SPD in der Krise - Aristoteles statt Ätschi-Bätschi

Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles steht die SPD an einer historischen Klippe. Wenn sie die Große Koalition platzen lässt, sinkt sie in die Bedeutungslosigkeit, schreibt Mathias Brodkorb. Ihre Krise sei eine personelle, keine programmatische. Nur eine Persönlichkeit mit Charisma könne ihr die Würde zurückgeben

Bye-bye, Bätschi: Kann eine neue Führungspersönlichkeit der SPD ihre Würde zurückgeben? / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Kaum hat Andrea Nahles ihren Rücktritt erklärt, greift die sozialdemokratische Ur-Sehnsucht nach dem Ausstieg aus der Großen Koalition bei gleichzeitiger programmatischer Erneuerung wieder um sich. Die Ursache für die krachende Niederlage bei der Europawahl soll demnach gar nicht in der eigenen politischen Schwäche, sondern im Raffinement des Koalitionspartners liegen. Dabei dürfte das eigentlich dasselbe sein.

Auch wenn das nicht zur Beruhigung beiträgt: Ein großer Teil der Stimmenverluste war für die SPD einfach unvermeidlich. Deutschland vollzieht seit einigen Jahren eben jene politische Erschlaffung nach, unter der andere westliche Demokratien teils bereits seit Jahrzehnten ächzen („Postdemokratie“). Das Zeitalter der Volksparteien alten Typs dürfte endgültig vorbei sein. Auch die Union bekommt dies zunehmend zu spüren. Insofern konnten Schulz und Nahles kämpfen, wie sie wollten. Sie mussten verlieren – und mit ihnen die SPD. Wir erleben insofern nicht die Krise der SPD, sondern die der Volkspartei als strukturierendes Prinzip.

Auf dem Weg zurück zur Volkspartei

Anstatt die objektiven, vielfältigen Gründe für die Veränderungen dieser Rahmenbedingungen nüchtern zu analysieren, rief die Parteiführung nach der Wahlniederlage 2017 die große „Erneuerung“ aus. Alles sollte anders und besser werden: neues Personal, neues Programm, neue Medienstrategie. Ziel war es, sich den Titel Volkspartei zurückzuerkämpfen, nicht mehr und nicht weniger. Anstatt die SPD-Mitglieder also auf einen steinigen und frustrierenden Weg vorzubereiten, wurden utopistische Aphrodisiaka verabreicht und illusionäre Erwartungen geschürt, an deren Nichterreichbarkeit die erste Frau an der Spitze der ruhmreichen SPD krachend gescheitert ist.

Wer nun ernsthaft fordert, die SPD müsse ihren Kurs der Radikalisierung und programmatischen Erneuerung nur umso intensiver fortsetzen, kopiert in frappierender Weise die Logik jener politischen Kräfte, die auf den Hinweis der empirisch erwiesenen Unwirksamkeit marktradikaler Konzepte erwidern, dass diese eben nur umso radikaler verfolgt werden müssten. Auch wenn es schwer fällt, das anzuerkennen: Die SPD hat nicht in erster Linie ein programmatisches Defizit, sondern – abgesehen vom postdemokratisch veränderten Umfeld – ganz andere Sorgen.

Moralisch verlottert und prinzipienlos

Die sozialdemokratische Ursünde neuerer Zeit datiert auf den 24. September 2017. Wenige Minuten nach Veröffentlichung der ersten Hochrechnungen des Bundestagswahlergebnisses verkündete die SPD-Führung das Ende der Großen Koalition. Zu ihren Gunsten wird man dabei ins Feld führen müssen: Dieser Schritt dürfte auf so ziemlich allen SPD-Wahlpartys in Deutschland mit stürmischem Beifall begrüßt worden sein. Er entsprach den innersten Empfindungen des real existierenden Durchschnittssozis. 

Zu den wesentlichen Funktionen eines repräsentativen Systems gehört es jedoch, dass die gewählte Führung zwischen den Emotionen der Massen und den rationalen Erfordernissen der Sache vermittelt und dabei die langfristigen Konsequenzen des eigenen Handelns bedenkt. Die SPD-Führung verwechselte damals demokratische Führerschaft mit dem imperativen Mandat. Was dann geschah, ist bekannt: Nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen lud sich Deutschlands Aufmerksamkeit und moralischer Druck vollständig auf die SPD ab. Die SPD-Bundestagsfraktion kündigte der Parteiführung die Gefolgschaft auf und zwang sie so in die Große Koalition. Nicht der Gang in die Große Koalition, sondern der Bruch eines am Wahlabend unnötig und voreilig gegebenen Versprechens zerstörte die Glaubwürdigkeit der SPD und ihres neuen Führungspersonals. Dass Martin Schulz sich dann später sogar noch anschickte, Außenminister der Bundesrepublik werden zu wollen, obwohl er ein Ministeramt unter Angela Merkel noch vor der Wahl kategorisch ausgeschlossen hatte, rundete aus Sicht des Wahlbürgers das Bild einer moralisch verlotterten und prinzipienlosen SPD vollends ab. 

Was Andrea Nahles von Aristoteles lernen kann 

Die SPD hat also zuallererst ein Glaubwürdigkeits- und Vertrauensproblem und kein programmatisches. Ihre Vertrauenskrise lässt sich dabei nur über die Personalfrage lösen. Wählerinnen und Wähler vertrauen Menschen und nicht Parteitagsbeschlüssen. Das gilt in einer Demokratie der modernen Medien umso mehr. Andrea Nahles, die übrigens im Amt der Bundesarbeitsministerin regelrecht über sich hinausgewachsen ist, konnte diese Projektionsfläche für die Wiedererlangung von Vertrauen nicht abgeben.

Ein bisschen funktioniert Politik am Ende nämlich doch, wie es Aristoteles für die attische Tragödie in seiner „Poetik“ empfohlen hat: Der Sinn der Tragödie besteht demnach darin, dass sich die Zuschauer mit dem Helden auf der Bühne identifizieren und nur so aus seinen Fehlern lernen können. Die Voraussetzung der Identifikation ist eine ausreichend große Ähnlichkeit zwischen Publikum und Held. Da sich jeder Mensch aber gewöhnlich für besser hält, als er in Wahrheit ist, empfiehlt Aristoteles in der Tragödie die Nachahmung von Menschen, „die besser sind als wir“.

Pippi-Langstrumpf-Lieder und Bätschi-Auftritte

Ganz ähnlich ist es auch in der repräsentativen Demokratie. Auch sie gelingt nur, wenn sich die Repräsentierten in den Repräsentanten wiedererkennen können. Und da sich in aller Regel nicht nur Theaterzuschauer, sondern auch Wahlbürger für besser halten, als sie sind, müssen sich Politiker besonderen moralischen Anforderungen aussetzen, um als Gleiche zu gelten – und genau darin wurzelt ihre Würde und die des Staates. Wer unter diesen psychologischen Voraussetzungen immer wieder mit Pippi Langstrumpf-Liedern und Bätschi-Auftritten von sich reden macht, hat schon die Mindestvoraussetzung dafür zerstört, dass einem die Menschen zuhören. 

Sagen wir es frank und frei heraus: Die SPD steht an einer historischen Klippe. Der Versuch, sich aus dieser Zwangslage durch einen erneut emotional gesteuerten und übermotivierten Entschluss zum Austritt aus der Großen Koalition zu befreien, würde in den Abgrund führen. Er könnte jene nicht zurückholen, die der SPD wegen eines am Wahlabend gegebenen und sogleich gebrochenen Versprechens den Rücken gekehrt haben, würde aber vermutlich erhebliche Teile jener gesellschaftlichen Mitte verstören, die die SPD aus wohlverstandenem Eigeninteresse in Regierungsverantwortung sehen wollen. Dass Mitgliedschaft wie Wählerschaft der SPD sowohl ökonomisch als auch kulturell tief gespalten sind, macht die Sache nicht eben einfacher.

Erst das Land, dann die Partei

Die SPD braucht eine neue Führungspersönlichkeit: mit Charisma, Regierungs- und großer Lebenserfahrung, Durchsetzungsvermögen und Würde. Und am besten eine Persönlichkeit, die ihr Geld nicht mit Politik verdienen muss. Das hätte den Vorteil, dass sie die nun von der SPD zu gehenden, schmerzlichen Wege nicht im Interesse der persönlichen Karriere um irrlichternde Umwege erweitern müsste und stattdessen die Realität nüchtern zur Kenntnis nehmen könnte. Und sie müsste einen Ratschlag des guten alten Willy Brandt beherzigen: Erst das Land, dann die Partei. Nur so könnte diese Persönlichkeit zeigen, dass sie „besser ist als wir“ und das symbolische Würde-Kapital zurückerobern, in dem öffentliches Vertrauen wurzelt.

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