SPD in der Krise - Überwintert, Sozialdemokraten!

Die Zeit der SPD scheint abgelaufen. Dass das so ist, liegt nicht an einzelnen Fehlentscheidungen, sondern an sozialen und technischen Veränderungen. Die Sprache der neuen Linken wird geprägt von den Annalenas dieser Welt. Doch das könnte sich auch bald wieder ändern.

Olaf Scholz ist Kanzlerkandidat der SPD für die kommende Bundestagswahl / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Unter einer kognitiven Dissonanz versteht man in der Psychologie einen Gefühlzustand, der durch zwei unvereinbare Wahrnehmungen, Gedanken oder Gefühle verursacht wird. Beispiel: Sie wollen abnehmen, haben aber eine Vorliebe für Sahnetorten. Das Ergebnis ist eine unangenehme emotionale Grundstimmung, eine Dissonanz, die zumeist nach einer Seite hin aufgelöst wird. In unserem Beispiel: Sie gönnen sich ein Stück Sahnetorte. Das nennt man dann Dissonanzauflösung.

Es war einmal ...

Auch Kollektive können unter kognitiven Dissonanzen leiden. Zum Beispiel Parteien. Ein typisches Beispiel hierfür ist die SPD. Einerseits fühlt man sich aus der Geschichte und Tradition heraus als Regierungspartei mit Chance auf das Kanzleramt. Faktisch aber steht man seit Jahren in allen relevanten Umfragen bei deutlich unter 20 Prozent. Selbstbild und Wirklichkeit passen nicht mehr zusammen. Das erzeugt innere Spannungen und eine als unerträglich empfundene Stimmung. Also greift man zur Dissonanzauflösung. In diesem Fall: Man ruft einen Kanzlerkandidaten aus, der tapfer verkündet, seine Chancen auf das Kanzleramt stünden nicht einmal so schlecht.

Das war im August des vorigen Jahres. Danach stiegen die Umfragewerte der SPD sogar leicht. Nur, um sich danach wieder auf dem Ausgangsniveau einzupendeln. Seit Ende vorigen Jahres schwankt die Partei zwischen 15 und 17 Prozent. Aktuell droht sie von der FDP überholt zu werden. Der definitive sozialdemokratische Albtraum. Glaubt man dem Institut Allensbach tangierten die Umfragewerte der Sozialdemokraten das letzte Mal im Sommer 2018 die 20-Prozent-Marke.

Keine Antwort auf Probleme

Man braucht kein politologisches Genie zu sein, um prognostizieren zu können, dass die SPD wieder einmal das bisher schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl einfahren wird. Die 34,2 Prozent, mit denen Gerhard Schröder 2005 die Bundestagswahl verlor, sind Werte aus einer anderen Wahlwelt. Egal welches Institut man bemüht: Die Umfrageergebnisse für die älteste Partei Deutschlands scheinen wie festgenagelt. Und das ist das eigentliche Problem.

Denn die Konstanz der Umfragewerte für die Sozialdemokratie bedeutet schlicht, dass sie nicht mehr als relevanter tagespolitischer Akteur wahrgenommen wird. Egal was passiert, egal was sich in der Welt oder in Deutschland ereignet: Auf die Werte der SPD hat das keine Auswirkung. Die Partei schart nur noch die Unerschütterlichen um sich, die ihre Kreuzchen seit Jahrzehnten an derselben Stelle machen. Doch von allen anderen werden die Sozialdemokraten nicht mehr als Partei wahrgenommen, die auf irgendein Problem eine Antwort hat.

Erstarren zu politischen Mumien

Denn wie ein politisches Massezentrum saugen die Grünen jede Wählerwanderung ein – im Guten wie im Schlechten. Sie sind die lebendige, linke politische Kraft. SPD und Linke sind zu politischen Mumien erstarrt. Für die Zeit nach der Wahl verheißt das für die SPD nichts Gutes. Man wird versuchen, sich zu konsolidieren. Nicht auszuschließen allerdings, dass der Point of no Return für die Sozialdemokraten schon lange überschritten ist.

Die SPD war die Partei einer wirtschaftlichen und technischen Momentaufnahme: der hoch karbonisierten Industrialisierung. Als die Bergwerke und Hochöfen schlossen und klassische Industrien abwanderten, begann ihr Niedergang. Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder ihre Seele verraten oder in Nostalgie untergehen. Die SPD hat sich für beides entschieden.

Es wird sich lohnen

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass eine Partei auf alle ökonomischen und sozialen Wandlungsprozesse eine Antwort geben kann, solange sie nur clever genug beraten wird (auch wenn Politberater natürlich das Gegenteil behaupten). Denn Parteien sind auch Traditionsgebilde. Man kann sie nicht nach Belieben verändern. Deindustrialisierung, Ökologiebewegung, Digitalisierung und ein Zeitgeist, der alles zu einem neulinken Denken zusammenbindet, haben die SPD überflüssig gemacht. Sie hatte nie wirklich eine Chance, sich dagegen zu wehren. So bedauerlich das – ganz ohne Ironie – ist.

Eine neue SPD wird erst dann wieder eine Chance haben, wenn der deutschen Wohlstandsgesellschaft klar wird, dass ihr Wohlstand angezählt ist und mit Windrädern und Lieferservices allein nicht gewahrt werden kann. Diese Zeit allerdings könnte schon bald kommen. Es lohnt sich zu überwintern, Sozialdemokraten!

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