Staatsrechtlerin Leisner-Egensperger im Interview - Sind Bewegungsradius und Impfpflicht gerechtfertigt?

In der Corona-Pandemie ist rechtlich vieles unklar. Die Staatsrechtlerin Anna Leisner-Egensperger erklärt im Interview, ob der 15-Kilometer-Bewegungsradius bei hohen Inzidenzen und die von Markus Söder vorgeschlagene Impfpflicht verfassungsgemäß sind.

Erst der 15 Kilometer Bewegungsradius. Jetzt regt Markus Söder auch noch eine Impfpflicht an / dpa
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Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Anna Leisner-Egensperger ist Professorin für öffentliches Recht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 

Frau Leisner-Egensperger, Sie haben sich kürzlich zur Impfpriorisierung geäußert. Was haben Sie gesagt?

Ich habe eine Stellungnahme im Rahmen der Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages abgegeben. Diese wird morgen Nachmittag stattfinden. Es geht um einen Gesetzesentwurf der FDP zu einem Corona-Impfgesetz. In der Stellungnahme habe ich klargestellt, dass der jetzigen Impfstrategie der Bundesregierung, die die Höchstbetagten priorisiert, obwohl sie von breitem gesellschaftlichem Konsens getragen ist und ich sie persönlich auch für richtig erachte, eine verfassungsmäßige Rechtsgrundlage fehlt.

Der Paragraph 20 des fünften Buchs des Sozialgesetzbuches käme zwar in Frage als Grundlage, allerdings sind hier die Ziele und Kriterien einer Impfpriorisierung nicht hinreichend genau geregelt. Mit diesen Fragen hätte sich der Bundestag intensiv beschäftigen müssen. Im November ist zwar im Rahmen der Beratungen über das 3. Bevölkerungsschutzgesetz darüber diskutiert worden, allerdings sind in der jetzigen Gesetzesfassung die Ziele und Kriterien der Priorisierung nicht ausreichend bestimmt zum Ausdruck gekommen. Die jetzige Corona-Impfverordnung fußt nicht auf einer hinreichenden parlamentarischen Grundlage. 

Was wurde daran kritisiert?

Ich habe teilweise erboste Mails bekommen, wonach ich die gesamte Impfstrategie der Bundesregierung kritisieren würde. Dem ist nicht so. Die Impfstrategie ist richtig. Es wäre nur wünschenswert, wenn sie auch auf ein richtiges rechliches Fundament gestellt würde. Sonst kann sie etwa von Personen, die in der Impfreihenfolge eigentlich erst später dran wären, angegriffen werden.

Am 5. Januar fand wieder die Ministerpräsidentenkonferenz mit Angela Merkel und den Länderchefs statt, in der Corona-Regeln für das ganze Land festgelegt wurden. Wie kann es sein, dass die Exekutive so einfach durchregieren kann?

Das Treffen von Angela Merkel und den Länderchefs dient zunächst einer politischen Sondierung. Von einem solchen Treffen gehen noch keine Rechtswirkungen aus. Auf Grundlage der Vereinbarungen, die man zusammen trifft, erlassen die jeweiligen Ministerpräsidenten länderspezifische Verordnungen. Diese Verordnungen haben inzwischen eine hinreichende parlamentarische Legitimation, nämlich im 3. Bevölkerungsschutzgesetz vom November des letzten Jahres.

Das auch Infektionsschutzgesetz genannt wird?

Genau. Danach muss jeweils aktuell durch den Bundestag beschlossen werden, dass eine pandemische Notlage nationaler Tragweite vorliegt. Sie ist immer auf ein paar Wochen befristet und muss wenn nötig verlängert werden. Im Moment besteht diese Lage noch. Für mögliche Freiheitsbeschränkungen wurde eine gesetzliche Grundlage geschaffen. 

Der Vorwurf, in der Pandemie würden die Parlamente übergangen, ist also nicht fundiert?

Nicht mehr so pauschal wie vor einigen Monaten. Mit dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr des letzten Jahres war allen klar, dass das jetzt die Stunde der Exekutive ist. Für die harten Maßnahmen wäre das Parlament zu langsam gewesen. Für eine gewisse Zeit hat man das toleriert. Als klar war, dass es so jetzt weitergeht, haben immer mehr gefordert, dass das Parlament jetzt tätig werden muss.

Wie ich finde, hat es über den Sommer etwas zu lange gedauert, bis es endlich im November zu einer grundlegenden Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes kam. Aber jetzt gibt es für die Maßnahmen eine parlamentarische Legitimation. 

Der Deutsche Bundestag hat das Initiativrecht. Er kann zu jeder Zeit über alles beraten, was er diskutiert haben will. Wieso hat es so lange gedauert, bis der Bundestag aktiv wurde?

Grundsätzlich schon. Im letzten Herbst ist tatsächlich zu wenig passiert. Allerdings, es gab auch immer wieder große Schwankungen, was die Infektionszahlen und den jeweils aktuellen Handlungsbedarf des Parlaments angeht. Das kann man nicht mit anderen Regelungsbereichen vergleichen. Viele haben gehofft, dass es nicht zu einer so schlimmeren zweiten Welle kommt. Das war etwas blauäugig. 

Hatten die Fraktionen der Großen Koalition im Bundestag gar kein Interesse an einer parlamentarischen Regelung, weil man zufrieden damit war, dass Angela Merkel und die Bundesregierung den Kurs bestimmen?

Es gibt nicht nur das eine „Interesse“. Es gibt stets verschiedene Interessen. Man war auch so langsam, weil man sich tatsächlich in der Sache schlicht nicht einig war. 

Anna Leisner-Egensperger / privat

Sie sprachen „Die Stunde der Exekutive“ an, weil Parlamente zu langsam seien. Stimmt das wirklich so? Das Infektionsschutzgesetz im November wurde in Windeseile vom Parlament verabschiedet.

Es hat lange gedauert, bis die entsprechenden Vorschläge zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes da waren. Als man sich zu bestimmten Änderungen durchgerungen hat, sind die weiteren Schritte im Gesetzgebungsverfahren sehr schnell gegangen. Aber die Vorbereitung des ganzen hat doch eine gewisse Zeit gedauert. 

Bei der Ministerpräsidentenkonferenz wurde ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 ein Bewegungsradius von 15 Kilometern bestimmt. Artikel 11 des Grundgesetzes garantiert die Freizügigkeit im Bundesgebiet. Kann man das einfach ignorieren?

In diesem Fall wäre die Freizügigkeit aus Artikel 11 nicht einschlägig, sondern die Fortbewegungsfreiheit aus Artikel 2, Absatz 1. Ignorieren kann man diese Artikel nicht, aber prinzipiell gibt es die Möglichkeit der Einschränkung. Sämtliche Grundrechte lassen sich einschränken, wenn dies verhältnismäßig ist. 

Und das ist es in diesem Fall?

Das ist fragwürdig. Sie müsste erst einmal geeignet und erforderlich sein. Wenn es das Ziel ist, Kontakte zu beschränken, dann kann man sagen, dass der 15 Kilometer Bewegungsradius dazu grundsätzlich geeignet ist. 

Und ist die Maßnahme erforderlich?

Hier stellt sich die Frage, ob es kein milderes Mittel gäbe, um den Zweck zu erreichen. Man kann sagen, dass es eine weniger große Freiheitsbeschränkung wäre, zu verhindern, dass sich Menschenmengen etwa an bestimmten Ausflugsorten sammeln. Die Freiheitsbeschränkungen, die in Nordrhein-Westfalen im Zusammenhang mit den Skandalen in den Fleischfabriken getroffen wurden, sind in gewisser Weise ein Vorbild. Damals sind die Gerichte tätig geworden und haben die Freiheitsbeschränkungen gekippt. 

Gerichte könnten also auch den 15 Kilometer Radius für nicht erforderlich halten und die Maßnahme kippen?

Situativ ist das durchaus möglich. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an.

Markus Söder hat unter Verweis auf die geringe Impfbereitschaft unter Pflegern eine Impfpflicht für eben diese ins Spiel gebracht. Impfen sei eine „Bürgerpflicht“. Ist das so? 

Ich glaube nicht, dass Markus Söder das im Sinne einer Grundpflicht verstanden haben wollte. Unter der „Bürgerpflicht“ verstehe ich eher einen ethischen Appell, dass alle noch einmal in sich gehen sollten und ihre Impfbereitschaft prüfen sollten. Insbesondere die Pflegekräfte. Vor dem Hintergrund, dass die Bewohner von Pflegeheimen nicht durchgängig gesundheitlich die Impfungen vertragen, haben Pflegekräfte schon eine gewisse ethische Verpflichtung, sich impfen zu lassen. 

Juristisch betrachtet stellt eine Impfpflicht einen massiven Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit dar. Meiner Einschätzung nach wäre dieser zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Man sollte versuchen, eine Herdenimmunität auch ohne eine Impfpflicht herzustellen.

Bevor man zum scharfen Schwert einer Pflicht greift, muss man das Arsenal anderer Anreize ausschöpfen. Beispielsweise könnten Pfleger, die bereit sind, sich impfen zu lassen, eine Prämie erhalten. 

Warum ist die Masern-Impfpflicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt?

Es geht um die Alternative, vor der jemand steht. Bei der Masernimpfpflicht haben die Lehrer in öffentlichen Schulen die Möglichkeit, sich impfen zu lassen oder sie gehen aus der Schule heraus. So ausgestaltet könnte man das in einer anderen Phase der Pandemie auch annehmen. Die Masernimpfpflicht hat man auch lange diskutiert und nur angenommen, weil es letztlich keine Alternative gab. Soweit sind wir aktuell in der pandemischen Entwicklung nicht. 

Sie sprachen bereits über die Möglichkeit der Einschränkung der Grundrechte. Stimmt der Eindruck, dass das Grundgesetz im Notfall dehnbar ist?

Natürlich hat man 1949 nicht an eine solche pandemische Lage gedacht. Es ist das erste Mal, dass die Freiheitsrechte so stark strapaziert werden. Aber schauen Sie sich an, wie sehr die Gerichte in ihren Entscheidungen den Schutz der Freiheitsrechte priorisieren. Im Ergebnis muss man sagen, dass man in Deutschland immer noch einen sehr wirksamen Freiheitsschutz hat. 

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