Verhinderter Terroranschlag von Islamisten in Nordrhein-Westfalen - „Der Datenschutz hat sich zu einem Sicherheitsrisiko entwickelt“

In Nordrhein-Westfalen wurde vor wenigen Tagen ein islamistischer Terroranschlag verhindert – weil deutsche Behörden von ausländischen Nachrichtendiensten gewarnt worden waren. Im Interview erklärt der frühere BND-Chef Gerhard Schindler, warum sich die Deutschen mit dem Beschaffen eigener Informationen so schwer tun.

Anti-Terror-Einsatz am Montag in Castrop-Rauxel / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Gerhard Schindler war von 2012 bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 2016 Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND). Dort war er mit der weltweiten Informationsbeschaffung, Aufklärung in Krisengebieten, Auswertung und Bewertung von gewonnenen Erkenntnissen betraut.

Herr Schindler, in Castrop-Rauxel sind soeben zwei iranische Brüder wegen der mutmaßlichen Planung eines Giftanschlags festgenommen worden. Die entsprechenden Informationen stammten offenbar vom amerikanischen Geheimdienst. Warum waren deutsche Dienste nicht früher informiert?

Nach den bisherigen Informationen wurden die deutschen Sicherheitsbehörden frühzeitig über den Fall informiert. Und dass dieser erste Hinweis von einem ausländischen Partnerdienst kommt und nicht auf eigenen Erkenntnissen beruht, das erleben wir ja öfter. Das ist also keine Besonderheit. 

Woran liegt das denn? 

Die deutschen Sicherheitsbehörden und insbesondere die deutschen Nachrichtendienste haben im Vergleich zu unseren ausländischen Partnern zwei nennenswerte strukturelle Nachteile. Zum einen bei der sogenannten strategischen Fernmeldeaufklärung, wie das im nachrichtendienstlichen Jargon heißt. Hier ist die Rechtslage kompliziert, deswegen zum Verständnis kurz vereinfacht: Bei der Vorfeldaufklärung im Rahmen der sogenannten strategischen Fernmeldeaufklärung ist dem Bundesnachrichtendienst das Erfassen deutscher Telefonnummern oder deutscher Email-Adressen nicht erlaubt. Immer dann, wenn eine deutsche Telefonnummer oder eine deutsche Email-Adresse in diese Erfassung hineinkommt, dann sind die Systeme so eingestellt, dass diese Nummern oder Adressen automatisch gelöscht werden.

Wenn also beispielsweise von Syrien oder von Afghanistan aus mit einer deutschen Nummer telefoniert wird oder umgekehrt, dann wird dieses Telefonat gelöscht, und der Bundesnachrichtendienst kann so keine eigenen Erkenntnisse mit Deutschlandbezug erlangen. Insofern haben ausländische Dienste, die diesen Restriktionen nicht unterliegen, einen entscheidenden Vorteil. Zum Glück warnen sie uns dann aber immer noch rechtzeitig durch die Weitergabe ihrer Erkenntnisse.

Und der zweite Nachteil?

Der liegt in der Beobachtung der sozialen Medien und des Internets. Die US-amerikanischen Dienste dürfen hier nicht nur nach Auffälligkeiten überwachen, sondern sie dürfen auch eine sogenannte Mustererkennung in diesem Bereich durchführen. Dabei wäre es auch für deutsche Nachrichtendienste sehr hilfreich, feststellen zu können, wenn sich jemand beispielsweise im Internet eine Anleitung zum Bau von Sprengsätzen herunterlädt und wenn er dann die entsprechenden Komponenten auch noch online kauft – etwa Wasserstoffperoxid, Rizin oder Cyanid.
 

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Da wäre es doch sinnvoll, dass solche Zielpersonen in ein Raster fallen, damit man sie weiter überprüfen und auch mit eigenen Erkenntnissen abgleichen kann. Das können die amerikanischen Dienste; unseren Sicherheitsbehörden ist das mangels rechtlicher Befugnis verwehrt. Und das sind zusammengenommen zwei wichtige Nachteile, die auch erklären, warum ausländische Partnerdienste des Öfteren früher Bescheid wissen als die deutschen Nachrichtendienste.

Es geht ja immer darum, einen Ausgleich zu finden zwischen Datenschutz und Privatsphäre auf der einen Seite und Aufklärungsinteresse beziehungsweise Vorbeugung gegen mögliche Straftaten auf der anderen Seite. Wie sehen Sie die Situation generell in Deutschland?

Aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit in diesem Bereich bin der festen Überzeugung, dass wir einerseits einen soliden Datenschutz brauchen, wir aber andererseits unseren Datenschutz wie eine Monstranz in unserem Rechtssystem vor uns hertragen. Ich glaube, wir brauchen eine Rückbesinnung darauf, was Datenschutz eigentlich soll. Datenschutz soll ja nicht die Daten schützen, sondern die Menschen – und sollte deshalb also auch für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger da sein. Jede einzelne Datenschutzmaßnahme mag in ihrer Einzelbetrachtung richtig sein. Aber wenn wir einmal die gesamte Palette des Datenschutzes in Deutschland betrachten, dann muss man sagen: Er hat sich zu einem Sicherheitsrisiko in Deutschland entwickelt. 

Welche konkreten Erfahrungen hinsichtlich Aufklärung und Prävention in Sachen Terrorismus und anderer Straftaten haben Sie selbst in Ihrer Zeit als BND-Chef machen müssen?

Während meiner Amtszeit ist gerade im Bereich des Terrorismus eine neue Phänomenologie entstanden, nämlich weg von diesen großen Organisationen wie Al Qaida und Islamischer Staat, die es immer noch gibt und die immer noch gefährlich sind, hin zu den sogenannten autonomen Dschihadisten – also Einzeltäter, Kleingruppen oder Kleinstgruppen. Diese Entwicklung ist deshalb so gefährlich, weil es für die Sicherheitsbehörden so schwer ist, sie bereits in der Entstehungsphase zu erkennen, dann weiter zu beobachten und notfalls rechtzeitig Alarm zu schlagen. Denn während große Gruppierungen miteinander kommunizieren, fällt das bei Kleingruppen und Einzeltätern weitgehend weg. Deshalb tun sich unsere Sicherheitsbehörden so schwer damit, auf diesem Gebiet Erfolge zu verzeichnen. Es gibt im Bereich Terrorismus ständig neue Entwicklungen, aber die Werkzeuge, um sie zu bekämpfen, sind die alten geblieben. Diese Lücke müsste dringend geschlossen werden. 

Gibt es eine gewisse Frustration im BND wegen der Einschränkungen bei der Informationsbeschaffung?

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BND sind hoch motiviert, weil sie eine wichtige und spannende Aufgabe ausüben. Aber generell lässt sich sagen: Wer in deutschen Sicherheitsbehörden arbeitet, benötigt eine hohe Frustrationstoleranz – und die ist bei den deutschen Sicherheitsbehörden auf jeden Fall vorhanden. 

Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht der Arbeit des BND nochmals engere Grenzen gesetzt. Die Früherkennung von aus dem Ausland drohenden Gefahren gehöre zwar zu den Aufgaben des BND, allerdings müsse es sich um Gefahren handeln, „die sich ihrer Art und ihrem Gewicht nach auf die Stellung der Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft auswirken können und gerade in diesem Sinne von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung sind“, so einer der Leitsätze aus Karlsruhe. Was heißt das konkret für die Arbeit des BND?

Dieses Urteil vom Mai 2020 hatte eine ganz einschneidende Wirkung, weil es ja im Grunde genommen Ausländer mit deutschen Staatsbürgern gleichgestellt hat, was die Geltung der Grundrechte anbelangt. Das bedeutet, dass etwa ein Taliban, der damals ein deutsches Lager mit Bundeswehrsoldaten angegriffen hat, unter den Schutz des Grundgesetzes gefallen wäre. Und genauso fällt jetzt beispielsweise ein Terrorist in Syrien oder im Irak unter den Schutz des deutschen Grundgesetzes. Für die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes bedeutet dies: mehr Bürokratie bei der Überwachung von Telekommunikation. Und mehr Bürokratie geht regelmäßig einher mit weniger Erkenntnissen, weil eben die Beschaffungslage rechtlich schwieriger geworden ist. Und weniger Erkenntnisse wiederum heißt weniger Sicherheit. 

Ex-BND-Präsident Schindler / dpa

Wie sehr ist denn die Sicherheit vor terroristischer Bedrohung in Deutschland deswegen von ausländischen Diensten abhängig? 

Man kann mit Fug und Recht sagen: Wir sind in der internationalen Zusammenarbeit in einem hohen Maße auch von ausländischen Diensten abhängig. 

Welchen Ruf hat der BND vor diesem Hintergrund bei ausländischen Partnerdiensten? 

Der BND hat einen guten Ruf bei ausländischen Diensten, weil er insgesamt eine solide und verlässliche Arbeit leistet. Und das schätzen andere Dienste. 

In Deutschland hat man allerdings oft den Eindruck, wir selbst wollen möglichst sauber bleiben und verlagern problematische Bereiche am liebsten ins Ausland. Zum Beispiel, indem wir Fracking verbieten und die Atomkraftwerke abschalten, aber Fracking-Gas oder Atomstrom aus dem Ausland beziehen. Gilt das in ähnlicher Weise für die Informationsbeschaffung?

Wir nehmen jedenfalls diese eingangs erwähnten ersten Hinweise sehr gern von unseren ausländischen Partnern entgegen, weil sie uns helfen, den Schutz unserer Bevölkerung, den Schutz unseres Landes zu gewährleisten. Andererseits distanzieren wir uns vollmundig von den Methoden, mit denen diese Informationen gewonnen worden sind. Das ist, das muss man so offen sagen, eine scheinheilige Politik. Und wie lange unsere Partner diese Doppelmoral noch akzeptieren, das bleibt abzuwarten. 

Kommt es auch schon mal vor, dass ein deutscher Nachrichtendienst selbst eine drohende Gefahr erkennt, die entsprechende Informationsbeschaffung aber an einen ausländischen Dienst delegiert, weil er selbst nicht tätig werden darf?

Richtig ist, dass in einer in einer immer komplexer werdenden Welt die Dienste auch enger zusammenarbeiten müssen, weil man die Puzzlestücke zusammenträgt, um dann gemeinsam ein Gesamtbild zu entwickeln. Aber so ein Outsourcing auf andere Dienste gibt es nicht. 

Ende Dezember wurde ein BND-Mitarbeiter enttarnt, der offenbar für den russischen Geheimdienst gearbeitet hat. Waren bei der Enttarnung auch ausländische befreundete Dienste beteiligt?

Ich bitte um Verständnis, dass ich mich zu diesem Fall nicht äußern möchte, weil es da jetzt einfach die Ermittlungen abzuwarten gilt – und nicht, durch voreilige Stellungnahmen diese sensiblen Ermittlungen zu gefährden. 

Ganz generell: Ist der russische Geheimdienst eine ernstzunehmende Gefahr für deutsche Sicherheitsinteressen – insbesondere vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs?

Die russischen Nachrichtendienste waren schon immer eine Gefahr für unsere Sicherheit. Und das manifestiert sich jetzt im Rahmen der Ukrainekrise ganz besonders deutlich.

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

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