SMS-Affäre um Anne Spiegel - „Bitte noch gendern: CampingplatzbetreiberInnen“

Die SMS-Affäre um die ehemalige rheinland-pfälzische Umweltministerin Anne Spiegel, die während der verheerenden Flut im Ahrtal 2021 vor allem um ihr Image und korrektes Gendern besorgt war, zieht noch weitere Kreise: von der Verfilzung zwischen Mainzer Staatskanzlei und Südwestrundfunk bis zu möglichem Schaden für die derzeitige Bundesregierung.

Das Ahrtal Anfang dieses Monats / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Das Problem ist: Es stimmt offensichtlich jedes Wort, jedes Komma, jedes Leerzeichen aus jenen Texten, die – ausgerechnet – am Abend des Internationalen Frauentages aus den Akten des Mainzer Untersuchungsausschusses an die Öffentlichkeit gelangten. Niemand aus den betroffenen Ministerien in Mainz und Berlin, niemand aus den Reihen von Grünen und SPD hat bisher auch nur den Versuch unternommen, ihre Echtheit zu bestreiten. Folgerichtig existiert bis jetzt auch nur eine einzige Stellungnahme zugunsten der Hauptperson, der ehemaligen Klimaschutzministerin Anne Spiegel, die seit 92 Tagen das Bundesministerium für Frauen, Familie, Jugend und Senioren leitet.  

Das Statement stammt von Bernhard Braun, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag von Rheinland-Pfalz. In seiner wütenden Erwiderung vom Mittwochabend versucht er damit ausgerechnet das mit acht Monaten Verspätung nachzuholen, was die ehemalige Klimaministerin und ihr Pressesprecher Dietmar Brück damals, nach der Flutnacht Mitte Juli, unbedingt hatten verhindern wollen: Ein „Blame Game“ zu Lasten der Grünen und ihrer wichtigsten Frau in der Landesregierung, die zugleich als Stellvertreterin von Regierungschefin Malu Dreyer (SPD) fungierte, bis sie überraschend Anfang Dezember auf „Vorschlag“ der Grünen von Olaf Scholz in seine neue Bundesregierung berufen wurde.  

Anscheinend vermutet Braun die Quelle der am Dienstag an die FAZ und Focus online übermittelten Zitate nicht etwa in der Opposition, sondern in den Reihen der SPD. Es handele sich, so der altgediente Ober-Grüne, um eine „bösartige Kampagne“, die den Zweck habe, „die bisherige Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses im Landtag zu konterkarieren“. Dort sei es, so insinuiert er, für die SPD nämlich bisher gar nicht gut gelaufen. Alle bisherigen Zeugenaussagen hätten vielmehr „eindeutig“ gezeigt: „Die Warnungen lagen alle vor, auch vor Ort. Auch den für den Katastrophenschutz zuständigen Behörden, die für die Einsatzleitung verantwortlich waren.“ Braun weiter: „In die Zuständigkeiten der Katastrophenschutzbehörden kann das Umweltministerium nicht eingreifen. Es gab aufgrund der Rückmeldungen die Gewissheit, dass alle Informationen vor Ort vorliegen.“ 

Kampfansage an den Partner SPD 

Über einen verständnisvollen Kommentar zugunsten von Frau Spiegel gehen diese Sätze weit hinaus. Sie stellen vielmehr nicht weniger dar als einen Frontalangriff der Grünen auf ihren Koalitionspartner SPD. Das alleine zeigt schon, wie groß das Entsetzen in der Landesregierung und in den sie tragenden Parteien und Fraktionen über die jüngsten Erkenntnisse sein muss.  

Katastrophenschutz ist der Verantwortungsbereich von SPD-Innenminister Roger Lewentz. Die eigentliche Botschaft des Grünen lautet also: Wenn hier einer vor, während und nach der Flutkatastrophe im Ahrtal am 14. und 15. Juli 2021 gepennt hat, dann der Innenminister und nicht unsere grüne Vize-Ministerpräsidentin. Lewentz hätten alle notwendigen Informationen und Warnungen vorgelegen, behauptet Braun, sich auf eigene Anschauung als Mitglied des Untersuchungsausschusses berufend. Anne Spiegels Ministerium für Klimaschutz und Umwelt könne nichts für etwaige Fehler und Versäumnisse, weil das Management von Katastrophenabwehr und -bewältigung alleine dem Innenressort obliege, also den Sozialdemokraten, in die sie nichts hineinzureden gehabt habe.  

Blame Game, Schuldzuweisungen vom Feinsten, losgetreten von einem Politiker, dem es am Herzen liege, wie er schreibt, „dass wir in unserem Land auch zukünftig fair und mit gegenseitiger Achtung miteinander umgehen“ und „vor allem die Schwachen in unserer Gesellschaft schützen“. Ein Bekenntnis, das inzwischen nicht nur den Angehörigen und Hinterbliebenen jener zwölf Menschen mit geistiger Behinderung fragwürdig vorkommen wird, die in jener Nacht zum 15. Juli in Sinzig ertrunken sind, weil niemand sie und ihre Betreuer rechtzeitig gewarnt hatte. 

Am verheerenden Presseecho auf Spiegels eigentliche Sorgen in jenen Stunden, jene um ihr ganz persönliches Image, konnte allerdings auch dieser Versuch der Angriffsablenkung nichts mehr ändern, wofür exemplarisch Begriffe und Formulierungen wie „Kaltschnäuzigkeit“, „Schamlosigkeit“ und „heillose Ich-Bezogenheit“ stehen, sogar, mangels anderer Lösungen, von der Rhein-Zeitung ein „Gott schütze Rheinland-Pfalz“, eine Anspielung auf die – wie bald klar wurde: vergeblichen – Abgangsworte des langjährigen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel von 1988, die eine bis heute andauernde Phase der Trostlosigkeit für seine CDU einleiten sollten.  

„Bitte gendern: CampingplatzbetreiberInnen“ 

Heute früh legte die Bild-Zeitung nach mit der Darstellung, Anne Spiegel habe aus einer Sitzung vom Nachmittag des 14. Juli 2021, als das Unheil längst seinen Lauf genommen hatte, eine Pressemitteilung ihres Hauses freigegeben mit der Anmerkung „Konnte nur kurz draufschauen. Bitte noch gendern: CampingplatzbetreiberInnen. Ansonsten Freigabe.“  

Laut Bild handelte es sich dabei um jene fatale Verlautbarung von 16:43 Uhr, nach der mit einer schlimmeren Flutwelle nicht zu rechnen sei, weshalb es ihr Pressesprecher bei einigen fürsorglichen Ratschlägen beließ, wie man überschwappenden Flüsschen zu begegnen habe. Zu diesem Zeitpunkt stapelten sich in der Einsatzzentrale Koblenz aber schon die Notrufe, die ersten Menschen befanden sich bereits in akuter Lebensgefahr, aus der nur einige Minuten später mehrere bereits nur per Hubschrauber gerettet werden konnten, während andere auf dem Campingplatz Stahlhütte ertranken.  

Am Morgen danach schrieb die verantwortliche Ministerin, als auch ihr langsam das ganze Ausmaß der Katastrophe dämmerte, ihrem Pressesprecher: „Wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben.“ Die entsprechende Schlagzeile des Boulevardblattes heute auf Seite 1: „SMS der Schande – Ministerin sorgte sich während der Todesflut ums Gendern und ihren Ruf“. 

Jener Pressesprecher Brück, zwischenzeitlich sogar aufgestiegen zum stellvertretenden Regierungssprecher, ist allerdings seit eineinhalb Wochen nicht mehr zu sprechen. Gestern stand er noch mit Foto und Durchwahl auf der Website der Staatskanzlei, heute ist er, angeblich am 1. März 2022 versetzt zurück an seine alte Wirkungsstätte im Klimaschutzministerium, online nicht mehr auffindbar. Er sei krank, hieß es gestern auf Anfrage in seinem neuen alten Büro; Näheres könne man nicht sagen. 

Wann und warum Dietmar Brück seine Position als Stellvertretender Regierungssprecher verloren hat, ist zur Stunde ungewiss. Dreyers Regierungssprecherin Andrea Bähner rief zwar nach vier Stunden zurück, aber nur, um sich zu beschweren, dass Cicero eine zweite E-Mail hinterhergeschickt habe, was sie ungehörig finde. Damit wissen wir auch noch nicht, ob die Vermutung zutrifft, Ministerpräsidentin Dreyer habe bereits im Februar Kenntnis erhalten von den nun publik gewordenen Nachrichten zwischen Ministerin Spiegel und Brück und ihn deshalb umgehend aus ihrer Staatskanzlei entfernt.  

Nachvollziehbar wäre das schon deshalb, als die Dokumentation des Brückschen Schriftverkehrs ja auch zeigt, dass Klimaschutzministerin und Innenminister sich in den kritischen Stunden gegenseitig belauerten, anstatt miteinander zu sprechen. Als es darauf ankam, so ein jedenfalls nicht fernliegender Schluss, ging es auf Grund persönlicher Animositäten in Malu Dreyers Landesregierung drunter und drüber. Die Folgen sind bekannt.      

Der Filz zwischen Malu Dreyer und dem SWR 

Der Skandal um Anne Spiegels tatsächliche Sorgen in jenen für Rheinland-Pfalz schicksalhaften Stunden wirft aber auch ein Schlaglicht auf eine Verfilzung zwischen der Mainzer Staatskanzlei und dem Südwestrundfunk (SWR), die Malu Dreyer als oberste Rundfunkfrau der Bundes-SPD in jahrelanger zielstrebiger Arbeit inzwischen in ganz neue Dimensionen gehoben hat.  

Als es 2019 darum ging, für den SWR einen neuen Intendanten zu finden, setzte die Ministerpräsidentin alle Hebel in Bewegung, um ihren Favoriten Kai Gniffke auf den Chefposten zu setzen und alle anderen Interessenten rigoros schon im Vorfeld abzublocken. Die wenigen, die übrig blieben, zogen von selbst zurück, nachdem sie hatten erkennen müssen, dass die Entscheidung im Rundfunkrat schon vor der Wahl längst gefallen war.  

Gniffke hatte sich als Chef von ARD-aktuell beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg, also von Tagesschau und Tagesthemen, das Wohlwollen von Dreyer erworben, als er die von afghanischen Asylbewerbern begangenen Morde an Mädchen und jungen Frauen in Freiburg und Kandel zunächst als „regionale Ereignisse“ zunächst gar nicht in seinen Sendungen berücksichtigte und sie anschließend, als das nicht mehr möglich war, weil die Fälle international Aufsehen erregten bis hin zu New York Times und Washington Post, so klein wie möglich fuhr, was Dreyer und Spiegel, die von 2016 bis 2021 im Land als Integrationsministerin fungierte, sehr recht war.  

Gniffkes SWR-Landesstudio Mainz wiederum zeigte Jahre später in der Flutnacht eine miserable Performance, lehnte noch am Abend einen Sonderwetterbericht ab, den der TV-Meteorologe Karsten Schwanke nach eigener Darstellung in Kenntnis der noch folgenden Niederschläge angeboten hatte, und verschlief die Nacht mit einem einzigen Redakteur in Bereitschaft, in der dann so viele Menschen alleine im Sendegebiet des SWR sterben sollten – bis heute 135.  

Giffeys Sprecherin als Chefin in Mainz 

Der Intendant reagierte auf dieses systemische Versagen seines Senders, indem er Funkhausdirektorin Simone Schelberg noch vor Ablauf ihres Vertrages ablöste und durch Ulla Fiebig ersetzte. Schelberg wurde zu große Nähe zur Mainzer Staatskanzlei nachgesagt. Das ist insofern nicht ohne Ironie, als Fiebig bis 2021 Pressesprecherin und Vertraute von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey war und einen großen Teil ihrer Arbeitszeit mit der Abwehr von Rücktrittsforderungen verbrachte, mithin ihre wichtigste Mitstreiterin, was sich, wie wir heute wissen, zuletzt als vergeblich erweisen sollte, die politische Karriere von Giffey jedoch mindestens einstweilen nicht nachhaltig beeinträchtigte.  

Ulla Fiebig ist damit im Mainzer SWR-Landesstudio das perfekte Bindeglied der Connection der SPD-Landeschefinnen Dreyer und Giffey. Auch in ihrem Fall gab es – wie es inzwischen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zur Regel wurde – nur diesen einen Personalvorschlag an die Gremien. 

Zuvor hatte bereits die SWR-Journalistin Andrea Bähner gezeigt, wie Seitenwechsel im Blitztempo funktioniert: Kurz nach der Landtagswahl im März 2016, deren Berichterstattung sie noch für den SWR verantwortet hatte, wechselte sie nahtlos als Regierungssprecherin in die Staatskanzlei und wurde eine der engsten Mitarbeiterinnen der Ministerpräsidentin. Ihre Kollegin Almut Rusbüldt machte es ihr unverzüglich nach und wechselte vom SWR-Magazin „Zur Sache, Rheinland-Pfalz“ als Leiterin des Ministerbüros zu Vize-Ministerpräsident Volker Wissing (FDP). 

Schließlich Spiegels Ex-Sprecher Dietmar Brück, dem hier von den Damen die Rolle des Sündenbocks zugesprochen zu werden scheint. Er stammt ebenfalls aus dem Landesjournalismus, war er doch bis Ende 2017 bei der Rhein-Zeitung zuständig für landespolitische Themen.  

In Rheinland-Pfalz gibt es offensichtlich schon lange keine Brandmauer mehr zwischen Politik und Medien. Kritische Distanz ist angesichts einer von Malu Dreyer mit besonderer Energie vorangetriebenen planmäßigen Entgrenzung schwerer herzustellen und zu wahren als jemals zuvor. Wer sich also wundern sollte über die bislang außerordentlich sparsame Berichterstattung des SWR über die Führungsqualitäten von Frau Spiegel, von Herrn Lewentz, schließlich jene der Letztverantwortlichen Dreyer selbst, könnte unter Umständen hier einen Erklärungsansatz nicht nur suchen, sondern auch finden. 

Bloß nicht am Kartenhaus wackeln 

Schließlich die inzwischen tausendfach in sozialen und klassischen Medien aufgeworfene Frage nach persönlichen Konsequenzen, speziell solchen der Anne Spiegel. Sie hat insofern Glück, als sie sich in der Bundesregierung innerhalb einer ohnehin wackeligen Konstruktion namens Kabinett befindet mit dem Bundeskanzler an prominentester Stelle. Olaf Scholz kann jederzeit sein Verhalten als Erster Bürgermeister von Hamburg in der Cum-Ex-Warburg-47-Millionen-Affäre um die Ohren fliegen.  

Die Auslieferung des Steueranwalts Hanno Berger, einer mutmaßlichen Schlüsselfigur, aus der Schweiz an die deutsche Justiz mit bereits terminierten Prozessen in Bonn und Wiesbaden birgt mit jeder bevorstehenden Aussage neue Gefahren für den Bundeskanzler. Nancy Faeser (Inneres) und Christine Lambrecht (Verteidigung) haben ihre Nichteignung nach klassischen Kriterien ebenfalls bereits hinreichend bewiesen. Anne Spiegel nun hat dem Ansehen der Bundesregierung durch diesen nun vorliegenden Einblick in ihre charakterliche Verfassung auch noch in moralischer Hinsicht einen schweren Schlag versetzt. Und nebenan in Schloss Bellevue kam der Bundespräsident auf die unsägliche Idee, eine RAF-Terroristin und vierfache Mörderin postum als große Frau zu würdigen.  

Spiegel-Affäre: Bundespartei sprachlos 

Daraus folgt: Wer an diesem Kartenhaus jetzt auch noch vorsätzlich wackelt, indem er die grüne Familienministerin vor die Tür setzt, wie es gestern bereits unverzüglich nach Anhörung ungeachtet ihrer genialen Erfindung von „Bonus-Vater“ und „Bonus-Mutter“ hätte geschehen müssen, bringt womöglich im Nu die gesamte rot-grün-gelbe Koalition nicht einmal hundert Tage nach ihrem Start zum Einsturz.  

Allerdings fällt auch auf: Von den Bundes-Grünen kam bisher keine Silbe zur Spiegel-Affäre Ausgabe 2022. Sie sind ähnlich sprachlos wie die Tageszeitung taz und weitere links-grüne Medien, wissen aber nicht, wie sie es ausdrücken sollen. Ihre Familienministerin hat ihre Partei an ihrer stolzesten und zugleich empfindlichsten Stelle getroffen: Der einwandfreien, vorbildlichen Haltung. Wenn diese Frau trotzdem im Amt bleiben darf, darf ab sofort jeder Minister, jede Ministerin im Amt bleiben, egal, was passiert, egal, was er oder sie angerichtet hat. Die politische Klasse wird schon deshalb den weiteren Fortgang mit großem Interesse beobachten und für sich selbst die entsprechenden Schlüsse ziehen. 

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