Umgang mit Verschwörungstheoretikern - Die Welt als Speaker’s Corner

Die Speaker’s Corner im Londoner Hyde Park ist legendär. Allerlei wirres Gerede kann einfach mal zum Besten gegeben werden. Danach ist wieder Business-as-usual. Warum wir uns von dieser Mentalität etwas für unsere aktuellen Debatten abschauen sollten.

An der Speaker's Corner können sich auch Wirrköpfe äußern. Man muss sie ja nicht ernstnehmen / dpa
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Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Schon mal in London gewesen? Im Hyde Park vorbeigeschaut? Speaker’s Corner? Ein kurzweiliger Zeitvertreib. Seit Jahr und Tag stellen sich dort Leute auf eine Apfelsinenkiste oder sonst ein kleines Podest und schwingen große Reden unterschiedlich gewichtigen Gehalts.

Wobei die Inbrunst der Redner eines klarmacht: Selbst, wenn den Zuschauergrüppchen der Vortrag wirr oder verstiegen vorkommen mag: Die, die da das Wort führen, halten das, was sie da vortragen, für immens bedeutend, genial und zwingend. Genau darin liegt der besondere Reiz, das Liebenswerte dieses Ortes.

Wie im Zoo

Die meisten Schaulustigen gehen dorthin wie in den Zoo. Zum Staunen, zum Amüsement und um immer wieder festzustellen: Leute gibt‘s, die gibt‘s gar nicht. Und mit diesem Staunen und einem kleinen Kopfschütteln geht es weiter in die Tate Modern und zum Riesenrad an der Themse. Aber für die halbe Stunde im Speaker’s Corner gilt der informelle Vertrag zwischen Rednern und Zuhörern: Ihr unterhaltet mich und bekommt dafür im Gegenzug eine halbe Stunde meiner Aufmerksamkeit. Anschließend gehen wir alle wieder unserer Wege.

Wenn sich die Verschrobenheit und Verstiegenheit mancher Menschen mit Geltungsbedürfnis auf eine Ecke in einem großen Stadtpark beschränkt, ist damit gut und leicht umzugehen. Unseligerweise hat die massenmediale Gesellschaft aus dem gesamten öffentlichen Raum, aus der ganzen Welt ein großes Speaker's Corner gemacht. In angespannten Zeiten wie im Moment erleben Wortführer eine immense und unverhältnismäßige Aufmerksamkeit.

Attila Hildmann und „der Wendler“ 

Einer, der eben noch als Vegan-Koch, die eine Welle geritten ist, reitet schon die nächste und versteigt sich in immer noch abstrusere Thesen, bis er Besuch vom Staatsschutz bekommt, weil die Inhalte, die er unters Volk bringt, strafrechtlich relevant sind. Ein anderer, von dem man im wirklichen Leben noch nie etwas gehört oder gesehen hat, aus dem sich unter Verwendung seines Nachnamens inklusive eines bestimmten Artikels aber die Boulevardpresse eine Art Avatar geschaffen hat, merkt, wie seine immer kruderen Verschwörungstheorien ihm immer noch größere Aufmerksamkeit bescheren und macht folglich weiter und weiter und weiter.

Leute wie Attila Hildmann und „der Wendler“ tragen nüchtern betrachtet nicht zum kollektiven Erkenntnisgewinn eines Gemeinwesens bei. Sie haben weder zu Corona noch zu sonstigen Themen Beachtenswertes beizutragen. Dennoch wird ihnen eine Aufmerksamkeit zuteil, die dazu in krassem Kontrast steht. Weil sie und ihresgleichen das Reiz-Reaktionsmuster einer permanent digital vernetzten Gesellschaft bedienen.

Das Reiz-Reaktionsmuster

Und wie bei einer Gitarre, die zu nahe an den Verstärker gerät, wird aus der digitalen Beschleunigung von Reiz und Reaktion irgendwann nur noch ein schriller Pfeifton. Eine im Bundestag vertretene Partei hat dieses Reiz-Reaktionsmuster ebenfalls für sich entdeckt und nutzt es mit kalkulierten Tabubrüchen und Provokationen. Redlicherweise spielen die Medien bei diesem Rückkoppelungseffekt von Reiz und Reaktion eine maßgebliche Rolle. Weil sie darauf geeicht sind, nicht das Geläufige, sondern das Abweichende zu beachten. Und es damit unverhältnismäßig bedeutend zu machen.

Berichtenswert sind nicht die Millionen Menschen, die am Wochenende und abends im Moment weitgehend zu Hause bleiben. Sondern jene paar tausend, die in Berlin und anderswo gegen die Einschränkungen demonstrieren. Zusammenkünfte, die dann wieder die Hildmanns für sich nutzen, um Aufmerksamkeit zu heischen. Das sollen sie ruhig tun (wenn sie dabei im Rechtsrahmen bleiben).

Der Übersteuerung ihrer Aussagen ist aber mit rechtlichen Mitteln nur bedingt beizukommen. Das stachelt sie im Zweifel nicht mehr an. Der Übersteuerung dieser Leute ist nur mit der Methode des Speaker’s Corner beizukommen. Man kann da mal hinschauen und ein bisschen den Kopf schütteln. Ein Tüte Fish and Chips dazu essen. Dann aber wieder weiter zu den wichtigeren Schauplätzen. Die Tate, das famose Natural History Museum, die Cabinet War Rooms zum Beispiel.

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