Thüringen vs. Weimar - Geschichte wiederholt sich als Farce

Thomas Kemmerichs Wahl zum Ministerpräsidenten erinnert an ein politisches Ereignis in Thüringen aus dem Jahr 1924. Liegt ein Hauch von Weimar über dem Land? Tatsächlich scheint sich das, was damals zur Tragödie wurde, dieses Mal zur Farce zu entwickeln. Denn die Umstände sind zum Glück andere.

Björn Höcke und Thomas Kemmerich im Thüringer Landtag / dpa
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Andreas Braune ist Politikwissenschaftler an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik. Er ist mit verantwortlich für das 2019 eröffnete „Haus der Weimarer Republik. Forum der Demokratie“ in Weimar.

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Michael Dreyer ist Politikwissenschaftler an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er die Forschungsstelle Weimarer Republik leitet. Er ist mit verantwortlich für das 2019 eröffnete „Haus der Weimarer Republik. Forum der Demokratie“ in Weimar.

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Der 6. Februar ist ein historischer Tag für Deutschland, Thüringen und Weimar: An diesem Tag trat 1919 die Deutsche Nationalversammlung in der kleinen Kulturstadt zusammen, die die erste deutsche demokratische Verfassung beraten und verabschieden sollte. Vor einem Jahr, am 6. Februar 2019, wurde das hundertjährige Jubiläum mit einem Staatsakt begangen, an dem die Spitzen aller Verfassungsorgane teilnahmen und Bundespräsident Steinmeier eine große Rede hielt, die auch die Zerstörung der Demokratie von Weimar durch die Feinde von Republik und Demokratie thematisierte – und diese Feinde standen rechts.

Der 5. Februar 2020 hat nun die Chance, ebenfalls in die Geschichte einzugehen, aber nicht als Markstein der deutschen Demokratiegeschichte. Ganz im Gegenteil. Dass sich ein Politiker einer demokratischen Partei dafür hergibt, mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden, ist der inzwischen vielfach beschworene „Dammbruch", mit dem die Front der Demokraten gegenüber der AfD erstmals zerstört wurde. So wie der englische König Johne Ohneland ist der neue und bereits gescheiterte Ministerpräsident Kemmerich ein König Thomas Ohneparlament. Und auch wenn er seinen Rücktritt bereits angekündigt hat: Der symbolische Schaden ist angerichtet, die Ereignisse im Thüringer Landtag vom 5. Februar sind nicht wieder zurückzunehmen. Sie werden in die Geschichte der zweiten deutschen Demokratie eingehen.

Eine unrühmliche Erinnerung

Manchmal wiederholen sich geschichtliche Ereignisse. Einige Kommentatoren haben die Verbindung der gegenwärtigen Turbulenzen in Thüringen mit dem Jahr 1930 hergestellt. Damals wurde, zum ersten Mal in einem deutschen Land, ein Minister der NSDAP in die Landesregierung aufgenommen. Eine unrühmliche Erinnerung, wie die Verbindung Thüringens zum Nationalsozialismus seit Mitte der 1920er Jahre ohnehin besonders eng und innig war.

Hier durfte Hitler erstmals nach seiner Festungshaft wieder reden, hier fand der erste Parteitag der nach dem Verbot wiederbegründeten NSDAP statt, hier wurde die erste Regierungsbeteiligung ermöglicht, hier kam es zur ersten Landesregierung unter NS-Führung. Weimar war eine der Lieblingsstädte Hitlers, und von den architektonischen Folgen dieser Liebe kann man sich immer noch mit Grauen überzeugen, wenn man auf dem Weg vom Bahnhof in die Innenstadt am „Gauforum“ vorbeikommt – das heute immerhin am Jorge-Semprún-Platz liegt, nach dem spanischen Autor, der in Buchenwald inhaftiert war. 

Kemmerich ist nicht Hitler

Ist die Wahl Kemmerichs also mit der Koalition von 1930 vergleichbar? Natürlich nicht. Kemmerich ist kein Hitler, und selbst Höcke ist kein Hitler – wohl aber ein gerichtsnotorischer Faschist. Aber es gibt ein besser passendes, und kaum weniger erschreckendes Beispiel: die Koalition, die aus den dritten Thüringer Landtagswahlen 1924 hervorging. Vorgänger dieser Landtagswahl war eine Linkskoalition gewesen, die 1923 mit einer „Reichsexekution“ durch den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert beendet wurde.

Bei den Wahlen 1924 gab es dann einen großen Wahlerfolg des „Thüringer Ordnungsbundes“, eines Wahlbündnisses verschiedener bürgerlicher Gruppen mit der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Teil des Bündnisses war die Deutsche Demokratische Partei (DDP) – der linksliberale Vorläufer der FDP aus der Weimarer Republik.

Der Dammbruch von 1924

Schon die DVP war eine Partei von zweifelhafter demokratischer Güte, auch wenn ihr Vorsitzender Gustav Stresemann später als Außenminister der Weimarer Republik Berühmtheit (und einen Friedensnobelpreis) erreichen sollte. Aber die DNVP war definitiv jenseits aller demokratischen Gütesiegel. Sie trat offen antirepublikanisch, antidemokratisch und antisemitisch auf. Die demokratischen bürgerlichen politischen Kräfte in Thüringen waren offenbar so verzweifelt darauf aus, die Linksregierung abzulösen, dass sie, auf dem rechten Auge blind, die geschworenen Feinde der Demokratie hoffähig machten. Mit der Aufnahme der DNVP in die Landesregierung war ein Dammbruch erreicht.

Weil der Ordnungsbund selber aber nicht einmal eine Mehrheit gegen die verhasste Linksregierung hatte, ließ er sich von der „Vereinigten Völkischen Liste“ unter dem Antisemiten Artur Dinter tolerieren – einer Ersatzgründung für die nach dem Hitler-Putsch verbotene NSDAP. Und alles das geschah mit Zustimmung der liberalen DDP. Damit war auch der Weg dafür bereitet, dass sechs Jahre später ein weiterer Dammbruch erfolgen konnte, und zwar wieder in Thüringen: Aus der Tolerierung wurde eine Koalition der bürgerlichen Parteien mit der nun wieder legalisierten NSDAP. Der Weg dahin wurde 1924 bereitet, als die bürgerlichen Demokraten lieber mit den rechtsradikalen Feinden der Demokratie paktierten als mit den Sozialdemokraten. Und jenseits der Symbolik stand die neue Regierung auch für einen Rechtsruck in ihrer praktischen Politik. Prominentestes Opfer hiervon wurde das Bauhaus, das bereits 1925, ein Jahr nach der Regierungsbildung, aus Weimar vertrieben wurde und nach Dessau ging.

Die politischen Eliten sind heute andere

Geschichte kann sich durchaus wiederholen, aber natürlich niemals ganz exakt so wie beim ersten Mal. Die Umstände 2020 sind anders als 1924, die zweite deutsche Demokratie ist gefestigter, als es die erste jemals war. Und vor allem die politischen Eliten sind heute andere. Das inzwischen einhellige Entsetzen in den Berliner Parteizentralen hat es vor 96 Jahren nicht gegeben. Kein Reichskanzler – 1924 der Zentrumspolitiker Wilhelm Marx – nannte das Zusammengehen seiner bürgerlichen Koalitionspartner mit der DNVP und den Völkischen in Thüringen „unverzeihlich“, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel inzwischen getan hat.

Die Reaktionen auf den Dammbruch von Erfurt zeigen vor allem die Unterschiede der politischen Kultur, die sich die zweite deutsche Demokratie inzwischen erarbeitet hat. Und vielleicht kann auch eine Beobachtung helfen, die Karl Marx bereits 1854 zu Papier brachte. Bei der Betrachtung der beiden Napoleons bemerkte er, dass Hegels Satz, dass die Geschichte sich wiederhole, dadurch zu ergänzen sei, dass sie das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce erscheine. Ohne den Thüringer Dammbruch zu verharmlosen scheint es so, als könnte sich dieses Diktum erneut bewahrheiten.

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