Saskia Esken - Zwischen Kollateralschaden und Ziel

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat sich seit ihrem Amtsantritt 2019 lernfähig gezeigt. Doch ihre Impulsivität könnte Olaf Scholz im Wahlkampf noch gefährlich werden.

Saskia Esken weiß mittlerweile, wann man in der Politik den Mund halten muss / Janine Schmitz
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Annette Rollmann ist freie Journalistin. Sie arbeitete zuvor bei der FAZ und für „Studio Friedman“.

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Kurz nach der Wahl zur SPD-Parteivorsitzenden sitzt Saskia Esken im Dezember 2019 mit regierungserfahrenen Parteifreunden zusammen. Die sollen sie auf das erste Treffen mit der Bundeskanzlerin im Koalitionsausschuss vorbereiten: Wie tickt Angela Merkel, was könnte die SPD ihr abverhandeln, mit welcher Strategie soll der kleinere Partner in das Treffen gehen? Doch Esken schaut kaum auf, tippt ständig auf dem Smartphone herum. Noch Tage später zeigen sich Teilnehmer des Treffens entsetzt über diese Respektlosigkeit. Esken schien alle Befürchtungen zu bestätigen: eine Spitzenpolitikerin ohne Erfahrung, eine Linke, die sich nur mühselig in den Mainstream der Partei einbinden lässt, die ihre Energie lieber in provokative Twitterei investiert.

Esken, aus der Parlamentarischen Linken kommend und seit 2013 im Bundestag, polarisierte, stellte den Fortbestand der Großen Koalition infrage. Auch deshalb setzte sie sich mit Norbert Walter-­Borjans gegen das Team aus Klara Geywitz und Olaf Scholz durch. Scholz, der verlässliche Parteisoldat und Groko-­Befürworter, stand beschädigt auf der Bühne. Esken, die kühle, sperrige Hinterbänklerin, reckte die Daumen hoch.
Die Überzeugungstäterin sollte die SPD in eine neue Ära führen, das soziale Gewissen der Partei erneuern. Kühl, fleißig, unnachgiebig, auch unberechenbar.

Entwicklungsfähig

Doch das Verlassen der Groko war kurz nach der Wahl zum Parteivorsitz kein Thema mehr, der Erhalt der Macht umso mehr. Auch eineinhalb Jahre später muss die Partei noch die Spannung zwischen der traditionellen SPD mit Kanzlerkandidat Scholz und der Esken-SPD mit ihren Umverteilungsideen und radikalen Identitätsdebatten aushalten. Beseitigt sind die Gegensätze zwischen den Polen nur vorläufig, immer wieder brechen sie auf. 

In den ersten Monaten dieses Jahres tritt die Sozialdemokratin eher jovial auf. Noch Anfang April heißt es aus der Regierungs-SPD, Esken habe dazugelernt, sei überraschend verlässlich. Vor allem habe sie verstanden, wann man in der Politik den Mund halten müsse. Ein Lob. Zögerlich zwar, aber immerhin ein Lob. 

Über Monate agiert Esken, von Ausrutschern abgesehen, nicht wie ein wandelndes Pulverfass. Nach den ersten Landtagswahlen des Jahres lotet sie auf der Bundesebene Machtoptionen für eine Ampel mit FDP und Grünen aus. Bei einer Diskussion Ende März knüpft sie zarte Bande zum FDP-Sozialexperten Johannes Vogel. „Solange die Parteien die Menschen gesamtgesellschaftlich in ihren Lösungsansätzen mitnehmen, so lange ist Radikalität kein Widerspruch zur Koalitionsfähigkeit“, sagt sie. Das klingt nach politischem Frieden, nach Chance auf Gemeinsames. 

Koalitionsdebatten

Doch dann passiert etwas, das mit ihrer politischen Prägung zu tun haben muss: Hatte sich ein Gefühl des Unbehagens, die Frage nach dem möglichen Verrat an den eigenen Ansprüchen in den politischen Raum geschoben? Öffentlich formuliert diesen Widerwillen die ehemalige hessische SPD-Landesvorsitzende und Linke Andrea Ypsilanti auf Twitter: „Wer hat eigentlich das Go gegeben, dass in der SPD in zukünftigen Bündnissen nur noch über die Ampel gesprochen wird. Das ist doch nicht die Mehrheitsmeinung in der SPD. Warum pushen wir die FDP?“ 

Esken platzt nach Ostern in das vorsichtige Sondierungsgeschehen für die Zeit nach der Bundestagswahl. Der Rheinischen Post sagt sie: „Die Kombination aus SPD, Grünen und Linken steht für eine sehr progressive Politik, mehr noch als die Ampel. Niemand muss Angst vor Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Rot haben.“ Wirklich nicht? Eine Partei wie die Linke, die mit Janine Wissler gerade eine Vorsitzende gewählt hat, die bis zum Herbst Mitglied des vom Verfassungsschutz beobachteten Zusammenschlusses Marx21 war, eine Partei, die die Nato auflösen will und Auslandseinsätze strikt ablehnt?

Harter linker Kern

Im Realo-Lager der Sozialdemokraten: helles Entsetzen und lautes Schweigen. Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Michael Theurer, der Esken noch aus dem Schwarzwald kennt, sagt: Dass Frau Esken die Zusammenarbeit mit dieser Partei anstrebe, sei „brandgefährlich für Deutschland, es droht ein sozialistisches Verarmungsprogramm“. Jürgen Großmann, Bürgermeister von Nagold und CDU-Fraktions­chef im Landkreis Calw, wundert sich nicht: „Sie ist fleißig. Ihre linken Überzeugungen wird sie jedoch allenfalls kurze Zeit unter den Altar der Macht stellen, aber niemals aufgeben.“ Er kennt Esken aus dem Kreistag, in dem sie bis 2020 saß.

Esken wächst in einer Kleinstadt am Rand des Nordschwarzwalds auf. Früh engagiert sie sich politisch. Mitte der siebziger Jahre gründet sie mit einer Gruppe in Weil der Stadt ein selbst verwaltetes Jugendhaus. Zur Gruppe gehört auch der ehemalige Parteichef der Linken, Bernd Riexinger. Riexinger, sechs Jahre älter als Esken, erklärt ihr die marx­sche Mehrwerttheorie. Esken singt zur Klampfe „Bella Ciao“ mit den anderen Linken. An der Wand hängt ein Poster: „Solidarität ist unsere Kraft.“

Weil der Stadt, so Riexinger, ist damals fest in CDU-Hand. Die linken Aktivisten stellen an Silvester Lautsprecher ans Fenster und beschallen den Ort mit der Internationalen. Provokation, frech und unbekannt. 
Riexinger erinnert sich an Esken als eine unerschrockene Frau: „Sie hatte ein hohes Maß an Selbstbewusstsein.“ Anders als in vielen anderen linken Jugendhäusern verbringen hier nicht nur Gymnasiasten, sondern auch Azubis ihre Zeit, politisieren sich, jenseits der Herrenhäuser. Basis für Basis. Eine der Grundierungen der späteren SPD-Vorsitzenden. 

Musizierende Studienabbrecherin

Auch Esken selbst ist keine Akademikerin. Ihr Germanistik- und Politikstudium bricht sie ab. In dieser Lebensphase tingelt sie als Straßenmusikerin mit Songs von Joan Baez und Neil Young durch Süddeutschland. „Ich weiß noch, dass ich mein Gesicht ganz weiß geschminkt hatte. Das war eine Art Schutz“, sagt sie später. Und dass es eine ziemliche Überwindung gewesen sei, „sich allein vor ein fremdes Publikum zu stellen“.

Es war nur die erste von weiteren Mutproben: „Ich habe mich einer fremden und herausfordernden Situation gestellt. So ähnlich war es ja auch später mit meiner Bewerbung um den SPD-Vorsitz. Ich habe mich oft in meinem Leben neu erfunden.“
Die Schwarzwälderin hatte mehrere Jobs als „Ungelernte“, wie sie gerne herausstellt: Paketbotin, Fahrerin und schließlich Schreibkraft an der Uni, wo sie erstmals mit einer einfachen Programmiersprache konfrontiert wird. Nach ihrer Ausbildung zur Informatikerin entwickelt sie Software – in einer Zeit, in der es noch kein Internet gibt. 

Viel Ahnung von Digitalisierung

Michael Theurer kennt Esken aus seiner Zeit als Bürgermeister von Horb am Neckar, wo er ein Bündnis gegen rechts gründet. Esken gründet ein solches Bündnis in ihrem Heimatort Calw, wo die NPD 2007 ihre Landesgeschäftsstelle einrichten will. Theurer und Esken arbeiten zusammen, wenn es um die Sache geht. Heute sagt er: „Esken ist eine gute Digitalpolitikerin. Stark in MINT-Fächern.“ 

Esken kann nicht nur Digitalpolitik, die Mutter von drei heute erwachsenen Söhnen versteht auch etwas von Schulpolitik. Für ihre langjährige Tätigkeit als stellvertretende Vorsitzende im Landeselternbeirat Baden-Württemberg wird sie lange belächelt. Aber dann kommt Corona, und Esken verdient sich den Respekt der Kanzlerin mit ihrem Engagement für mehr Unterstützung der Länder bei der Digitalisierung der Schulen. 

Zu Hause im Schwarzwald

Eskens mittlerweile verstorbene Eltern waren ebenfalls aktive Sozialdemokraten. Ihren dementen Vater unterstützt Esken fast täglich beim Frühstück im Heim, kümmert sich lange um ihre Mutter, fährt aus Berlin nach Hause, „damit da nichts abreißt“, erzählt Viviana Weschenmoser, die heute die Vorsitzende des SPD-Kreisverbands Freudenstadt ist, und die 2017 Eskens Wahlkampf geleitet hat.

Schon 2017 sei „Saskia“ mit einem E-Auto im Nordschwarzwald, wo es damals kaum Ladestationen gibt, von Termin zu Termin gefahren. Trotz Vorbereitung bleibt die Gefahr, liegen zu bleiben. „Aber so ist die Saskia, wenn sie von etwas überzeugt ist. Sie ist ihren Prinzipien treu, auch wenn es mühselig ist.“ 

Mit Provokations-Präferenz

Die Sozialdemokratin kann unbarmherzig, ideologisch sein. Immer wieder teilt sie aus. Im November 2019 stellt sie in Abrede, dass Scholz ein standhafter Sozialdemokrat sei. Vor ihrem jüngsten Geburtstag schreibt sie auf Twitter: „58 und Antifa. Selbstverständlich.“ Nach einer gewalttätigen Linken-Demo in Leipzig stellt sie die Frage, ob die Polizeitaktik angemessen gewesen sei. Und im März dieses Jahres bringt sie einen großen Teil altgedienter Genossen in der Causa Thierse gegen sich auf. Esken und Parteivize Kühnert zeigen sich in einem Schreiben „beschämt“ über SPD-Vertreter, die ein „rückwärtsgewandtes Bild der SPD“ zeichneten. 

All das passiert im März, als Scholz mit einem Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts den Wahlkampf einläutet. Bürgermeister Großmann wundert sich gar nicht: „Sie ist eine Schwertgosch. Eine, die was raushaut.“ Da halte sich oft kaum die Waage zwischen Kollateralschaden und Ziel.

Das SPD-Wahlprogramm, das mit Klimaschutz, einem souveränen Europa, mehr Digitalisierung und einem besseren Gesundheitssystem in großen Teilen auf Scholz zugeschnitten ist, hat die SPD-Spitze für den Wahlkampf vereint. 
In der Pandemie aber ist weder Esken noch Walter-Borjans die bestimmende Kraft neben Scholz. Die harten Attacken auf die Union fährt Manuela Schwesig. Die 46-jährige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern verlangt Sonderregeln für ihr Land, treibt die SPD dazu, Gesundheitsminister Jens Spahn mit einem Fragenkatalog zur Impfstoffversorgung öffentlich das Misstrauen auszusprechen. Geht die Wahl im September schief, und darauf deuten die Umfragen hin, hat Schwesig beste Chancen, Parteivorsitzende zu werden, neben dem linken Strategen Kühnert oder auch dem Realpolitiker Lars Klingbeil.
Vielleicht liegt Eskens Schwäche auch daran, dass sie sich Diskussionen nicht stellen will, denen sich eine Parteivorsitzende stellen muss. Für Cicero war sie zu keinem Gespräch bereit, trotz Nachfrage.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

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