Berliner Oberstaatsanwalt Knispel schlägt Alarm - „Es ist fünf nach zwölf“

Weil Polizei und Justiz chronisch überlastet sind, wird nur jede zweite Straftat in Berlin aufgeklärt. Der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel hat darüber ein Buch geschrieben – als Weckruf an die Politik. Doch sind die Probleme nicht längst bekannt?

Spurensuche im „Tiergartenmord“: Nicht immer klappt die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft so gut / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Ralph Knispel leitet seit 2016 die Abteilung für Kapitalverbrechen bei der Berliner Staatsanwaltschaft. Bei Ullstein ist gerade sein Buch erschienen: „Rechtsstaat am Ende. Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm. 

Herr Knispel, der Chef des Remmo-Clans hat Ihnen neulich vor laufender TV-Kamera im Gerichtsgebäude gedroht. Brauchen Sie als Oberstaatsanwalt Polizeischutz?

Nein, ich weiß auch, auf welchen Vorfall Sie anspielen. Der Fairness halber muss ich sagen: Besagter Clan-Chef ist wenige Wochen nach diesem Vorfall zu mir gekommen, um sich per Handschlag für sein Verhalten zu entschuldigen. Für mich ist der Fall damit erledigt. Was er getan hat, war eine Beleidigung. Ich hab es nicht als Bedrohung empfunden. Gleichwohl lässt es tief blicken, welchem Verhalten sich die Justiz ausgesetzt sieht. 

Aber das war ja kein Einzelfall. Und in einem Interview haben Sie mal kritisiert, dass es in Ihrem Büro keinen Notfallknopf unterm Schreibtisch gibt.

Der Respekt für Amtsträger lässt arg zu wünschen übrig, auch der für Staatsanwälte. Darauf hat eben dieser Vorfall ein Licht geworfen.

In ihrem Buch schreiben Sie, der Rechtsstaat sei am Ende. Eine nüchterne Bestandsaufnahme – oder reißerischer Aufmacher, um ein Buch zu verkaufen, in dem nichts steht, was man nicht schon woanders gelesen hätte?

Nein, der Titel ist nicht reißerisch. Er ist ernst gemeint. Ich sehe den Rechtsstaat zumindest im Bereich des Strafrechts am Ende. Für mich stehen die Uhren auf fünf nach zwölf. Der Titel ist ein Weckruf, mit dem ich die Hoffnung verbinde, dass politisch Verantwortliche sich des Themas annehmen, um Abhilfe zu schaffen. So pathetisch das klingen mag: Wenn der Rechtsstaat leidet – und er hat in der Bevölkerung schon schweren Schaden genommen – ist das eine ernsthafte Gefahr für unsere Demokratie. Wenn sich randständige Gruppierungen dieses Themas annehmen, muss das alle alarmieren.

Nach Umfragen des Statistischen Bundesamtes ist das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat eher stabil. Es liegt seit 2016 relativ konstant bei 69 Prozent.

Es gibt verschiedene Umfragen dazu. Selbst wenn man aber die von Ihnen genannte Zahl zugrunde legt, hätten 31 Prozent der Bevölkerung das Vertrauen verloren. Schon das müsste doch jeden erschüttern.

Ihr Buch wird aber kaum dazu beitragen, das Ansehen der Justiz zu verbessern. Im Gegenteil.

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Ein Arzt, der einem Patienten eine lebensbedrohliche Diagnose stellt, ist auch kein böser Arzt. Er beschreibt einen Zustand. Nichts anderes tue ich, übrigens schon seit Jahren. Ich saß auch schon in vielen Talkshows. Geändert hat sich aber nichts. Ich halte diese Warnrufe weiterhin für erforderlich. Und die Resonanz auf das Buch zeigt, dass sie bei den Bürgern ankommen.

Eine der alarmierendsten Zahlen in Ihrem Buch ist, dass in Berlin 55 Prozent der Täter ohne Urteil und Strafe davonkommen. Lohnt sich Verbrechen in Berlin?

Das dürfen Sie mich eigentlich nicht fragen – aber finanziell auf jeden Fall, wie wir im Bereich der Vermögensabschöpfung sehen. Nach der Kriminalstatistik von 2019 betrug die Aufklärungsquote in Berlin 44,7 Prozent. Das heißt, von 100 Taten werden nicht einmal 45 aufgeklärt. Der Bundesdurchschnitt lag bei 57,5 Prozent und in Bayern bei 67 Prozent. Wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, dass Berlin ganz hinten bei der Aufklärungsquote liegt, aber ganz vorne bei der Zahl der begangenen Straftaten.

Wenn man böse wäre, könnte man daraus schließen, Berlin habe besonders unambitionierte, weil schlechter bezahlte Staatsanwälte und Staatsanwältinnen. 

Den Schluss dürfen Sie ziehen. Er ist aber nicht richtig. Es liegt an der Arbeitsbelastung der Kolleginnen und Kollegen. Sie sehen das an den Bergen von Akten, die wir täglich auf dem Tisch haben. Wenn Sie wissen, dass dieser Berg am nächsten Tag wieder genauso hoch ist, stehen Sie unter Druck, das erledigen zu müssen. Wenn die Arbeit immer größer und die Zeit für die Bearbeitung aber immer knapper wird, schlägt sich das natürlich auch in der Qualität nieder.

Was macht Ihnen denn die Arbeit schwer?

In Berlin ist die Polizei personell unterbesetzt. Das führt dazu, dass die Kollegen Verfahren nicht so abschließen können, wie sie es gelernt haben. In dieser Qualität kommt das Ergebnis der Arbeit dann zu uns. Und auch wir haben zu wenig Personal. Verfahren ziehen sich deshalb monate-, manchmal sogar jahrelang hin.

Müssen Staatsanwälte das Recht beugen, um nicht in Arbeit zu ertrinken?

Nein, es wird auch niemand eine Strafvereitlung begehen. Aber natürlich gehört es ebenso zur Wahrheit, anzuerkennen, dass im Bereich des Möglichen geschaut werden muss: Welche Verfahren bringe ich zum Abschluss? Welche Möglichkeiten eröffnet mir die Strafprozessordnung? Und da gehören Einstellungen wegen geringer Schuld dazu. In Berlin haben wir eine immense Zahl von Verfahren, die deswegen eingestellt werden.  

Ralph Knispel / dpa 

 

Mit der Begründung: „Überlastung“

Natürlich bestehen in der Behörde Vorgaben, in welchen Fällen solche Einstellungen grundsätzlich in Betracht kommen – zum Beispiel bei Vorstrafen oder vorangegangenen Einstellungen derselben Art. Die Kollegen und Kolleginnen führen deshalb in der Akte wortreich aus, weshalb eine solche Einstellung ausnahmsweise doch vertretbar erscheint. 

Der Politik ist das Problem bekannt. Sie hat 2017 einen „Pakt für den Rechtsstaat“ geschlossen, der den Ländern 220 Millionen Euro bringen sollte. Ist davon gar nichts in Berlin angekommen?

Dieser gefeierte Pakt war ein symbolträchtiges Unternehmen, das sich die Große Koalition auf die Fahnen geschrieben hat. Das Signal, das damit ausgesendet wird, ist ein ganz wertvolles. Es sollten bundesweit 2.000 zusätzliche Stellen geschaffen werden. Aber es waren nicht alles neue Stellen. Es wurde der Zeitraum ab 2017 erfasst. Und seither hatten einige Länder, darunter auch Berlin, bereits zahlreiche neue Stellen geschaffen. Und die gehörten schon zu den genannten 2.000 Stellen dazu. 

Auch in Berlin hat SPD-Innensenator Andreas Geisel die Ausgaben für Polizei massiv erhöht. Spüren Sie diesen Effekt auch als Oberstaatsanwalt?

Ja, aber ich profitiere eher davon, dass Justizsenator Dirk Behrendt ...

... der selbst beurlaubter Richter ist ...

... für Mittel locker gesorgt hat, um das Personal in den Gerichten um 281 Stellen aufzustocken – das ist weitaus mehr, als die Vorgängerregierungen bereitgestellt haben. Die Pensionierungswelle wird das aber nicht ausgleichen können. Denn um das Jahr 2030 herum werden bundesweit über 10.000 derartiger Stellen in deutschen Gerichten und Staatsanwaltschaften wegfallen.

Aber entlastet Sie das zusätzliche Personal jetzt gar nicht?

Doch, es wäre ungerecht, zu sagen, dass wir davon nichts spüren würden. Hier im Haus können wir die Arbeit auf mehr Schultern verteilen. Im letzten Jahr haben wir auch ein neues Gebäude bezogen, die ehemalige Zentrale von Air Berlin, das hat zur räumlichen Entlastung beigetragen.  

Wie steht es um die technische Qualität Ihrer Ausstattung?

Natürlich arbeiten wir nicht mehr mit dem Commodore 64. Es wäre ungerecht, den Eindruck zu vermitteln, als würden wir in der technischen Steinzeit leben. Aber es ist auch nicht so, dass jeder Kollege oder jede Kollegin über einen Laptop verfügt, um damit in das Datensystem der Staatsanwaltschaft zu gelangen. Da fehlt es an allen Ecken und Enden. Jede Abteilung hat zwar mindestens einen dafür geeigneten Laptop. Aber wir können damit nicht ohne weiteres im Home Office arbeiten. Die Laptops können sich nämlich nicht über das häusliche WLAN, sondern nur über Mobilfunk verbinden. Wer in sendeschwachen Gebieten wohnt, kommt so nicht in das System der Staatsanwaltschaft. Dasselbe gilt, wenn sich viele Bedienstete zeitgleich einloggen. Und jeden zweiten Mittwoch werden die Rechner im Kriminalgericht zu Wartungszwecken um 17 Uhr bis zum nächsten Morgen runtergefahren. Das ist nicht zeitgemäß.

Aber bis 2026 soll die elektronische Akte flächendeckend eingeführt werden. 

Wie soll das gehen? Die technischen Voraussetzungen lassen uns jetzt schon die Haare zu Berge stehen. Am Kammergericht hatte sich 2019/2020 nach einer Cyber-Attacke das Virus Imotet verbreitet. Alle Rechner mussten vom Netz genommen werden. Die Kollegen haben dann dort wie im vorigen Jahrhundert gearbeitet – mit Schreibmaschinen und Karteikarten.

Sie tragen es zwar mit Humor, klingen aber auch resigniert. Was motiviert Sie eigentlich noch?

Das ist tatsächlich der Idealismus, der mich in den Beruf gebracht hat. Denn das war mein Traumberuf nach dem Referendariat. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich bin manchmal verärgert, aber meine Begeisterung für diesen Beruf ist ungebrochen. Davon lebt auch die gesamte Strafjustiz, weil es dort unzählige Gleichgesinnte gibt. Aber natürlich gibt es auch Kollegen und Kolleginnen, die ihre Arbeit irgendwann nur noch lustlos verrichten oder mit einer Qualität, die dieser Aufgabe nicht würdig ist.

Wann hatten Sie zuletzt das Gefühl: Das war ein Erfolg – dafür hat es sich gelohnt?

Ach, das stellt sich immer ein, wenn ich ein Verfahren erfolgreich zu Ende geführt habe. Und es gibt eine Vielzahl von Prozessen, auf die wir stolz sind – zum Beispiel auf die Beschlagnahmung der 77 Immobilien von einer arabisch-stämmigen Clan-Familie. Ich persönlich erinnere mich gerne an meine Ermittlungen im sogenannten Tiergartenmord, als ein aus Russland angereister Beschuldigter einen Tschetschenen erschossen haben soll. Zwar ist das Verfahren nach einigen Monaten vom Generalbundesanwalt übernommen worden, aber bis dahin zu sehen, wie die Arbeit von Nachrichtendiensten und vom Bundeskriminalamt und vom Landeskriminalamt zusammenläuft, das sind Augenblicke, wo Sie merken: Die Arbeit lohnt sich.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

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