Selbstbestimmtes Sterben - In den Mühlen des paternalistischen Hilfesystems

Entgegen einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Selbstbestimmung betonte, möchte ein fraktionsübergreifender Gesetzentwurf Suizidhilfe auch weiterhin unter Strafe stellen beziehungsweise nur unter sehr strengen Bedingungen erlauben. So soll jemand, der sich zur Selbsttötung entschließt, mehrere psychiatrische Untersuchungen über sich ergehen lassen. Das wäre ein weiterer Übergriff der ärztlichen Profession auf das Leben des Einzelnen.

Krankenschwester hält die Hand eines Todkranken in einem Hospiz / dpa
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Autoreninfo

Gerhard Strate ist seit bald 40 Jahren als Rechtsanwalt tätig und gilt als einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Er vertrat unter anderem Monika Böttcher, resp. Monika Weimar und Gustel Mollath vor Gericht. Er publiziert in juristischen Fachmedien und ist seit 2007 Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement wurde er 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Rostock mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Foto: picture alliance

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„Die Straflosigkeit der Selbsttötung und der Hilfe dazu steht als Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Anerkennung individueller Selbstbestimmung nicht zur freien Disposition des Gesetzgebers. Der Verfassungsordnung des Grundgesetzes liegt ein Menschenbild zugrunde, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. Dieses Menschenbild hat Ausgangspunkt jedes regulatorischen Ansatzes zu sein.“

Diese Feststellung aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26. Februar 2020 lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sie bezieht sich auf den am 3. Dezember 2015 erlassenen Paragrafen 217 Strafgesetzbuch, der die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe stellte. Zwar hatte das Gericht anerkannt, dass das Gesetz „legitimen Gemeinwohlzwecken“ diene, das Verbot aber „bei nicht abschließend zu beurteilender Erforderlichkeit“ jedenfalls nicht angemessen sei. Damit erklärte das BVerfG § 217 für nichtig. Es stellte klar: „Das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ Den Gesetzgeber ermahnten die Richter zu einer „strikte[n] Beschränkung staatlicher Intervention auf den Schutz der Selbstbestimmung, der durch Elemente der medizinischen und pharmakologischen Qualitätssicherung und des Missbrauchsschutzes ergänzt werden kann.“

Am Ende seines Lebens soll das Individuum im Mittelpunkt stehen, frei von Ideologie, Bevormundung und Zwang. Denn: „Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht.“ – Damit wird dieses Urteil wohl als eine der letzten Flammen aufklärerischen Geistes in die Geschichte eingehen. Denn das aggressive Gutmenschentum der Postmoderne schickt sich bereits an, den Todkranken noch ein allerletztes Mal durch die Mühle seines paternalistischen Hilfssystems zu drehen, der er durch seine Entscheidung doch gerade zu entkommen versucht. Diesen Eindruck muss gewinnen, wer sich den fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf vom 7. März 2022 näher ansieht, der von Dr. Lars Castellucci, Ansgar Heveling und 83 weiteren Bundestagsabgeordneten eingebracht wurde.    

Der sterbende Mensch als Objekt ärztlicher Begutachtung

Der erste Absatz des neu entworfenen § 217 StGB möchte die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung weiterhin unter Strafe stellen. Damit gemeint ist jede mit Wiederholungsabsicht angebotene Leistung der Suizidhilfe, auch dann, wenn sie ohne Gewinnerzielungsabsicht erfolgt. Ein hinzugefügter zweiter Absatz erkennt die „Förderungshandlung im Sinne des Absatzes 1“ jedoch als „nicht rechtswidrig“, wenn eine Reihe von Bedingungen eingehalten wird. Damit versucht der Gesetzgeber, dem vom BVerfG erkannten „Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte“ Rechnung zu tragen. Hierzu heißt es im Urteil: „Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen.“

Die im Gesetzentwurf aufgeführten Bedingungen jedoch genügen in keiner Hinsicht den Anforderungen an eine autonome Entscheidungsfindung. Denn eine Rechtfertigung der Beihilfe wird erst dann bejaht, wenn der Suizidwillige sich der Untersuchung – nicht etwa einer schlichten Befragung – durch Fachärzte der Psychiatrie stellt, wobei deren „Untersuchung“ sich der Frage widmet, ob eine die autonome Entscheidung beeinträchtigende psychische Krankheit vorliegt. Und – doppelt hält besser – diese Untersuchung wird frühestens nach drei Monaten wiederholt. Wenigstens so lange ist der Sterbewunsch des Suizidwilligen erst einmal ausgesetzt. Bereits diese Vorgabe erfüllt mitnichten den hohen Geist des Verfassungsgerichtsurteils, denn der Mensch in seiner allerletzten Lebensphase wird so zum reinen Objekt ärztlicher Begutachtung herabgewürdigt. Die obligatorische Einschaltung von Psychiatern macht den Bock zum Gärtner. Der Philosoph – im Nebenberuf Psychiater – Karl Jaspers machte sich dereinst lustig über seine Kollegen, die als Psychiater dazu neigen, „jeden Selbstmörder für geisteskrank zu erklären. Dann hört die Frage nach Motiven auf, das Selbstmordproblem liegt als erledigt außerhalb der gesunden Welt.“

 

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Wer von Berufs wegen mit Psychiatern zu tun hat, weiß um die Maßstäbe dieser Disziplin. Sie sind jedenfalls denkbar ungeeignet zur Herstellung von Messwerkzeugen. Sie bestehen aus einer sprachlichen Gummimasse, sind über alle Maßen dehnfähig, in alle Richtungen biegbar und bis zur Absurdität amorph. Von ihnen eine Entscheidung dieser Tragweite abhängig machen zu wollen, stellt das Recht auf selbstbestimmtes Sterben dem schlichten Zufall anheim. Und die psychiatrische Zumutung ist längst noch nicht das Ende der geplanten schikanösen Prozedur: In Absatz 2 Satz 3 verlangt der Gesetzentwurf, dass „mindestens ein individuell angepasstes, umfassendes und ergebnisoffenes Beratungsgespräch nach Maßgabe des untersuchenden Facharztes oder der untersuchenden Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie gemäß Nummer 2 mit einem multiprofessionellen und interdisziplinären Ansatz bei einem weiteren Arzt oder einer weiteren Ärztin, einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin, einer psychosozialen Beratungsstelle, einer Suchtberatung oder einer Schuldenberatung stattgefunden hat, welches mindestens die folgenden Punkte umfasst […]“

Es lohnt sich, diesen durchgegenderten Bandwurmsatz aus dem linguistischen Schattenreich vorgeblicher Geschlechtergerechtigkeit mehrfach zu lesen. Eine Möglichkeit ist, sich die praktische Umsetzung dieser medizinisch-bürokratischen Zumutung angesichts des nahenden Todes vorzustellen. Den direkten Zugang zum Verständnis dieser Absurdität bietet jedoch die Sprache selbst: Von welcher Geisteshaltung ist wohl getrieben, der Derartiges zu formulieren versteht?

Bürokratisch und infantil – das beste Deutschland aller Zeiten

Dass der Drang starker Kräfte im medizinischen Sektor groß ist, sich der Entscheidungsgewalt über das Individuum zu bemächtigen, hat bereits der Umgang mit dem Coronavirus gezeigt. Und so ist es nur folgerichtig, dass Angehörige anderer Professionen möglichst weit außen vor bleiben sollen, wenn es um fundamentale Fragen des Lebens und Sterbens geht. So ist die naheliegende Möglichkeit, den definitiven Sterbewunsch einfach mit einem Notar auf Augenhöhe zu besprechen und anschließend zu beurkunden, noch nicht einmal im Gespräch. Unter diesen Umständen sollte eine Neuregelung des für nichtig erklärten § 217 StGB komplett unterbleiben: Für ein pseudohumanes Gesetz, das lediglich als Abrechnungsgrundlage für Bürokraten, Hochstapler und Besserwisser dienen könnte, ist das Thema viel zu ernst.

Dass der Umgang Deutschlands mit ernsten, weil existenzberührenden Fragen gleichermaßen bürokratischer wie infantiler wird, ist im Übrigen auf allen Ebenen zu konstatieren: Der Atomstrom kommt aus Frankreich, denn Windräder zieren das gute Gewissen ungleich mehr. Kleine Einkäufe werden dekorativ mit dem Lastenfahrrad erledigt, während größere Lieferungen vom Paketdienst gebracht werden, dessen unterbezahlter Fahrer anschließend aus Umweltgründen beschimpft werden darf. Und damit das deutsche Bullerbü kein Traum bleiben muss, wird der Schutz der deutschen Grenzen von Ländern wie Ungarn erledigt, gegen die eventuelle hässliche Bilder anschließend auch noch als Druckmittel dienen können. Fürs selbstbestimmte Sterben gibt es schlussendlich die Schweiz. Daran wird sich mit dem geplanten Gesetz auch weiterhin nichts ändern. Denn Deutschland ist ein gutes Land. Das beste Deutschland, das es jemals gab. Ein Deutschland, an das gottseidank niemand in der Nacht denkt.

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