Entscheidung über SPD-Vorsitz - Ein Bild des Schreckens

Ein gutes Viertel aller SPD-Mitglieder beschließt den radikalen Linksruck. Die Partei nimmt sich damit politisch aus dem Spiel – und setzt die CDU unter Druck. Deutschland wird sich verändern

Unter der Hand von Willy Brandt: Das neue SPD-Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

Der Berg hat gekreißt und gebar eine Maus. Wobei es übertrieben wäre, die SPD mit einem Berg zu vergleichen, denn in der politischen Landschaft stellt sie schon heute allenfalls nur noch einen Hügel dar. Nach monatelanger Selbstbeschäftigung und den erwarteten Kollateralschäden einer Mitgliederbefragung steht jetzt immerhin fest, wer die Sozialdemokraten in die goldene Zukunft führen soll. Es handelt sich um einen Polit-Rentner sowie um eine intellektuell eher einfach gestrickte Hinterbänklerin, die dem Genossen Vizekanzler öffentlich absprach, ein aufrechter Sozi zu sein. Herzlichen Glückwunsch.
 
„Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt“, lautet der Titel eines unlängst erschienenen Buchs über (so der Untertitel) „das Ende einer Volkspartei“. Das „vielleicht“ dürfte man sich inzwischen sparen können. Denn das Ergebnis ihres Mitgliedervotums ist in der Tat so verheerend, dass es völlig unklar ist, wie die deutschen Sozialdemokraten damit je wieder auf die Beine kommen wollen: Eine denkbar knappe Mehrheit für das Duo Esken/Walter-Borjans (53 Prozent der Stimmen) bei gleichzeitiger Wahlbeteiligung von 54 Prozent.

Linkspopulistische Agitation von Kevin Kühnert

Insgesamt haben also knapp 29 Prozent aller SPD-Mitglieder für die designierten Parteivorsitzenden gestimmt. Und weil nicht davon auszugehen ist, dass es sich bei diesem Anteil vollständig um überzeugte Anhänger der siegreichen Kandidaten handelt (viele dürften eher ihr Mütchen an Olaf Scholz gekühlt haben), steht höchstens jedes fünfte Mitglied mit Überzeugung hinter Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Wie man mit einer solchen Führungsspitze Wahlen gewinnen will, bleibt vorerst das Geheimnis von Kevin Kühnert und seinen Jusos, die mit ihrer linkspopulistischen Agitation entscheidenden Anteil am jetzigen Resultat hatten.
 
Kühnert höchstpersönlich scheint die Tragweite seiner Machinationen inzwischen fast unheimlich zu sein. Auf Twitter schrieb er noch am Samstag: „Unsere Gegner wollen, dass es uns zerreißt. Diesen Gefallen werden wir ihnen nicht tun.“ Das ist, mit Verlaub, dummes Zeug. Der Juso-Vorsitzende selbst und seine Wunschkandidatin Esken haben mit ihrer Kampagne den Riss wenn nicht herbeigeführt, so doch zumindest in einer Weise befördert, dass sogar eine Spaltung der Partei nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Sollte Kühnert mit „unsere Gegner“ aber die politische Konkurrenz gemeint haben, irrt er gewaltig. Ob von CDU, CSU, den Grünen oder der FDP – ich kenne keinen einzigen Vertreter der genannten Parteien, der oder die sich einen weiteren Niedergang der Sozialdemokratie wünscht. Höchstens AfD-Funktionäre mögen das anders sehen, aber denen geht es ja bekanntlich um die Destabilisierung der Verhältnisse. Insofern ziehen sie mit den Jusos sogar an einem Strang.

Verbreitete Weltfremdheit in der SPD

Kühnerts Tweet ist der Auftakt zu einem Schwarze-Peter-Spiel, das spätestens beim SPD-Parteitag am nächsten Wochenende so richtig in Schwung kommen wird. Nicht nur müssen dort Esken und Walter-Borjans von den Delegierten abgenickt werden (mindestens 50 Prozent der Stimmen sind nötig). Es wird vor allem darum gehen, was man den neuen Parteichefs in Sachen Groko mit auf den Weg gibt. Eine solche Zäsur, wie sie sich jetzt mit dem Mitgliederentscheid vollzogen hat, soll und wird ja auch inhaltliche Folgen haben. Dabei muss das linke Wünsch-dir-was der Esken-Supporter so hübsch verpackt werden, dass die Koalitionspartner von der Union als herzlose Neoliberale dastehen, sollten sie sich dem Ganzen verweigern. Der Trick wird aber nicht gelingen; die meisten Wähler dürften Kühnerts Exit-Strategie längst durchschaut haben.

Es zeugt nicht nur von einer in der SPD verbreiteten Weltfremdheit, dass Esken und Walter-Borjans sich die Führung ihrer Partei ernsthaft zutrauen – neben diesen beiden wirken selbst Martin Schulz (Verweildauer im Amt: elf Monate) oder Andrea Nahles (Verweildauer im Amt: 13 Monate) ja wie wahre Lichtgestalten. Befremdlich ist vor allem die fixe Idee einiger Sozialdemokraten, man könnte sich in der Opposition „regenerieren“. Die deutschen Wähler werden jedenfalls nicht darauf warten, bis der sozialdemokratische Burnout irgendwie, irgendwann vielleicht überwunden ist. Diese Partei hat inzwischen die Strahlkraft einer verstaubten Zimmerpflanze, und Esken/Walter-Borjans entsprechen dem aufs Feinste. Wenn Kühnert selbst angetreten wäre, hätte das ja zumindest noch einen jugendlichen Aufbruch vermittelt. Stattdessen zwei vorgeschobene Pappkameraden aus der dritten Reihe. Wenn das ein Aufbruch sein soll, will man wirklich lieber nicht dabei sein.

Ohne die Grünen wird nichts mehr gehen

Mit der SPD ist also kein Staat mehr zu machen, sie hat das selbst so entschieden. Wahrscheinlich folgt jetzt erst einmal eine längere Hängepartie. Also genau das, was Deutschland in diesen Zeiten am allerwenigsten braucht. Die Union wiederum muss sich damit abfinden, dass in Zukunft nur noch die Grünen (wahrscheinlich mit Beimischung der FDP) als Koalitionspartner in Frage kommen. Jamaika, der zweite Versuch – vielleicht noch mit einem Interregnum namens Minderheitsregierung. Der SPD-Mitgliederentscheid setzt jedenfalls auch eine CDU unter erhöhten Druck, die unter ähnlichen Identitätsstörungen leidet wie die SPD, aber immerhin disziplinierter damit umgeht. Dass ohne die Grünen nichts mehr geht, dürfte aber die Malaise der Union nicht gerade lindern, im Gegenteil.
 
Deutschland im Spätherbst des Jahres 2019: ein erschreckendes Bild.

Anzeige