Stuttgarter Krawallnacht - Die Betrachtung der Wirklichkeit

Nach den Krawallen von Stuttgart stellen sich viele ahnungsloser und begriffsstutziger, als sie sind und folgen dabei wieder einem Abwehrreflex, den man schon nach der berüchtigten Kölner Silvesternacht beobachten konnte. Doch wie viel hat der Gewaltausbruch tatsächlich mit Migration zu tun?

Stuttgart vor einer Woche: Gewaltexzesse gegen Geschäfte, Einsatzfahrzeuge und Polizeibeamte / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Es ist immer gut, nicht den ersten Reflexen nachzugeben. Den ersten Triggern. So wie bei den Bildern, den Videos der Gewaltnacht von Stuttgart. Denn man kann Leuten, die einer Partyszene angehören, ebenso unrecht tun wie Leuten, die man meint, mehrheitlich auf den Bildern zu erkennen. 

Die Stuttgarter Zeitung ist eine gute Zeitung. Sie recherchiert und ordnet ein. Genau das hat sie in gebotener Eile und gleichzeitiger Sorgfalt jetzt getan. „Jahrzehntelang galt Stuttgart bei der Integration als vorbildlich in der Republik“, beginnt der Artikel des StZ-Reporters, der getan hat, was gute Reporter tun: mit Leuten sprechen. Etwa mit dem Integrationsbeauftragten der Stadt: „Noch vor zwei Wochen hätte ich gesagt: In Stuttgart werden keine Autos abgefackelt, hier werden Autos gebaut“, sagt Gari Pavkovic. Der Psychologe, der selbst vor 50 Jahren aus Mostar im heutigen Bosnien und Herzegowina nach Deutschland gekommen ist und hier Karriere gemacht hat, schreibt der Reporter, sei „hörbar getroffen. Und ein bisschen ratlos“.

Wie habe es dazu kommen können, dass Samstagnacht nach einer Drogenkontrolle eines 17-Jährigen am Eckensee bis zu 500 vorwiegend junge Leute die Polizei brutal angegriffen, sich mit den Beamten eine mehrere Stunden dauernde Straßenschlacht geliefert, dabei Schaufensterscheiben eingeschlagen und Läden geplündert hätten? 15 von 25 Festgenommenen kämen aus Stuttgart, seien 14 bis 33 Jahre alt. Zwölf der 25 hätten einen deutschen Pass, und dann, das ist neu: „die meisten einen Migrationshintergrund“. Die anderen 13, so der Report weiter, hätten laut Polizei Wurzeln in Kroatien, Portugal, Polen, Lettland, Bosnien, Afghanistan, Irak und Somalia; neun seien Geflüchtete. 

„Da gehe ich schon lange nicht mehr rein“

Pavkovic reichen die Erklärungen nach den jüngsten Ereignissen nicht. „Bei drei Prozent Jugendarbeitslosigkeit kann man sagen: Hier kann jeder seinen Platz finden“, sagt er der StZ. Es gebe Perspektiven, „wir sind hier nicht in Chemnitz oder in New York“. Diese „Risikogruppe“, deren Größe er nicht kenne, „haben wir bisher nicht richtig erreicht“. Selbst wenn sie eher klein sein dürfte, hat das Thema Gewicht. Immerhin haben 57 Prozent der unter 18-jährigen Stuttgarter einen Migrationshintergrund. 

Wer den Stuttgarter Hauptbahnhof ein wenig kennt, der weiß: Er hat sich sehr verändert in den vergangenen Jahren. Er und seine unmittelbare Umgebung. Einmal war ich zu Besuch im Innenministerium. Das liegt hinter dem Park, an den der Bahnhof angrenzt. Die Mitarbeiterin des Staatssekretärs, den ich besucht hatte, sagte mit Blick auf den Park: „Da gehe ich schon lange nicht mehr rein.“

Geladene Stimmung

Der Bahnhof, die Katakomben der Unterführung in die Königsstraße, das ganze Bild ist bestimmt von jungen Männern, Handy, Hoodie, Jeans oder Jogginghose, Undercut. Über den dicken Daumen etwa zwei Drittel Migranten und ein Drittel Einheimische. Die Stimmung ist permanent latent geladen. Druck, der aus der Hose kommt.  

Stuttgart ist da kein Einzelfall. Viele große Bahnhöfe in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren so verändert. Und wer die Videos der Stuttgarter Scherbennacht gesehen hat, braucht auch keine Brille, um zu sehen, dass es genau diese Mischung aus jungen Männern war, Einheimische - mit und ohne Migrationshintergrund - und Migranten, die den Mob bildeten, der in Gewaltexzesse gegen Geschäfte, Einsatzfahrzeuge und Polizeibeamte ausbrach. Sie deckt sich auch in etwa mit einer Kennzahl der Randalenacht: Von den 24 zunächst Festgenommenen hatten 12 einen deutschen Pass, davon wiederum drei einen Migrationshintergrund. 

Die Hemmschwelle herabgesetzt

Nun kann man lange darüber sinnieren, ob Saskia Eskens Rassismusvorwuf gegen die Polizei und ein menschenverachtendes Machwerk einer taz-Autorin eine wegbereitende Rolle für die Stuttgarter Gewaltnacht gespielt haben. Die sozialen Netzwerke wirken mutmaßlich auch mindestens in dem Maße als Booster wie der Alkohol oder andere Drogen. 

Aber es hilft auch nichts, drumherum zu reden. Junge, testosterongeladene Migranten aus anderen Gesellschaften mit einer anderen Hemmschwelle in Sachen Gewalt tauchen auf diesen Bahnhofsvorplätzen auf und setzen dann womöglich die Hemmschwelle auch bei für Gewalt anfällige Einheimische herab. 

War Köln keine hinreichende Lehre?

Zur Problemhebung gehört die nüchterne Analyse. Es macht keinen Sinn, Offensichtlichkeiten auszublenden. Im Gegenteil, es macht die Sache nur schlimmer. Bei den massiven und systematischen sexuellen Übergriffen der Silvesternacht auf der Kölner Domplatte vor fünf Jahren (übrigens auch direkt am Hauptbahnhof) wurde viel zu lange versucht, das Offensichtliche zu kaschieren. Die Fälle sind anders gelagert, die Täter hatten einen anderen Migrationshintergrund. Doch der erste Reflex vieler Medien und Politiker war ähnlich: Die Hintergründe wurden verharmlost und beschwichtigt. 

Auch jetzt stellen sich viele aus möglicherweise gut gemeinten Motiven heraus ahnungsloser und begriffsstutziger, als sie sind. Das geht aber so nicht. Es geht jedenfalls nicht gut. Ist denn Köln keine hinreichende Lehre gewesen, dass sich die Bevölkerung nicht für dumm verkaufen lässt? Und diese Form der Negierung des Offensichtlichen nicht Fremdenfeindlichkeit verhindert, sondern nurmehr verstärkt?

Die Betrachtung der Wirklichkeit

Die offenkundige Wahrheit ist: Deutschland hat ein Problem mit Gewalt, die mit der Migration der vergangenen Jahre einhergegangen ist. Es ist bei zu vielen dieser jungen kraftstrotzenden Männer nicht gelungen, ihre überschießende Energie ins Positive und Produktive zu lenken. Statt dessen findet inverse Integration statt: Junge Migranten stiften verwöhnte Muttersöhnchen von der Villengegend „Halbhöhe“ (mit Blick auf den Bahnhof und Park), die sie beim Kiffen oder Dealen treffen, an, das mitzumachen, was sie gut finden als Mannbarkeitsritual.  

Und wenn Polizeibeamte bei dieser Personengruppe mitunter schon vorsorglich genauer hinschauen, dann ist das auch nicht automatisch Rassismus. Sondern möglicherweise empiriegestützter Realismus. Jetzt sagen namentlich nicht genannte Polizisten, die in Stuttgart dabei waren im Report der Stuttgarter Zeitung: „Das Problem bewegt uns bei der Polizei schon lange, im Kessel brodelt es nachts in diesem Milieu nicht erst seit dem vergangenen Wochenende. Die Leute, die uns schon seit Längerem das Leben schwermachen, sind zum Beispiel türkischer, arabischer, irakischer oder afghanischer Herkunft. Die machen rund um den Eckensee 70 bis 80 Prozent unserer Arbeit an den Wochenenden in der Innenstadt aus.“

Politik, hat der aus Baden-Württemberg stammende Ex-Unionsfraktionschef Volker Kauder immer gesagt, beginne mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Stimmt. Also bitte genau das jetzt tun. Und dann mit eben der Politik anfangen, die sich daraus unmittelbar ableitet.  

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