SPD und CDU - Das Elend der Großkoalitionäre

Die Große Koalition büßt von Wahl zu Wahl mehr Stimmen ein. Dieser Niedergang von CDU und SPD ist vor allem selbst verschuldet. Einen Ausweg aus der Krise zu finden, wird für beide Parteien schwierig

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Wie in einer Dynastie schlug Kanzlerin Angela Merkel ihre Nachfolgerin vor / Fotos: Nikita Teryoshin
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Autoreninfo

Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Es gehört zur intellektuellen Trägheit medialer Politikbeobachter, dass sie an Begriffen festhalten, die von der Wirklichkeit längst überholt wurden. So steht es auch mit der Großen Koalition. Bei der Wahl 2017, nach der die Groko in die Regierung stolperte, konnten die Großkoalitionäre CDU/CSU (32,9 Prozent) und SPD (20,5 Prozent) gemeinsam nur noch 53,4 Prozent der Wähler für sich gewinnen. Ist das also noch eine große Koalition?

Zum Vergleich: Bei der Bildung der ersten Großen Koalition 1966 wussten die damals noch zu Recht Volksparteien genannten Union (47,6 Prozent) und SPD (39,3 Prozent) gemeinsam 86,9 Prozent der Wählerschaft hinter sich. Drei Jahre später gewann die SPD 3,4 Prozentpunkte hinzu und ging als politischer Gewinner aus der Koalition hervor. Rechnet man nach den Europawahlen im Mai 2019 die Stimmenanteile der beiden einstmaligen Volksparteien zusammen, kommen diese auf nur noch 44,7 Prozent. Die Groko wurde endgültig zur Mikro. Ein dramatischer Niedergang ist dies, der für die SPD existenzielle Züge angenommen hat.

Das wirft ein paar ganz grundsätzliche Fragen auf. Sind sich die Führungen beider Parteien eigentlich bewusst, was das für sie, ihre Parteien und die Demokratie bedeutet? Kennen sie die Gründe für ihr anhaltendes Wahlversagen? Sind sie nicht selbst auch Teil davon?

Niedergang seit der Jahrhundertwende

Es sind mindestens drei Faktorenbündel, die sich die Parteistrategen genauer ansehen müssten: den Niedergang der Volksparteien in ganz Europa, die Performanz beider Parteien in der Groko und die Qualität des Führungspersonals. Die Faktoren des ersten Bündels wirken langfristig und entziehen sich weitgehend der Beeinflussung durch politische Eliten. Die Bündel zwei und drei sind kurzfristiger Natur, sie könnten beeinflusst werden, setzen aber eine Form der kritischen Selbstreflexion voraus, die schmerzhaft ist und deshalb meist nur ein Schattendasein unter politischen Führungseliten fristet. Der Grund dafür? Es könnte sie ja Macht, Amt und (Selbst-) Achtung kosten.

Volksparteien dominierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Parteienlandschaft und die Politik der westlichen Demokratien. Das ist Vergangenheit. Ihr Niedergang ist säkular und hat schon längst vor der Jahrhundertwende begonnen. Die Gesellschaften sind heterogener geworden und haben sich stärker individualisiert. Volksparteien, die mit breiten und deshalb notwendigerweise auch diffusen Programmen Wähler durch alle Schichten, Alterskohorten und Weltanschauungen gewinnen wollten, nehmen sich heute wie Dinosaurier aus. Deren Schicksal ist bekannt: Sie konnten sich nicht an den raschen Wandel ihrer Umweltbedingungen anpassen und starben aus. Das Gleiche droht den Volksparteien. Beschleunigt die Große Koalition dieses Schicksal?

Zwitterwesen Große Koalition

Große Koalitionen sind Zwitterwesen in der Demokratie. Zum einen erfüllen sie das Repräsentationsprinzip der Volkssouveränität besser als kleine. Zum anderen aber verletzen sie das liberale Gebot einer effektiven Regierungskontrolle.

Demokratie heißt Herrschaft des Volkes, nicht der Mehrheit des Volkes. Man kann deshalb durchaus argumentieren, große Koalitionen seien besser als kleine Koalitionen, weil ein deutlich größerer Teil des Volkes durch die Regierung repräsentiert wird und sich damit selbst regiert. Ein viel kleinerer Teil ist dann von der Selbstregierung auf Zeit ausgeschlossen. Eine Regierung also, die 90 Prozent der Wähler vertritt (große Koalition), wäre dann besser als eine Regierung, die nur 51 Prozent (kleine Koalition) der Bürger repräsentiert. In der Schweiz zum Beispiel gibt es keine eigentliche Opposition, da seit 1959 nach der berühmten Zauberformel immer alle vier großen Parteien in der Regierung vertreten sind.
Die Schweiz zählt dennoch zu den besten Demokratien auf dem Globus. Dies liegt nicht nur an den Volksabstimmungen, die nur für rund 10 Prozent der Gesamtproduktion der Gesetzgebung verantwortlich zeichnen. Sondern auch daran, dass die Regierung alle Parteien umfasst und in dieser größten aller großen Koalitionen der Kompromiss zur eigentlichen Signatur der Schweizer Demokratie geworden ist.

Kompromiss und Repräsentanz sind aber nur die halbe demokratische Wahrheit. Die andere, die liberale Hälfte zielt auf die Gewaltenkontrolle. Sie betont die seit John Locke (1688) und Montesquieu (1755) entwickelte Herrschaftskontrolle. Und dafür ist keineswegs nur die Gewaltentrennung zuständig. In parlamentarischen Regierungssystemen wie dem der Bundesrepublik Deutschland ist die Legislative nicht von der Exekutive getrennt, sondern wird von dieser dominiert. Die fehlende parlamentarische Kontrolle der Exekutive wird durch das Wechselspiel von Regierung und Opposition teilweise ersetzt. Denn die Mehrheitsherrschaft ist nur dann mit dem demokratischen Gebot der Selbstherrschaft des Volkes im Einklang, wenn die Opposition eine reale Chance hat, die Regierung abzulösen, und den Oppositionsparteien zudem starke Kontrollrechte zugebilligt werden.

Die Groko, die sich 2017 ächzend an die Macht hievte, ist also gar keine große Koalition. Sie folgt einer anderen Herrschaftslogik. Mit 53,4 Prozent der Wählerstimmen ist sie schlicht eine kleine Koalition, der eine zwar fragmentierte, aber doch starke Opposition gegenübersteht. Es ist also der Begriffsträgheit der medialen Debatte geschuldet, dass sie den Sprachbaustein „Große Koalition“ fälschlicherweise noch weiter herumschleppt. Selbst die Ausrede, man bezeichne damit die Koalition der beiden größten Parteien, wurde unlängst von der Wirklichkeit überholt. Die Grünen sind in Umfragen mittlerweile stärker als die SPD, die sich nun mit der AfD um den dritten Rang streiten muss.

Profillose SPD

Warum aber werden die beiden Koalitionsparteien gegenwärtig von den Wählern so bestraft, wo immer diese zu den Wahlurnen gerufen werden? Ein Grund ist klar: Der Niedergang der Volksparteien wird in einer individualisierten, sozial wie kulturell heterogenen Gesellschaft mittelfristig nicht gestoppt und der Trend umgekehrt werden können. Aber als Erklärung genügt das nicht. Es sind zugleich die konkrete Politik und das dahinterstehende Personal, die ein solch desaströses Abbild der beiden Regierungsparteien in der Öffentlichkeit zeichnen. Dies hat die einstigen Großkoalitionäre in weniger als zwei Jahren nun de facto zu Kleinkoalitionären degradiert. Nach den letzten Umfragen bilden die beiden Parteien nur noch ein Minderheitskabinett.

Die SPD hat sich in den Koalitionsvereinbarungen stolze sechs Ministerien herausverhandelt. Gemessen an den Wähleranteilen ist das viel. Ein Erfolg – sollte man meinen: Finanzen, Äußeres, Familie, Justiz, Arbeit und Soziales sowie Umwelt. Da müsste sich doch etwas machen lassen, gerade für die untere Hälfte unserer Gesellschaft. Konnte aber die SPD das soziale Profil in der Regierung tatsächlich schärfen?

Gesetzesvorlagen, die die Ministerien von Hubertus Heil und Franziska Giffey verließen, trugen durchaus eine erkennbare sozialdemokratische Handschrift. Das Justizministerium wurde von einer sympathischen Katarina Barley ohne Fehl geführt. Aber sollte man Gesetze nennen, die die Wählerklientel der SPD goutiert oder auch nur zur Kenntnis genommen hätte, sucht man vergebens. Die Mietgesetzgebung war es mit Sicherheit nicht; sie war schon an dem Tag überholt, an dem sie in Kraft getreten ist. Das sahen auch viele Mitglieder und Wähler der SPD so. Was das Umweltministerium angeht, so haben in jüngsten Umfragen ganze 7 Prozent der Befragten der SPD Kompetenz in der Klima- und Umweltpolitik attestiert. Dies ist verheerend für eine Partei, die dieses wichtige Portfolio in der Regierung innehat. Schließlich hat gerade dieses Politikfeld bei den Wählern enorme Bedeutung erlangt und treibt die politischen Klimamonopolisten, die Grünen, gegenwärtig auf ungeahnte Wählerhöhen.

Keine sozialdemokratische Handschrift

Heiko Maas wurde von der damaligen Parteivorsitzenden Andrea Nahles zum Außenminister gemacht. Die Begründung lautete: Wer aus einer Grenzregion wie dem Saarland komme, müsse ja wohl wissen, was Außenpolitik ist. Das war frivol. Eine Außenpolitik indes, die Deutschland durch die Turbulenzen der internationalen Politik führt, sucht man vergebens. Wer vertritt denn deutsche Interessen gegenüber den USA, China oder Russland? Handelssanktionen gegenüber Russland sind eine wirkungslose Mischung von Kaltem Krieg und moralischer Empörung. Sie dienen nicht deutschen, sondern chinesischen Interessen. Wer hat in der Europapolitik eine Antwort auf Macrons Reformpläne in der EU? Man gewinnt den Eindruck, der Außenminister wird weder von den Großmächten noch von Frankreich, Iran oder der eigenen Kanzlerin für voll genommen. Willy Brandts außenpolitisches Vermächtnis gegenüber dem Osten und dem Süden hatte der frisch ernannte Außenminister ja schon explizit heruntergespielt. Deshalb sei er ja wohl nicht in die SPD eingetreten.

Anders der Finanzminister. Er wird im Konzert der europäischen Mächte sehr wohl ernst genommen. Aber nicht wegen seiner sozialdemokratisch inspirierten Fiskalpolitik, sondern weil er sich als deutscher Finanzminister kaum von seinem christdemokratisch-konservativen Vorgänger Schäuble unterscheidet. An der schwarzen Null lässt er in fiskalkonservativer Dogmatik nicht rühren. Dass nun 2021 der Aktienhandel mit einer Transaktionssteuer belegt werden soll, ist richtig, kommt aber für die SPD zu spät. Möglicherweise sitzt sie dann schon längst nicht mehr in der Regierung.

Mit zwei von sechs Ministerien, in denen man eine sozialdemokratische Handschrift erkennen kann, lässt sich kein sozialdemokratisches Profil schnitzen. So wurde die Regierungsbeteiligung der SPD nicht zu einem Plus auf der Haben-, sondern einem Minus auf der Sollseite der Bilanz. Warum im Strudel des Niedergangs zwar die Partei- und Fraktionsvorsitzende gehen musste, die Regierungsmannschaft aber von Kritik weitgehend verschont wurde, gehört zu den Rätseln der innerparteilichen Machtlogik. Eine zur Selbstkritik fähige Partei ziert es nicht.

Nachfolge in der Dynastie

Und die CDU? Der große Großkoalitionär? Die Kanzlerin, die zu Beginn ihrer Karriere häufig einen kalten machiavellistischen Willen erkennen ließ, verlässt am Ende ihrer Laufbahn das Gespür für die Lehren des großen Florentiner Machttheoretikers. Sie besitzt nicht mehr die politische Tugend (virtù) zu erkennen, dass ihre Zeiten der politischen Gelegenheit (opportunità) zu Ende gegangen sind. Dass dann auch noch fortuna für sie und die Partei bei Ansehen und Wahlen ausbleibt, irritiert sie nicht mehr.

Wie in einer Dynastie schlug Merkel als Nachfolgerin im Parteivorsitz ihre Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer vor. Diese setzte sich erwartungsgemäß, aber knapp gegen den Konservativen Friedrich Merz durch. Wofür sie genau steht, ließ AKK bei ihrer Kampagne kaum erkennen. Der Schatten ihrer Ziehmutter war zu groß, um sich von dieser und ihrer abgenutzten Politik zu distanzieren. Wenige Monate nach der Wahl strauchelt sie nun. Es sind nur noch wenige, die ihr die Kanzlerschaft zutrauen oder anvertrauen möchten. Je länger die Kanzlerin im Amt und AKK im großen Schatten ihrer Gönnerin bleibt, umso geringer werden ihre Chancen auf eine Kanzlerschaft sein.

So fügt es sich, dass sich beide ehemaligen Volksparteien in der klein gewordenen Großen Koalition selbst verzehren. Der Niedergang ist vor allem selbst verschuldet. Nicht die wechselseitige Konkurrenz, sondern die übergroße Nähe schadet ihnen. Die CDU hat ihren konservativen Markenkern aufgegeben und die SPD ihre linken Ambitionen. Dass sich dann die Mitte-Rechts- und die Mitte-Links-Partei zu einer Mitte-Mitte-Volkspartei virtuell verschmolzen haben, ist die eigentliche Tragik.

Was heißt das für die Koalition, worauf muss sich das Land einstellen?

Die CDU muss Neuwahlen vermeiden. Sie würde diese mit einem weiteren drastischen Rückgang ihrer Wählerschaft bezahlen. Für eine Zweierkoalition mit den Grünen dürfte es nach einem vorgezogenen Urnengang nicht reichen. Die geschwächte CDU hätte es zudem mit sendungsbewussten Grünen zu tun, deren klimapolitische Maßnahmen sie weder aus fiskal- noch aus klientelpolitischen Gründen akzeptieren könnte. Versuchten sie deshalb, die FDP in eine Jamaika-Koalition einzubinden, dürften sich die Sollbruchstellen einer solchen Dreierkoalition nur erhöhen. Die CDU und die an ihrem Amt klebende Kanzlerin haben deshalb das größte Interesse, dass die gegenwärtige Koalition bis zum Ende der Legislatur durchhält.

Blick in die Zukunft

Das kann nicht das primäre Ziel der SPD sein. Zwar wären auch für sie vorgezogene Neuwahlen ein Desaster. Mit dem Ziel, in die Opposition zu gehen, wäre es zudem schwer, einen selbstbewussten Wahlkampf zu führen. „Wählt uns, wir wollen in die Opposition!“ klingt als Parole nicht überzeugend. Die Alternative, auf eine rot-rot-grüne Koalitionsregierung zu setzen, würde die SPD möglicherweise zum Juniorpartner der Grünen machen. Die Folge wäre eine weitere schwere Identitätskrise der Partei, von der wiederum nur die Grünen profitieren könnten.

Aber die SPD – die Basis mehr als die Führung – ahnt, dass ein Verbleib in der Regierung sie weiter zerreiben würde. So könnte die SPD im Herbst die Revisionsklausel zur Überprüfung der Regierungsbilanz ernst nehmen und aus der Groko aussteigen. Gleichzeitig könnte sie staatspolitische Verantwortung demonstrieren, indem sie einem CDU/CSU-Minderheitskabinett anbietet, wichtige Eckpunkte des Koalitionsvertrags abzuarbeiten. Auch das wäre nicht ohne Risiko. Die SPD erschiene als ein amphibisches Oppositionsregierungswesen, während die Grünen als eigentliche Oppositionspartei weiter auf der Welle der Angst vor der Klimakatastrophe surfen könnten – ohne selbst Verantwortung übernehmen zu müssen.

So steckt die Bundesrepublik in der komplexesten Koalitionskrise ihrer Geschichte. Einfache Vorschläge und Voraussagen verbieten sich. Alles scheint möglich, und so gilt nach Mark Twain: Prognosen sind dann besonders schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.

 

Dieser Text erschien in der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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