Tag der Deutschen Einheit - Der 3. Oktober jenseits von Weihrauch und Problemlust

Der 3. Oktober ist zu Recht ein Feiertag geworden. Aber feiern sollten wir vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der sich Ost- und Westdeutsche inzwischen begegnen. Ein persönlicher Blick auf den Tag der Deutschen Einheit von Christoph Schwennicke.

30 Jahre deutsche Einheit am Brandenburger Tor in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Mit Feiertagen ist es wie mit Familienfesten. Ein bisschen freut man sich drauf und ein wenig graut einem auch davor. Mit viel Alkohol ist es dann meistens doch ganz nett. Oder aus demselben Grund eben auch nicht.

Zum 30. Mal begehen wir heute das ganz große Familienfest der Deutschen Einheit. Wie jedes Jahr werden an diesem Tag und vor allem aber an den Tagen zuvor Weihrauchkübel geschwenkt oder Probleme gewälzt.

Problemwälzer und Weihrauchschwenker

Die Problemwälzer reden von der Mauer im Kopf, die immer noch da sei, sie reden von den ungleichen Löhnen und Lebensbedingungen, der ungleichen Produktivität in Ost und West. Von Nazis und Wutbürgern, die vor allem im Osten wüten. Von den Fehlern der Treuhand, die angeblich prosperierende Betriebe vorsätzlich um deren Zukunft gebracht habe. Tibetanische Gebetsmühlen sind Zufallsgeneratoren im Vergleich zu den Wortschwaden der Problemwälzer.

Die Weihrauchschwenker wiederum erinnern daran, dass die ganze Welt bis heute mit Bewunderung und teilweise mit Neid auf diese einzigartige friedliche Revolution blickt. Sie zeigen die Bilder der Menschen mit den Sektflaschen und den Plastikbechern in der Hand und den schlechten Dauerwellen auf dem Kopf, die sich an den Grenzübergängen gesamtdeutsch in den Armen liegen. 

Enorme Anspannung vor der Grenze

Was jedes Jahr dabei ein bisschen kurz kommt, ist das ganz normale Leben der wiedervereinigten Menschen in einem wiedervereinigten Land, das längst ganz selbstverständlich von Rügen bis Ruhpolding reicht. 

Ich bin als Kind oft in die DDR gefahren. Meine Eltern stammen beide aus Eisleben. Sie sind kurz vor dem Mauerbau nach Westberlin gegangen, unabhängig voneinander, haben sich dann zufällig wiedergefunden in den Wirren der damaligen Zeit. Wir sind oft rübergefahren zu den Verwandten ins Mansfelder Land. Sie sprachen lange noch von der „Ostzone“ und der „DE-DE-EER“, was sich abschätzig anhörte, aber ich glaube, sie haben so den Trennungsschmerz von sich weggehalten. 

Kurz vor der Grenze kam immer eine enorme Anspannung im Auto auf. Das spürt man als Kind, wenn Eltern nervös werden. Man spürt ihre Angst und bekommt noch größere. Leider erfuhr ich immer wieder schmerzhaft, warum sie diese Angst hatten. Mehrmals verschwanden Asterix-Hefte und Lustige Taschenbücher in einer grauen Box mit Schlitz, abgenommen von Männern mit grauen Gesichtsausdrücken und grauen Uniformen. Einmal verschwand sogar mein Vater im ebenfalls grauen Grenzhäuschen. Die Vopos hatten ihn mit reingenommen. Im Auto blieben zwei Kinder und eine Ehefrau zurück – und große Stille. 

Die Menschen gingen anders miteinander um

Dann ging es – „btong-btong-btong“ – über viele Betonplatten der Transitautobahn zu den Verwandten in einem kleinen Dorf bei Halle. Zwischendurch stank es bei Leuna bestialisch. 

Die Tante, die wir besuchten, hatte einen Hof mit Hühnern und einem Heuboden, auf dem man im Duft des Strohs herrlich toben konnte. In der Küche brütete sie Küken auf dem Herd aus. Alles war einfach, aber es war eine herzliche Wärme zu spüren, die sich so heimelig anfühlte wie die flauschigen Küken in ihrem Korb auf dem Ofen. Völlig anders als die Eiseskälte an der Grenze. Es war eine andere Welt, eine kleine Welt und eine schöne Welt. Und es waren unbeschwerte glückliche Tage. Die Menschen gingen dort anders miteinander um. Zugewandter. Menschlicher. 

Für unsere Tochter liegt Jena nicht im Osten

In den Wendejahren habe ich dann als junger Reporter das ehemalige „Rote Kloster“ in Leipzig besucht, die Kaderschmiede des DDR-Journalismus - für einen Report in einem Fachmagazin. Ich übernachtete auf dem Campus und habe zwei Nächte durchdiskutiert mit einem jungen Studenten, auf dessen Bude ich untergebracht war. Es waren intensive Diskussionen, die mich an der einen oder anderen Stelle auch nachdenklich gemacht haben, was das eigene „System“ anlangt. Auffällig war: Es gab nach den Jahrzehnten, die wir beide in zwei Deutschlands aufgewachsen waren, vom ersten Moment an eine gemeinsame Basis, eine Gesprächsbasis und eine kulturelle Basis. Ein Verständnis füreinander.  

Heute studiert unsere Tochter in Jena. Es hätte auch Bonn werden können. Die Frage von Ost oder West spielte bei der Wahl des Studienortes überhaupt keine Rolle. Nur der Ruf der Fakultät. Sie fühlt sich wohl in Jena. Die Stadt liegt für sie nicht im Osten. Sondern in Thüringen. Wunderschön schmiegt sie sich an die Berge und die Ufer der Saale. Ein bisschen schwül ist es im Sommer. Aber das wäre in Bonn auch so. 

Die Selbstverständlichkeit, ein Grund zur Freude

Mit zwei Bundestagsabgeordneten gehe ich gelegentlich in ihrer Heimat angeln. Der eine kommt aus einer der schönsten Gegenden Bayerns, der andere aus Thüringen. Ost-West-Fragen spielen beim gemeinsamen Fischen nie eine Rolle. Sondern nur, ob wir Fische fangen – oder meistens eben auch nicht. Wir verstehen uns nicht als Ossis und Wessis, sondern als Menschen, die eine Leidenschaft teilen: das Angeln. Das verbindet.   

Der 3. Oktober ist zu Recht ein Feiertag geworden. Da können und sollen dann Reden geschwungen, Weihrauch geschwenkt und die Tage vorher Probleme gewälzt werden. Freuen aber sollten wir uns besonders über die Selbstverständlichkeit, mit der Deutschland längst wieder eins ist. Nicht nur am 3. Oktober. Sondern an jedem normalen Tag.

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