den baltischen Staaten.

Um Abhilfe zu schaffen, versucht Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zurzeit, im Schnellverfahren eine unbürokratische und gesamteuropäische Lösung für die ankommenden Flüchtlinge zu finden. Sie sollen zunächst unter Umgehung eines Asylantrags für ein Jahr einen Aufenthaltstitel erhalten. Auf der Webseite des Bundesministeriums des Innern wird das Projekt folgendermaßen umschrieben: „Auf Grundlage der sog. Richtlinie über den vorübergehenden Schutz … soll in allen EU-Mitgliedstaaten das gleiche, unbürokratische Verfahren zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen gelten. Damit müssen Vertriebene aus der Ukraine kein Asylverfahren durchlaufen. Ein Asylantrag wäre nicht mehr erforderlich. … Ukrainischen Staatsangehörigen wird deshalb empfohlen, derzeit von der Stellung eines Asylantrages abzusehen. Das Recht dazu, einen Asylantrag zu stellen, besteht unabhängig davon grundsätzlich fort.“

Für alle Leser von Cicero Online, die den Menschen in Not helfen wollen, hier noch ein Hinweis: Aktuell wird davon dringend abgeraten, auf eigene Faust an die deutsch-polnische Grenze zu fahren. Es ist besser, vor Ort beim Empfang der Flüchtlinge zu helfen – etwa mit Lebensmitteln oder Hygieneartikeln. Da die Kleiderspenden zurzeit überfüllt sind, sind auch Geldspenden gern gesehen. Von ihnen können Hilfsgüter nach Plan eingekauft und an die Menschen verteilt werden. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg aktualisiert permanent die aktuell relevanten Hinweise für die Helfer.

 

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